Sri Lanka und der verschleiernde Blick des Westens

Trotz aller Begeisterung für die jüngsten Massenproteste: Die gesellschaftliche Situation in Sri Lanka und vor allem die Lebensbedingungen der Minderheiten sind für den Großteil der deutschsprachigen Linken ein blinder Fleck. Sowmya Maheswaran ordnet die aktuelle Protestbewegung kritisch ein, erklärt den globalen, neokolonialen Kontext und plädiert für mehr Selbstkritik innerhalb der Linken.

Tagelang gingen vulgär-politische Bilder von Protestierenden in Sri Lanka, die in der Hauptstadt Colombo in den Pool des Präsidentenpalasts springen, viral. Obwohl sich bis dato westliche Medien, insbesondere im deutschsprachigen Raum, selten für die Belange des Landes interessierten, wurde plötzlich fast einvernehmlich »der Sturz des bösen Diktators« als »proletarischer Erfolg von unten« gefeiert. Dass Gotabaya Rajapaksa im Kontext des sri-lankischen Staatsbankrotts fluchtartig verschwinden musste, ist gut. Die Ereignisse seit der Präsidentschaftswahl am 20.Juli 2022 geben allerdings einen Vorgeschmack auf eine repressive und wenig hoffnungsverheißende Zukunft. Für die Minderheiten des Landes kommt das alles wenig überraschend. Damit offenbart sich der denkwürdige Aspekt, dass der westliche – auch teils linke – Blick sich mit seinen unterkomplexen Repräsentationen aus Sri Lanka bis heute weigert, von der gewaltvollen lokalen Geschichte der Eelam-Tamil*innen zu lernen. Eine selbstkritische Linke sollte sich die Frage stellen, inwiefern sie damit zielsicher zur Verschleierung neokolonialer und imperialer Verstrickungen des Globalen Nordens beiträgt.

Und die globale Ordnung bleibt

Kaum zwei Wochen ist es her, dass der ehemalige Präsident Rajapaksa unter massiven Protesten Sri Lanka verließ. Obwohl man sich zum Wahltag und zeitgleichen Geburtstag des antikolonialen Denkers Frantz Fanons am 20. Juli eine Episode der revolutionären Transformation nur gewünscht hätte, hilft alles romantische Herbeisehnen nichts: Die Wahl des vorher sechsfachen Premiers Ranil Wickremsinghe zum Präsidenten spricht eher Bände über die verfahrene politische und ökonomische Krise, deren Wurzeln unter anderem in globalen Machtdynamiken liegen. Wickremesinghe steht für eine gen Westen geöffnete elitäre Politik der Neoliberalität. Seit seiner Machtübernahme geht er mit krassester Militär- und Polizeigewalt gegen Protestierende vor, obwohl er kurz vorher noch Verständnis für sie äußerte und friedliche Lösungen ankündigte. Dafür kann der Internationale Währungsfonds, der sich bisher in Bezug auf Kreditvergaben sehr verhalten zeigte, sich diese seit dem Machtwechsel nun scheinbar doch vorstellen. Die globale Ordnung westlicher Hegemonie reproduziert sich damit unverhohlen weiter.

Unabhängigkeit heißt nicht auch Entkolonialisierung

Die Berücksichtigung tamilischer Perspektiven genauso wie geopolitischer Aspekte ist dringend notwendig, um die Geschehnisse auf Sri Lanka soziopolitisch und historisch einordnen zu können.

Was die allermeisten westlichen – und linken – Darstellungen der Proteste nicht benennen: Der buddhistische Nationalismus der heute gegen ökonomische Prekarität protestierenden Singhales*innen, gekoppelt mit dem britischen Kolonialerbe eines nach Mehrheitswahlrecht agierenden Staates sorgt auch fast 75 Jahre nach der Unabhängigkeit für anhaltende Gewalt gegen Tamil*innen. Von einer faktischen Entkolonialisierung kann für sie noch lange nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Die mitunter über angebliche archäologische Befunde und »Entwicklungsprojekte« legitimierte Siedlungspolitik der Regierung sowie die anhaltende Militarisierung des tamilischen Nordostens zeugt auch 13 Jahre nach Kriegsende eher von einer fortschreitenden singhalesischen Kolonisierung tamilischer Gebiete. Rassistische Politiken gegenüber den tamilischen und weiteren Minderheiten haben in Sri Lankas Geschichte eine von weiten Teilen der Mehrheitsgesellschaft immer wieder demokratisch legitimierte Grundlage. Da Singhales*innen mit über 70 Prozent die weitaus größte Ethnie ausmachen, ist an den von ihnen stets gewählten autoritären Nationalist*innen von außen wenig zu rütteln.

Föderale und separatistische Bestrebungen gegen diese strukturelle und systematische Diskriminierung sowie pogromartige und genozidale Gewalt endeten zuletzt 2008 bis 2009 in der Bombardierung von staatlich ernannten »No Fire Zones«. Die militante Widerstandsbewegung der »Liberation Tigers of Tamil Eelam« (LTTE) und ihr zeitweise errichteter de-facto Staat existieren seither nicht mehr, 70.000–120.000 tamilische Zivilist*innen wurden dabei ermordet.

