Sofia, ein Reisebericht


Die Sicht auf eine postsozialistische, neoliberale EU-Hauptstadt

Der Reisebericht von Renate, die wie Hans am Treffen des Transnational Social Strike teilgenommen hat, beleuchtet eine andere Facette der bulgarischen Wirklichkeit. Sie sieht die Hauptstadt Bulgariens mit den Augen einer Person, deren Politik- und Geschichtsunterricht immer noch einen blinden Fleck aufweist.

Vorgeschichte

Aus der Begleitung der EZLN-Delegation im Oktober 2021 entsteht eine Gruppe von Genoss*innen in Hamburg, die sich alle 4-6 Wochen zum unverbindlichen Austausch treffen. Wir wollen einen anderen, neuen Internationalismus. Wie der aussehen kann, ist uns unklar. Nur eines wissen wir: Die »alte« Solidaritätsarbeit, deren Verdienste nicht zu hoch geschätzt werden können, reicht uns nicht, ist nicht mehr zeitgemäß. Im Frühjahr 2022 entsteht - auch - durch den Ukrainekrieg und die unübersichtlichen Diskussionsstränge innerhalb der iL die Idee, sich mit Osteuropa zu befassen. Zeitgleich landet bei uns eine Einladung zum Treffen von Transnational Social Strike (TSS) in Sofia vom 8.-11. September 2022. Da wir in den vergangenen Monaten immer deutlicher unser Unwissen, unsere blinden Flecken bezüglich Osteuropa, die Entwicklung der postsowjetischen und mit der Sowjetunion verbundenener Staaten und deren Geschichte bemerken, entschließen wir uns, aus Hamburg eine kleine »Delegation« zum Treffen zu schicken.

In dieser Reisereportage beschreibe ich persönliche Eindrücke: was mir auffällt beim Gehen durch die Stadt, die Kuriositäten (oder was ich als solche empfinde). Ich verstehe den Reisebericht als Ergänzung für politische Berichte aus den Workshops und Arbeitsgruppen, von Gesprächen und Vernetzungen mit Genoss*innen. Ich hoffe, dass sich daraus Verbindungen entwickeln, die solidarische, internationalistische Früchte tragen und im Idealfall eine Verbindung der Kämpfe hier und bei ihnen herstellt.

Die Reise

Aus der Hamburger Ortsgruppe sind wir zu siebt, Genoss*innen aus Klassenpolitik, KoGre, AntiraAG, InternationalismusAG. Wir kommen nicht gleichzeitig in Sofia an und haben ein Appartement in der Innenstadt angemietet. Bis auf eine Person sind wir alle zum ersten Mal in Bulgarien. Am Flughafen angekommen fällt mir auf, dass es hinter der Passkontrolle einen After Flight Duty Free Shop gibt, der bei unserer Ankunft um 22:45 h noch geöffnet ist. Mein erster Gedanke ist, dass Bulgarien ausgezeichnet gelernt hat, wie Kapitalismus funktioniert..

Am Gepäckband informieren wir uns über Taxipreise. Das Internet sagt uns, dass eine Taxifahrt vom Flughafen in die Innenstadt 20 Lewa kosten soll. Wir fragen den Taxifahrer, der bei uns hält, wie teuer eine Fahrt sei. Als er »25 Euro oder 50 Lewa« sagt, sind wir verunsichert. Wir vermuten schon einen Taxifahrer, der die Umverteilung von oben nach unten individuell regeln will und fragen ihn. Auf unsere Frage reagiert er sehr gelassen und sagt, dass das Benzin wegen des Krieges so teuer geworden sei. Verstanden. Nach circa 20 Minuten Fahrt kommen wir im Appartement an. Dort erwarten uns die Genoss*innen mit Bier, Brot, Käse und Süßem. Das Appartement ist geräumig für uns sieben, die Räume sind verteilt. Wir sitzen noch zusammen und politisieren, was mit einem Bier in der Hand immer noch etwas besser geht als während des Plenums - und es ist lustiger.

Donnerstag, der 8. September 22

Am nächsten Morgen erstmal einkaufen. Auf dem Weg zum dm begegnet uns eine Niederlassung der Allianz-Versicherung. Ich dachte nur die Deutschen müssen Tod und Teufel versichern? Und offenbar hofft die Allianz hier auf einen guten Markt. Es geht an einigen kleinen Läden vorbei, die aber erst später öffnen. Mit dem dm geht es mir genauso wie bei der Allianz. Einerseits einfach und für uns angenehm bekommen wir hier vegane Aufstriche wie zuhause, andererseits frage ich mich, wozu sie einen dm brauchen? Als wenn in Bulgarien nicht selbst Kosmetika und Hygieneartikel hergestellt werden könnten. Die Preise im dm entsprechen unseren - sind also exorbitant hoch für Bulgar*innen. Und in der Mitte des dm ist eine Security stationiert, die die Einkaufenden überwachen - bei den Preisen kein Wunder.

