Zurück in die Zukunft!

Der Ausgangspunkt der Debatte um G20 verfängt oftmals in der Behauptung, dass abstrakte Kapitalismuskritik die Menschen nicht erreiche und stattdessen konkrete, verständliche, alltagstaugliche Forderungen erhoben werden müssen, um die Notwendigkeit des Protests nachvollziehbar zu machen: Dies sei dann konkrete Kapitalismuskritik. Der folgende Beitrag behauptet anhand von vier strategischen Punkten das Gegenteil – und streitet für eine Re-Globalisierung unseres Antikapitalismus.

1. Eine Linke, die sich radikal versteht, kommt nicht daran vorbei, Alltagskonflikte und damit verbundene soziale Kämpfe auf lokaler sowie nationaler Ebene transnational zu begreifen. Sie muss ihre politische Praxis aus dem Kontext der aktuellen massiven Verwertungskrise der Kapitalakkumulation – auch unter dem Begriff »Globalisierung« gefasst – bestimmen und verorten.

Wenn wir davon sprechen, dass wir Menschen erreichen wollen, sich uns anzuschließen, unsere Kritik zu teilen und entsprechende Schlüsse daraus zu ziehen, ist genau das zunächst »abstrakt«. Es bleibt unklar, wer das sein könnte. Aber die Menschen, die wir in unseren Gruppen, in unseren Städten, am Arbeitsplatz, im Freundeskreis, in Netzwerken ansprechen, die sind konkret. Alle sozialen und politischen Kämpfe, die wir in unseren IL-Gruppen anstoßen und führen, haben dabei ihre Ursachen in den Verwerfungen kapitalistischer Verwertungslogik. Beides lässt sich nicht trennen.

Selbstverständlich teilen auch andere gesellschaftliche Strömungen unsere Kritik jener Wachstumslogik, die Ursache von Vernichtung menschlichen Lebens und der Natur ist und gehen mit uns zusammen. Eine revolutionäre Veränderung dieser Verhältnisse ist damit aber noch nicht gegeben. Eine Linke, die sich radikal versteht, möchte Menschen gewinnen, die der Einsicht folgen, dass es einen Fehler im Gesamtsystem gibt, der nicht auszubessern, der irreparabel ist. Tun wir doch nicht so, als sei dies eine selbstverständliche und weit verbreitete Einsicht!

Vor etwa 25 Jahren betraten die Zapatistas in Mexico die Bühne des Internationalismus und lebten uns ein neues Modell internationalistischen Widerstands vor, der bis heute seine Ausstrahlungskraft nicht eingebüßt hat. In Folge ist die Antiglobalisierungsbewegung zu nennen, deren Zyklus von Weltsozialforen und Gipfelprotesten zu beschreiben ist und in den späten 2000er Jahre zu einem Ende kam. Aus bundesdeutscher Perspektive bildete Heiligendamm 2007 den Auftakt eines neuen Zyklus der Gipfelproteste mit einer gleichzeitigen öffentlich sichtbaren Erneuerung einer explizit antikapitalistischen Strömung der Linken. Der iL, die hier ihre Wurzel hat, war es ein unbedingtes Anliegen und Gründungsmoment, Gesellschaftskritik antikapitalistisch und gleichbedeutend international zu begründen; das zentrale strategische Moment: »Think global, act local«.

Es war dahingehend tatsächlich ein strategischer Erfolg der iL – natürlich nicht nur allein der iL, sondern mit anderen zusammen –, dass in Heiligendamm 2007 und danach seit Jahrzehnten wieder breite und relevante Mobilisierungen explizit unter dem Label »antikapitalistisch« erfolgreich waren. Zur Erinnerung: Immerhin ließen sich in Rostock an die 20.000 Menschen trotz massiver Einschüchterung nicht von der Demo abschrecken, Tausende nahmen an den Blockaden teil.

2. Das internationale Kapital agiert und organisiert sich weltweit; also muss eine Linke, die sich radikal versteht, dies auch tun. Gegenmacht zu erzeugen, ist eine Herausforderung für Jahrzehnte.

