Avanti popolo! – Für ein Europa von unten


Eindrücke von der International People's Assembly aus Caracas

Vom 24. bis 27. Februar 2019 trafen sich etwa 450 Aktivist*innen und Journalist*innen aus 85 Ländern zur 1. International Peoples‘ Assembly (IPA) in Caracas, Venezuela. Wir waren als Deligierte für die iL dabei und haben einige Eindrücke über unsere Social Media Kanäle nach Hause geschickt. Der folgende Beitrag verdichtet sie noch mal auf ein erstes Resümee hin. Nicht überraschend dabei: Die Begegnungen und Erlebnisse von dort führen uns recht straight zurück nach hause und an die Aufbauarbeit auch hier!

Die Idee einer International Peoples‘ Assembly

Der IPA (deutsch: internationale Versammlung der sozialen Bewegungen) geht ein bereits mehrjähriger Vorbereitungsprozess im Globalen Süden, vor allem in Lateinamerika, voraus. Insbesondere die brasilianische Landlosenbewegung MST (Movimento dos Sem Terra)* und die Plattform ALBA-Movimientos** haben in Lateinamerika den Prozess über viele Jahre, regionale und auch internationale Treffen vorangetrieben. Seit 2016 fanden auch in Afrika, Asien und im Maghreb und Nahen Osten regionale Versammlungen statt.

In Caracas sollten nun all diese vorangegangenen Prozesse zusammenkommen – diesmal auch unter Einschluss des Globalen Nordens.Ziel des Treffens sollte sein, angesichts von weltweit zunehmendem Rechtsruck und Krieg, eine gemeinsame Plattform zu konstituieren um soziale und politische Bewegungen aus dem Globalen Norden und Süden zu vernetzen. Die Perspektive liegt dabei nicht auf mehreren Jahren sondern Jahrzehnten, in dessen Mittelpunkt vier Säulen der Zusammenarbeit stehen sollen.

4 Säulen internationalistischer Praxis und Vernetzung

Grundlegend soll die IPA zunächst einmal als Plattform zur Verbindung unserer Basiskämpfe weltweit dienen. Sie soll also einen Rahmen schaffen zum Austausch und punktuell gemeinsamer Praxis. Zweitens, wird die gemeinsame politische Bildung durch regionale Schulen ins Zentrum gestellt. So existieren neben der berühmten MST Schule in Brasilien bereits politische Bildungsprogramme für Aktivist*innen und soziale Bewegungen in den USA, Tunesien und Nepal. Sowas in Europa aufzubauen könnte eine unserer zukünftigen Aufgaben sein. Ein drittes Ziel ist der Auf- und Ausbau von gemeinsamen Kommunikations- und Medienkanälen. Hier zu nennen ist zum Beispiel das unabhängige Medienprojekt Peoples Dispatch, das auch vor Ort von der IPA berichtete. Viertens, soll der Prozess durch eigene kritische und emanzipatorische Forschung begleitet werden, beispielweise durch das bereits existierende Tricontinental Institute for Social Research. Mit diesen Zielen geht die IPA über die Idee einer reinen Vernetzung des einstigen Weltsozialforums hinaus.

Mit der Hoffnung, bei der Geburt eines neuen, weltweiten internationalistischen Prozesses dabei sein zu können, machten wir uns auf die Reise nach Caracas. Von Anfang an war geplant, dass die erste, konstituierende Asamblea hier stattfinden sollte. Als sich Ende 2018 die politische Bedrohungssituation in Venezuela jedoch zuspitzte, wurde der Charakter der Versammlung kurzfristig in ein Treffen zur »Solidarität mit der bolivarischen Revolution und gegen den Imperialismus« geändert und die Teilnehmer*innenzahl deutlich verringert. Nichtsdestotrotz kamen etwa 450 Aktivist*innen und Journalist*innen aus 85 Ländern nach Caracas.