Mir fällt auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein »Migration Office« auf - was das wohl ist? Von einer Genossin von LevFem erfahre ich später, dass es ein staatliches Büro ist, das Pässe ausstellt. Die Pässe gehen vornehmlich an die Personen, die ins Ausland gezwungen werden, weil in Bulgarien keine gut bezahlten Jobs zu bekommen sind. Auf dem Rückweg zum Appartement machen einen Abstecher auf den sogenannten Women's Market. Er wurde im 19. Jahrhunderts eingerichtet, weil dort Frauen ihre Stände aufbauen und ihre Waren verkaufen durften, unabhängig von ihren Männern. Und es war der einzige Markt überhaupt, auf dem sie einkaufen durften - so jedenfalls erzählt es am Nachmittag unser LevFem-Stadtführer. Ein hübscher Markt, den wir aber nur kurz besuchen, weil die Genoss*innen mit dem und aufs Frühstück warten. Ein Kilo Flaschentomaten - sehr aromatisch, wie wir später schmecken, kosten hier umgerechnet € 0,75.

Nach dem Frühstück diskutieren wir über die iL und den Ukrainekrieg, die Krankenhausbewegung und überlegen, was wir zum »Heißen Herbst« sagen wollen. Nach der Diskussion wollten wir uns aufteilen, einige von uns wollten in das Museum der sowjetischen Kunst, andere wollten durch die Stadt schlendern und die Atmosphäre aufnehmen. Da gibt es eine Planänderung: Die Organisator*innen bieten einen Stadtrundgang an, bei dem wir die historisch bedeutsamen Orte der linken Bewegung kennenlernen können. Wir entscheiden uns, zusammen zum Treffpunkt zu gehen, und das funktioniert dank Maps ganz gut. Die erste Station befindet sich gegenüber vom Eingang eines Parks und ist eine große Wohnanlage mit Hochhäusern in einem Karree und einer großen Grünfläche inkl. Spielplatz in der Mitte. Die Gebäude wurden nach dem 2. Weltkrieg gebaut, als es im Zuge der siegreichen Sowjetunion auch sichtbare Zeichen für die Bevölkerung geben sollte, dass das Sowjetsystem dem einzelnen Menschen auch persönliche Vorteile bringt. Alle Wohnblöcke sind architektonisch miteinander verbunden, um - das ist die Idee dahinter - die Organisierung der Einwohner*innen zu unterstützen. Im Erdgeschoss der Gebäude wohnen Arbeiter*innen, darüber verdiente Parteigenoss*innen. Die Obergeschosse sind Künstler*innen und Architekt*innen vorbehalten, die die Architektur und die Wohnanlagen weiterentwickeln (sollen). Die Idee dahinter ist, Verbindungen herzustellen - ich erinnere mich an den Slogan der Aufhebung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit - ob das hier wohl funktioniert hat? In direkter Nachbar*innenschaft zu den hohen Hochhausblöcken gibt es einen Flachbau mit zwei Stockwerken, in dem alt gewordene Menschen aus den Hochhausblöcken wohnen sollen: Weiterhin in der Nähe ihrer Nachbar*innen, Kinder, Familie. Heute gibt es in den Untergeschossen kleine Geschäfte, Werkstätten, die Treppen sind teilweise so brüchig: barrierefrei ist was Anderes.

Klassizimus meets sozialistischen Realismus

Was mich bei der Betrachtung der Architektur immer wieder verwundert oder auch bisweilen irritiert: das Nebeneinander von klassizistischen Prunkbauten, die mich an Naziarchitektur erinnern (und tatsächlich kämpfte das monarchistische Bulgarien an der Seite der Achsenmächte) und sozialistisch-realistischem Baustil aus Sowjettagen, nach 1944. Sie ähneln einander, auch wenn die Symbole andere sind und die Inhalte andere sein sollten. Im aktuellen Sofia findet sich neben einem Neubau eine gigantische Werbefläche für LIDL. Es mutet schon seltsam an, mitten in einem Straßenbild voller kyrillischer Buchstaben plötzlich Namen zu sehen, die ich lesen kann, inklusive dem vertrauten dazu gehörigen Logo. Was einerseits für Touristen (und für mich) gut ist, weil das Sortiment einigermaßen bekannt ist, ist andererseits unheimlich, wie schnell Expansion und der EU-Betritt Bulgariens Tor und Tür für EU-Konzerne geöffnet hat. Discounter sind das eine, Price-Waterhouse-Cooper (PWC) das andere. Die berühmt-berüchtigte Wirtschaftsprüfungsgesellschaft hat an prominenter Stelle seine Dependence gekauft, mitten in der Altstadt. Der Platz heißt Serdika und ist der Name der römischen Stadt aus dem 4. Jahrhundert, deren römische Reste zu besichtigen sind.