Ausbeutung im neokolonialen Kapitalismus

Abgesehen von dieser Historie an Gräueltaten sind es globale Komponenten, die in den Repräsentationen der sri-lankischen Ereignisse in westlichen Medien zumeist unreflektiert bleiben. Doch bei einer derart tiefsitzenden ökonomischen Krise, die in ähnlicher Weise sehr bald schon weitere südasiatische Nationen wie Pakistan und Nepal treffen wird, sollte ein Blick auf wirtschaftliche Abhängigkeiten naheliegend sein. Sri Lanka ist nicht nur aufgrund von Misswirtschaft und Korruption von lokalen Politiker*innen hoch verschuldet, sondern die Beschaffenheit seiner Ökonomien versinnbildlicht den Idealtypus kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse. Dort wird die imperiale Lebensweise des Globalen Nordens schonungslos weiter vorangetrieben, indem sich der seit jeher über race und gender reproduzierende Kapitalismus unbehelligt fortsetzt und Hierarchisierungen innerhalb der Gesellschaft (re-)produziert und weiter verschärft.

Strandurlaub im Konfliktgebiet

Um es beispielhaft zu veranschaulichen: Auf den von Tourist*innen gern besuchten Plantagenfeldern arbeiten zumeist weibliche Teepflückerinnen der Malayaga-Tamil Community. Sie sind Nachfahr*innen der von der britischen Kolonialmacht auf die Teeplantagen verfrachteten indischen Tamil*innen – und obwohl sie bereits seit vielen Generationen dort leben, sind ihre Arbeits- und Lebensbedingungen anhaltend prekär. Dass der in diesem Kontext entstehende Schwarztee nach wie vor nach britischem Kolonialjargon als »Ceylon-Tee« verkauft wird, verwundert kaum. Andere Industriezweige wie die Textil- oder Tourismusbranche sind ebenfalls durch und durch von vergleichbaren neokolonialen Dynamiken durchwoben.

Trotz jahrzehntelang tobendem Krieg besuchten Tourist*innen stets den Inselstaat. Der Tourismus war tatsächlich bis zur Pandemie einer der Haupteinnahmequellen des Landes, einem vor allem bei deutschen Urlauber*innen zunehmend beliebtem Reiseziel. Früher konzentrierte sich der Tourismus natürlich immer auf die singhalesischen, südlichen Teile des Landes, die sicher genug waren und die die Tourist*innen – von Backpacktouri über Yoga-Ayurveda-Fan bis zur Pauschal-Luxus-Urlauberin – wenig mit den Gewalttaten konfrontierten.

Aber schon kurz nach dem letzten Genozid 2008/09 wurden auch die nördlichen Minderheiten-Gebiete für den westlichen Tourismus geöffnet. Wie der*die Essayist*in Sinthujan Varatharajah schon mit dem Titel »Long before Justice, Tourists arrive« treffend beschreibt, setzt sich auch im Tourismus eine koloniale Tradition fort. Dass dort Hotels und Gastronomien mittlerweile nicht selten vom Militär betrieben werden, verwehrt den Tamil*innen selbst in ihren eigenem Lebensraum die Lebensgrundlagen und verunmöglicht die Adressierung der auf diesem Gebiet ausgeübten Menschenrechts- und Kriegsverbrechen. Ein Raum zur Trauer oder Aufarbeitung wird genau dort systematisch ausgehebelt, wo Tamil*innen seit nun mehr 2000 Tagen dauerhafte Protestcamps aufrechterhalten, um die Aufklärung des Verschwindens Zehntausender genauso zu fordern wie ein Ende der militärischen Landbesetzung. Berichterstattung über oder Interesse an diesen erstaunlich ausdauernden Kämpfen finden sich in den westlichen Medien und Bewegungen kaum.

Unsere Verantwortung in der aktuellen Gemengelage

Den imperialen Dynamiken unserer Zeit spielt diese Verschleierung gut zu. So behält beispielsweise die USA weiterhin ihren Zugang zu dem im östlichen Minderheitengebiet (Trincomalee) liegenden Hafen für gegebenenfalls notwendige militärische Zwecke. Die Tatsache, dass sich Großbritannien an der Ausbildung von Militär und Polizei Sri Lankas beteiligte und der israelische Staat wichtige Waffen zur Verfügung stellte, dürfte irgendwann in Vergessenheit geraten. Und was Deutschland betrifft, kann es seine auch 13 Jahre nach Kriegsende aktiv fahndende Beteiligung am LTTE-Verbot genauso weiter legitimieren, wie die im letzten Jahr begonnene Praxis der Sammelabschiebung von Tamil*innen. Die fälschliche und zynische Logik dahinter ist: Wie kann ein Gebiet für sie als lebensbedrohlich gelten, während doch Menschen aus aller Welt dort Urlaub machen?

Wenn eine kritische Linke solche Aspekte auffangen will, statt sich in Komplizenschaft zu begeben, darf sie nicht vor der selbstreflexiven Auseinandersetzung mit sozialen, politischen und historischen Kontextualisierungen zurückschrecken. Nur dann wird internationale Solidarität zur gelebten Praxis.

Autorin: Als Kind tamilischer Eltern in einer Geflüchteten-Unterkunft in der hessischen Peripherie geboren, beschäftigt sich Sowmya Maheswaran politisch und akademisch mit globalen Verflechtungen im Kontext von (Post-)Kolonialismus und Rassismus und dagegen gerichteten Kulturen des Widerstands. Sie ist unter anderem in flucht- und migrationsbezogenen Bewegungen aktiv.

Bild: Ella, Sri Lanka, von Charlie Marchant.