Internationalismus heißt Begegnung

Ehrlich gesagt: Unsere Erwartungen haben sich nicht ganz erfüllt. Vor allem das Ziel, eine internationale Plattform der sozialen Bewegungen zu konstitutieren, konnte angesichts der kurzfristigen Veränderung des Charakters des Treffens nicht eingelöst werden: Weder konnten wir die gemeinsamen Säulen konkretisieren noch konnten wir nächste Schritte vereinbaren. Es gab kaum Raum für Debatten und Podien blieben auf allgemeinanalytische Reden begrenzt. Uns überraschte das Ungleichgewicht von Kultur- und Politprogramm: Tanz- und Gesangseinlagen (sogenannte místicas) nahmen viel Zeit ein und die ohnehin wenigen Phasen für Podien oder Debatten wurden auch noch aufgrund des Besuchs von Maduro gekürzt. Gleichzeitig mussten sich FLTI* selbst-organisiert ihren eigenen Raum nehmen, denn das ursprünglich vorgesehene FLTI*-Plenum flog aus dem Programm. Hinsichtlich der europäischen Delegationen mussten wir feststellen, dass diese erste Versammlung weniger ein Treffen der sozialen Bewegungen als linker Parteien war. Dies räumte auch die europäische Koordination der IPA, die für die Ansprache und Einladungen von Deligierten in Europa verantwortlich war, selbstkritisch ein. Dabei gibt es auch in Europa, insbesondere durch die Erfahrungen der Austeritätskrise und des Sommers der Migration, ein neues internationalistisches Denken und Kontakte. Unter anderem wir sehen hier unsere Aufgabe, Kontakte einzubringen und beispielweise mit unseren Genoss*innen aus dem Baskenland und Katalonien, aus Italien und Griechenland die europäische Plattform zu einer wirklichen Plattform der sozialen Bewegungen zu machen. Formal war das Treffen also enttäuschend. Doch Internationalismus ist keine Formalität.

Teil des offiziellen Programms war auch der Besuch verschiedener Comunidades in Caracas. Hier kamen wir mit vielen und ganz unterschiedlichen Menschen aus den Barrios ins Gespräch, die uns mit einem bewegenden Selbstbewusstsein ihre kommunalen Selbstverwaltungsstrukturen vorstellten. Sie appellierten immer wieder an uns, dass wir das Bild ihres Venezuelas, ihrer Kämpfe, ihres Widerstands und ihrer Stärke in unsere Länder zurücktragen sollten. Was uns begeisterte: Zumeist waren es Frauen, die wichtige Funktionen inne hatten und wie aus dem Ärmel beeindruckende Reden hielten. Auch aus den Gesprächen mit den Deligierten der IPA abseits des offiziellen Programms nehmen wir natürlich viele neue Perspektiven mit. Die Deligierte einer feministischen Umweltinitiative in Kenia beispielweise machte klar, dass internationalistisches Denken – anders als es uns oftmals in der deutschen Linken erscheint – für sie keine Wahl sei, denn die Kämpfe in Kenia und im gesamten Globalen Süden seien bestimmt von der Politik im Globalen Norden. Und natürlich geht es unter die Haut, wenn hunderte Linke aus aller Welt mit erhobener Faust die Internationale auf ihren Sprachen singen oder rufen: »Y tiembla, y tiembla, y tiembla imperialista, America Latina va ser toda socialista!« (»Erschüttere Imperalist, ganz Lateinamerika wird sozialistisch sein!«)

Unsere Seite der Verantwortung?

Wir mögen vielleicht keine große Sichtbarkeit außerhalb Venezuelas gehabt haben, keine weltbewegenden Abschlusstexte produziert oder eine neue Kampagne gestartet haben. Wir wissen auch, dass die Aufrufung einer internationalen Vereinigung der Unterdrückten genauso alt ist wie die Unterdrückung selbst und sie kennt viele Hindernisse. Dennoch sind genau diese Momente unendlich wichtig. Sie sind die gegenseitige Versicherung unserer weltweiten Solidarität und Stärkung unserer gemeinsamen politischen Haltung, egal woher wir kommen. Sie machen Internationalismus erfahrbar und erinnern an unsere gegenseite Verpflichtung, denn der Kampf um Befreiung bleibt international.

Wir kehren bewegt und gestärkt nach Deutschland zurück, wo die eigentliche Arbeit auf uns wartet. Denn Internationalismus ist auch »keine Theorie oder Polittourismus«, wie Joao Pedro Stedile von der MST zum Auftakt der IPA betonte. Unsere internationalistische Verantwortung für die emanzipatorischen Bewegungen und Kämpfe weltweit besteht darin, praktischen Widerstand aus Deutschland und der EU als wichtige imperialistische Zentren aufzubauen. Einerseits gegen das neoliberale Austeritätsregime innerhalb der EU. Andererseits gegen ihre zerstörerische Politik nach Außen: die Handels- und Klimapolitik, die die Lebensgrundlagen vieler Menschen im Globalen Süden zerstört; die deutschen Waffen, die in imperialistischen Stellvertreterkriegen töten; die globalen Wertschöpfungsketten, die vor allem im Globalen Süden zu unmenschlichen Arbeitsbedingungen ausbeuten; die rassistische Grenzpolitik, die Menschen zu Tausenden im Mittelmeer sterben lässt, weil sie es wagen einen Teil des Wohlstands abhaben zu wollen. Für die nächsten Schritte heißt das konkret, Europa als unseren gemeinsamen Raum des Kampfes zu denken und und darin eine Plattform der sozialen und politischen Bewegungen für ein »Europa von unten« aufzubauen. Trotz unserer besonderen Verwantwortung hängen gerade wir hierbei im Vergleich zu den bereits seit mehreren Jahren stattfindenen Regionaltreffen im Globalen Süden hinterher.