Eigentlich ist das ja nicht anders als in anderen europäischen Hauptstädten - aber hier, in Sofia, wo ich noch Straßenzüge sehe, die trist-graubraunen Putz haben, von außen heruntergekommen aussehen, an deren Fassade die oberste Schicht Putz abblättert, ist der Widerspruch im Nebeneinander von Tristheit und Protzbauten fast nicht auszuhalten. Ikea liegt direkt neben dem Multiplex-Kino und, versteckt und verstohlen, gibt es an einer Hauswand eine Gedenktafel für Partisanen, die am Ende der Naziherrschaft getötet worden sind. Einige Gehminuten weiter findet sich eine prunkvolle Fassade, die restauriert worden ist, mit sorgfältig ausgearbeiteten Motiven von Handwerkern (ohne Genderstern) bei der Arbeit. Sehr aufwändig gearbeitet.

...doch der Sozialismus bröckelt

Weiter geht es über ein paar Stationen zur Parteizentrale der sozialistischen Partei Bulgariens. Vor dem großen Bau steht es eine realsozialistische Skulptur, die kämpfende Arbeiter*innen darstellt. Die Kämpferin steht vorn und führt die Gruppe an. Auf der Fassade prangt an allen Fenstern des großen Baues das Logo der BSP. Inzwischen ist die ehemals sozialistische Partei Bulgariens mit dem EU-Beitritt zu einer neoliberalen Partei geworden. Laut unserem Stadtführer macht die Partei dem Markt alle erforderlichen Zugeständnisse und verkauft sie dann als sozialdemokratisch. Die bulgarische Fahne, vormals auf einem Viertel der Fassade mit Farbe angebracht, bröckelt so ab, wie wohl auch die Bedeutung der »sozialistischen« Partei Bulgariens bröckelt. Eine ungewollte Kuriosität fällt mir ins Auge: Im Erdgeschoss, das an ein Restaurant verpachtet worden ist, steht eine große, gelbe M&M-Figur wie aus der Werbung. Sie steht von meinem Blickwinkel aus winkend hinter der Kämpferin der Skulptur. Ein absurder Kontrast, der den Meisten gar nicht auffällt.

An einem der zentralen Plätze, Serdika, befinden sich Ministerien, Gerichts- und andere Regierungsgebäude, von denen eines so aussieht, als sei es aus Moskau direkt nach Sofia gebeamt worden. Nur der rote Stern auf der Spitze des Aufbaues auf dem Dach fehlt. Und auch hier steht eine Reihe von E-Scootern. Der Rundgang endet an drei Plastiken, die für die Rote Armee als Dank für die Befreiung errichtet wurden, und die heute von rechten Kräften in Sofia am liebsten geschleift würden. Die Rechten in Bulgarien nutzen dies, um Teile der Geschichte Bulgariens wegzulügen. Mir gefällt, dass sie dort noch stehen, zwar markig-realsozialistisch, was mich immer ein bisschen verstört, und gleichzeitig dient der große Platz und der angeschlossene Park als Oase in der Stadt. Es sind Rampen und kleine Pipes für BMX-Fahrer*innen aufgebaut worden, sie werden ausgiebig genutzt. Also keine aufgesetzte Andacht, sondern Besetzung von Räumen für das, was benötigt wird. Ein Blick nach rechts zeigt wieder einmal ein riesiges M von McDonalds.

Freitag, den 9. September 2022

Es ist Feigenzeit, und ich will ein paar zum Frühstück holen. Sie müssen keine Transportmaschine bis nach Mitteleuropa hinter sich bringen. Auf dem Weg zum Markt begegne ich einem alten Mann mit einer umgebauten Kinderkarre, der er einen viereckigen Transportaufbau verpasst hat. Er klettert über den kleinen Zaun um die Wiese vorm Markt und beginnt, an den niedrighängenden Zweigen des Baumes zu ziehen und zu schütteln. Ein paar Früchte fallen auf den Boden, er hebt sie auf. Es gibt auch hier Menschen, die so wenig besitzen, dass sie eben nicht auf dem Markt die für uns fast geschenkten Früchte einkaufen können, sondern sie sich vom Baum wenige Meter vom Markt entfernt holen müssen. Bettler*innen scheint es hier weniger zu geben als bei uns - oder sind sie weniger sichtbar? Werden sie kriminalisiert und weggesperrt?