Venezuela: Hinschauen wo es gelingt!

Internationalismus heißt nicht nur unserer Verantwortung aus unserer Position in den globalen Ausbeutungsverhältnissen gerecht zu werden. Es bedeutet auch von unseren Genoss*innen weltweit zu lernen und die Kämpfe um Befreiung anderswo als die unserige zu begreifen. Und momentan sind diese zwei Orte für uns Rojava und Venezuela. Trotz all ihrer Unterschiedlichkeit wird hier versucht, in größerem Maßstab eine alternative, sozialistische Gesellschaftsordnung aufzubauen, die unter massivem Angriff durch reaktionäre Kräfte steht. In Bezug auf Venezuela heißt das: In der aktuellen geopolitischen Auseinandersetzung nicht nur unsere Solidarität mit den Menschen zu zeigen sondern Venezuela auch als sozialistischen Horizont für uns zu begreifen. Die reale Macht von unten, die dort in den letzten 20 Jahren über kommunale und betriebliche Partizipations- und Selbstverwaltungsmodelle aufgebaut wurde, stellen sich Linke in Europa häufig nicht einmal mehr vor. Die realen gesellschaftlichen Veränderungen gehen nicht nur in den Mainstream-Medien sondern auch in den linken geopolitischen Debatten unter. Doch hier sollten wir genauer hinschauen.

Neben der kostenlosen Volksbildung und medizinischen Versogung sowie den zu tausenden geschaffenen Sozialwohnungen, sind zentrale Eckpfeiler des bolivarischen Prozesses die direkt-demokratischen Partizipationsmöglichkeiten in den Nachbarschaften und Betrieben. Wir waren beispielsweise zu Besuch in der Gemeinde Kaika Shi: Was als illegale Landbesetzung anfing wurde unter Chávez legalisiert und ist heute ein selbstverwalteter Wohn- und Lebensraum für etwa 300 Menschen. Für die gesamte Nachbarschaft gibt es consejos (Räte); wir konnten beispielsweise die consejos für Gesundheit, Umwelt und Bildung kennenlernen. Anstelle von Bürgermeister*innen entscheiden die Anwohner*innen durch ihre Räte und auf Versammlungen selbst, was sie benötigen. Das Geld bekommen sie von der Regierung. Wir erfahren von mehreren solcher Erfahrungen, die beeindruckende Beispiele für die poder popular, die Macht von unten, sind, die im bolivarischen Prozess aufgebaut wurde und wird. Inzwischen gibt es über 40.000 solcher kommunalen Räte- und Partizipationsstrukturen, die unter Chavez geschaffen wurden. Wegen der Eröffnung dieser Spielräume für die Umverteilung der politischen Macht nach unten ist Chávez ein positiver Bezugspunkt für alle, mit denen wir in Kontakt kommen.

Gleichzeitig ist die breite gesellschaftliche Unterstützung für den bolivarischen Prozess nicht ohne Kritik an der aktuellen Regierung, im Gegenteil. Ob auf der Straße, bei der Demo, beim feministischen Treffen oder in den comunas negiert niemand die offensichtlichen Missstände. Vor allem die medizinische Versorgung sei schlimm und Menschen sterben an behandelbaren Krankheiten, weil es an Medikamenten und medizinischen Geräten fehle. Man sterbe nicht an Hunger, so wie es all die westlichen Medien darstellen, die sich sonst so selten für den Hunger und die Armut in vielen anderen Ländern interessieren. Auch wird uns bestätigt, dass die Lebensmittelpreise täglich schwanken und zum Beispiel Milch oder Hygieneartikel nur sehr teuer oder auf dem Schwarzmarkt zu erhalten seien. Viele Menschen, die wir treffen, äußern überraschend ehrlich ihre Kritik an der jetzigen Regierung. Auch in 20 Jahren Chavismus habe man es nicht geschafft, vom neokolonial tiefverwurzelten, extraktivistischen und rentenbasierten Wirtschaftsmodell loszukommen. Aufgrund dessen ist das Land extrem abhängig vom Rohstoffexport, von ausländischen Devisen und vom Import vieler Güter aus dem Ausland. Bürokratie, Staatsklientelismus und Korruption bestehen weiter und werden als interne Ursache für die schwierige Lage im Land kritisiert.