Nach dem Frühstück folgt ein langer Tag mit vielen Vorträgen, wenig Diskussionen. In den Pausen finden sich kleine Diskussionsrunden zusammen, die Themen eingehender besprechen. Der Tag ist anstrengend. Wir sind beeindruckt, was eine kleine Gruppe von Aktivistinnen mit Freund*innen auf die Beine stellen kann. Am Abend wird gefeiert. Auf dem Weg zum »Swimmingpool« kommen wir an der türkischen Botschaft vorbei, die von Securityleuten bewacht wird - heute allerdings nicht mehr vom Wachhäuschen an der Ecke aus, das mich an Wachhäuschen von früher bei Botschaften im realsozialistischen Ausland erinnert. Es ist grau gestrichen und so klein, dass eine Person gerade so darin sitzen kann. Einen halben Kilometer entfernt stehen eine bulgarisch- und eine russisch-orthodoxe Kirche in enger Nachbarschaft. Wir sehen sie von der Dachterrasse aus, die zu Swimming Pool gehört, einem Projekt aus dem Jahr 2015, das uns seine Räume nach dem ersten Tag zum Reden, Ausruhen, Feiern gegen eine Spende zur Verfügung stellt. Das Non-Profit-Projekt macht sich zur Aufgabe, Kunstprojekte, Künstler*innen und politische Kunst zu entwickeln und zu unterstützen, dazu gehören auch Bildungsprojekte, die Kunst zugänglich und verständlich machen. Die Attraktion des Gebäudes ist der Swimmingpool auf dem Dach, der trockengelegt und umgestaltet einen grandiosen Blick über die Stadt bietet, hinüber zu den so nahe gelegenen Bergen, über die Kirchen- und Moscheebauten der Stadt, über immer noch realsozialistisch anmutende, renovierte Regierungsgebäude, über jede Menge Monumente aus alten und den jetzigen Zeiten. Atemberaubend.

Wir hocken zusammen: Bulgar*innen, Italiener*innen, Deutsche auf der Dachterrasse, diskutieren, lachen, streiten uns auch ein bisschen. Es ist schön, hier zu sein (und das Privileg zu haben, es sein zu können). Beim Abschied vom Swimmingpool nehme ich vom 5. Stock die Treppe nach unten. Die Art-Deco-Fenster, die Installationen im Treppenhaus und die Gedenktafeln sind leicht übersehen. Es sind überall Zeugnisse von ehemaligem Reichtum aus den 1920er Jahren und früher zu finden.

Samstag, den 10. September 2022

Weil das Fest schön war, beginnt der Samstag im Tagungshaus nicht ganz pünktlich. Ich habe mich auf den Wegen durch die Stadt doch schon sehr an viele Besonderheiten gewöhnt - wie schnell das geht. In den Nebenstraßen sind die Bürgersteige mit hübschen, reliefartigen, großen Platten belegt, die aber im Laufe der vielen Jahre gesprungen sind. Sie werden nicht ausgewechselt und sind eine Stolperfalle. Auch die Kanalisationsdeckel sind teilweise nur unzureichend ausgebessert, nachdem die Kanalisation - möglicherweise - erneuert wurde. Die Straße, durch die wir gehen, scheint zu einer der Touristenattraktionen zu gehören. Einige Häuser haben bunte, hübsche Wandmalereien, sind mit Graffiti, in poppigen Farben und mit vielfältigen Mustern bemalt.

»SW99« - ein Zeichen, das uns immer wieder in den Straßen um unsere Unterkunft herum begegnet. Wir können das Zeichen auf den ersten Blick nicht deuten, wundern uns aber über Schriftzug »Fuck Nazis« darunter, was seinerseits übermalt wird. Die Internetrecherche am Abend ergibt: Das SW99 gehört einer Hooligangruppe; martialische Tüpen mit tätowiertem »ACAB« auf den Fingern. Klarer wird es bei einem Foto eines Fanbusses mit dem griechischen Buchstaben Lambda. Ein Symbol, das Spartanern zugeordnet wird, die in der Historie Gegenspieler der Athener waren. Und das Lambda wird gern von den Identitären genutzt. Weitere Recherchen ergeben, dass diese Hooligangruppe auch schon von einer rechtsradikalen Zeitung in Deutschland interviewt wurde.

Unser letzter Abend in Sofia findet beim Mexikaner statt, den wir wie üblich über Google finden. Beinahe laufen wir an dem Restaurant vorbei, weil es nicht so wie bei uns mit Leuchtreklame in Form eines Kaktus, eines Sombreros und eines stilisierten Cocktailglases ausgestattet ist. Der Eingang ist von der Straße aus beinahe nicht auszumachen, aber wir sehen dann doch noch eine Person, die auf der recht dunklen Terrasse Getränke und Essen zu den Tischen bringt. Ein gewundener Gang führt uns in einen großen, hellen Raum im hinteren Bereich des Hauses, wo wir essen und trinken.

Ich mache mich früh in unsere Unterkunft auf, die anderen gehen noch in die Bar, die von unseren Organisator*innen für den Abend vorgeschlagen worden ist. Morgen ist mein Rückflug. So kann ich den Reisebericht zu Ende schreiben. Ich nehme einen anderen Weg nach Hause als am Abend zuvor und finde mich mit maps gut zurecht. Es sind am Samstagabend viele kleinere und größere Gruppen unterwegs. Ich sehe auch einige einzelne Frauen, teils noch in Arbeitskleidung und mit Reinigungsutensilien, spätabends, oft in Seitenstraßen. Sofia ist für Frauen wohl ein relativ sicheres Pflaster, auch nach 23 Uhr. Die Altstadt mit vielen Bars, Kneipen, Restaurants und ein kleines Stück weiter mit Nobelgeschäften ist hell erleuchtet. Unerwartet sind mitten in der Altstadt zwei große vier- bzw. sechsspurige Durchgangsstraßen von der Polizei für den Verkehr gesperrt - es gibt ein Straßenkonzert mit Lightshow.

Sonntag, den 11. September 2022

Unerwartet: Beim Schreiben des Datums kommt mir nine-eleven in den Kopf, vor 21 Jahren ... Vorgestern Abend schon kamen die ersten Meldungen, dass es der Queen nicht gut gehe. Auch Gesprächsthema in der Gruppe. Social Media werden von dem Thema beherrscht, und die meisten von uns machen sich nicht frei davon. Mir ist das fremd. Lebensleistung ja, aber »tolle Frau«, das geht für mich dann doch zu weit. Mit Gepäck ein letztes Mal zum Architektenverband, dem Tagungsort. Wir erleben den Abschlusstag nur teilweise, die einen, weil sie spät zurückgekommen sind und die anderen, weil es ohnehin nur noch knapp zwei Stunden sind, bevor der Flieger geht. So sitzen wir in kleiner Besetzung beim Abschlussplenum. Zuerst Organisatorisches, dann werden Statements und Zusammenfassungen von den Arbeitsgruppen des vergangenen Tages vorgetragen. Mühsam, die Statements hintereinander weg anzuhören. Da, wie ich vermute, wohl in allen Workshops wenig Diskussionen stattgefunden haben, ist der Applaus eher höflich als begeistert. Vor der Mittagspause nehmen wir die Metro direkt zum Flughafen. Das Ticket von der Innenstadt zum Flughafen kostet umgerechnet 80 Cent - für 23 Minuten Fahrzeit. Auf dem Weg zum Gate sagt mein Begleiter, dass er sich Sofia viel heruntergekommener und ärmer vorgestellt hat. Ich fand es relativ normal und ausgewogen »runtergerock«: die Touristenareale schick gemacht, die Neben- und Seitenstraßen außen eher trist, innen aber durchaus sehenswert und hübsch gemacht. Und dann über Frankfurt nach Hamburg zurück. In den nächsten zwei Wochen wird politisch ausgewertet, was wir mit dem Gehörten und Erlebten anfangen, wie wir weitermachen.

Als Abrundung des Besuches in Sofia treffen wir Mariya von LevFem schon am Mittwoch in Hamburg. Sie ist Arbeitsmigrantin (Migration Office) und in Glasgow an der Uni angestellt. Im Rahmen Ihrer Arbeit hat sie eine Tagung in Hamburg und hatte Lust, uns nochmal zu sehen und in Ruhe und ausführlich zu reden. Mit ihr kauen wir die Tagung, die Gruppen, innere und äußere Widersprüche durch. Das Treffen mit ihr hilft uns, manches besser zu verstehen. Eine gute Reise, neu-alte Kontakte, mögliche Perspektiven - wir werden sehen, was aus dem ersten Treffen nach Beginn der Pandemie wird.

Autorin: Renate von der Ortsgruppe Hamburg, aktiv in den Feldern Antirassismus und Internationalismus.

Bild: Von privat, aufgenommen beim Stadtrundgang vor dem TSS-Treffen vor der Parteizentrale der Sozialistischen Partei Bulgariens (BSP).