Doch im gleichen Atemzug fügen alle stets hinzu, dass genau diejenigen, die die vermeintlich humanitäre Krise beenden wollen, die Krise überhaupt erst herbeigeführt haben: durch die jahrelangen Embargos und die aktuelle Beschlagnahmung von Devisen auf ausländischen Konten, aufgrund derer Venezuela die benötigten Güter nicht selbst kaufen und importieren kann. Weiter berichten uns die Menschen: Die rechte Opposition, die nun mit Hilfe der USA unter dem Deckmantel der humanitären Hilfe die Regierung putschen will, würde die Lebensbedingungen der meisten Venezolaner*innen nicht verbessern sondern nur verschlimmern.

Und so betonen auch viele, mit denen wir sprechen, immer wieder, dass sie diejenigen wären, die die Probleme im Land zu lösen hätten. Dies ginge allerdings nur ohne die Einmischung von außen. Ein Sieg der US-imperialistischen Intervention wäre ein Angriff auf die gerade erst errungenen Handlungs- und Partizipationsmöglichkeiten. Außerdem, so hören wir hier und dort: Wer würde in die Bronx einmarschieren, einem der ärmsten Viertel im reichsten Land der Welt, wo Menschen auch in Armut leben? Oder in das Nachbarland Kolumbien, in dem die Menschen seit Jahrzehnten im Krieg leben? Wir wollen hier nicht zynisch sein, sondern die Doppelmoral hervorheben, mit der der Versuch einer sozialistischen Alternative in einem rohstoffreichen und geostrategisch relevanten Land platt gemacht werden soll. Dritte Optionen, die beispielsweise Neuwahlen vorsehen und auch von einigen Linken in Europa gefordert werden, sind keine neutrale Position, sondern ein indirekter Sieg der ausländischen Erpressung nach dem Motto: wenn schon der direkte Putsch der von den USA eingesetzten venezolanischen Rechten nicht geklappt hat, dann soll die Maduro-Regierung eben durch extern aufgezwungene Neuwahlen abgeräumt werden.

Wir hören auch Selbstkritik in der Bewegung: Einige sagen, es sei ein Versagen der Linken, wenn sich einige vom Chavismus abwenden, denn man habe sie in den kommunalen Räten und comunas nicht genügend einbinden können. Doch gerade jetzt dürfe man nicht aufgeben. Der begonnene Prozess müsse fortgeführt und die unter der bolivarischen Regierung geschaffenen Partizipationsmöglichkeiten genutzt und erweitert werden: »Nosotros estamos construyendo la revolucion. Y no hemos termindo todavia« (»Wir bauen die Revolution auf. Und wir sind noch nicht fertig«).

Mit vielen Fragezeichen sind wir nach Venezuela gefahren und haben dort eine unglaubliche gesellschaftliche Veränderung erlebt und gespürt. Wir wissen, dass die Realität komplex und voller Widersprüche ist. Doch der Blick vom deutschen Elfenbeinturm übersieht, dass der Aufbau einer anderen, sozialistischen Gesellschaft und einer Macht von unten in Venezuela tatsächlich Realität sind. Der begonnene bolivarische Prozess wird nicht nur durch kostenlosen öffentlichen Nahverkehr oder die vielen Sozialbauten erfahrbar. Er zeigt sich auch durch die zahlreichen Praktiken der Selbstverwaltung, dem Selbstbewusstsein und der Willensstärke der clases populares selbst. Hiervon können und müssen wir lernen. In Deutschland sind wir nicht annähernd so weit. Deswegen heißt es nicht nur in Venezuela, sondern ebenso für uns: Lasst uns eine Massenbewegung aufbauen und organisieren, »A construir, a organizar, el movimiento popular!«


Tini und Sophie sind in der IL Berlin organisiert.

Bild Graffito, Kaika Shi, von privat.

* Das Movimento dos Sem Terra (MST) ist eine Massenbewegung der Landarbeiter*innen ohne Boden in Brasilien.

** Die Plattform ALBA-Movimientos ist eine Plattform der linken sozialen Bewegungen, die sich vor dem Hintergrund der »bolivarischen Allianz« lateinamerikanischer und karibischer Staaten (ALBA) zusammengeschlossen haben.