Der G20 wird kein Kasperletheater, sondern verfolgt konkrete praktische Ziele der Kapitalorganisation. Die Geschäftsordnung für die 20er Jahre des 21. Jahrhunderts ist das Thema. Die aktuelle Einschätzung weltpolitischer Fraktionsbildungen ist unübersichtlich; nicht nur für uns, sondern auch für die Kapitalfraktionen selbst. Diese versuchen, über ihre staatlichen Repräsentanten, das krisenhafte und angeschlagene System neu zu ordnen, zu stabilisieren, neue Koalitionen zu schmieden oder neue Konfliktlinien aufzumachen. Tatsache ist, dass sie keine wirkliche Lösung für die Verwertungskrise des Kapitals und die damit verbundenen Herausforderungen haben. Stattdessen ist »Resilienz« das offizielle Label des Treffens, ein Begriff aus der Sozialpädagogik, der Psychologie, der hier eine interessante sozialpsychologische Wendung Richtung neoliberaler »Aufstandsbekämpfung« erfährt: Wie können die Bevölkerungen angesichts der Katastrophen darauf vorbereitet werden, still zu halten und weiter zu machen?

Es stimmt, dass die Hegemonie des neoliberalen Kapitalismus gebrochen ist, weil sie selber nicht mehr an ein positives Glücksversprechen glauben. – Aber es stimmt auch nicht, denn das neoliberale Tantra, das TINA (There is no Alternative) Syndrom, ist in die Bewusstseinsstrukturen der Menschen tief verankert und blockiert ein selbstbewusstes Umsetzen von Sehnsüchten und Begehren nach einem besseren Leben in radikale politische Praxis. Gesellschaftliche Aufbrüche werden dadurch nicht nur von »außen« systematisch verhindert.

TINA steht bombenfest; die Menschen haben sich weltweit gegen Veränderung entschieden. Ich beschränke mich an dieser Stelle auf den Blick nach Lateinamerika, weil ich mich in Afrika und Asien nicht auskenne. Die Ära der linken Regierungen in Venezuela, Bolivien, Ecuador, erweitert auf Brasilien und Argentinien kommt nach nur 15 Jahren an ihr Ende. Auch global betrachtet ist die TINA-Fraktion gut aufgestellt. Die Befreiungsbewegungen der 60er bis 80er Jahre wurden vernichtet, und wenn sie nicht vernichtet wurden, unterwarfen sie sich in einem längeren Prozess mangels einer vermeintlichen Alternative dem »freien« Weltmarkt. Für anti-imperialistische Bewegungen »im Norden« bedeutete dies auch den Verlust direkter Ansprechpartner*innen in der internationalistischen Solidaritätsbewegung. Konsequenterweise verschwand sie damit auch hier bei uns von der Bildfläche.

3. Angesichts des Rechtsrucks in Europa und weltweit muss eine radikale Linke sich ihrer Marginalität bewusst sein, ohne gleichzeitig ihr Bestreben nach grundsätzlicher Veränderung der kapitalistischen Weltunordnung aufzugeben.

Mit der Ausrichtung des G20 in Hamburg wurden wir zum Handeln herausgefordert. Sie zwingt uns dazu, unsere Kritik und unseren Protest zu re-globalisieren; wir kehren im Prinzip zu unserem Ausgangspunkt zurück und beschreiben und beschreiten ihn neu. Das ist die strategische Herausforderung, weil sich die gesellschaftlichen Bedingungen weltweit, in Europa, in Deutschland verändert haben.

Mit der EURO Krise und der sichtbar werdenden imperialistischen Rolle der Bundesrepublik, dem Aufkommen rechter Strömungen, gleichzeitiger Aufbrüche sozialer Bewegungen im Arabischen Frühling, in Griechenland, um nur einige Punkte zu nennen, verlagerte sich der Bewegungsschwerpunkt der iL mit Blockupy auf europäische Proteste gegen die EZB. Das war notwendig und richtig und hat uns auf europäischer Ebene mit anderen Akteuren zusammen gebracht und vernetzt. Der strategische Punkt bei der aktuellen Orientierung auf G20 liegt darin, die Lähmungserscheinungen durch den Rechtsruck in unserer Gesellschaft aufzubrechen und trotz bewusster Marginalisierung eine begründete Hoffnung zu geben; die Proteste gegen den G20 bedeuten in diesem Zusammenhang keine Rückkehr zur alten Gipfelprotestdynamik, sondern re-globalisieren die antikapitalistische Kritik am Weltsystem.

4. Alle vorangegangenen Aspekte lassen sich in der Notwendigkeit zusammenfassen, systematisch die Organisierung in Angriff zu nehmen.

Dies ist kein leichtes Unterfangen, weil aufgrund der veränderten gesellschaftlichen Bedingungen im globalen Kapitalismus und der ihm eingeschriebenen neoliberalen Subjektstrukturen neue Wege zu finden sind. Linke Konzepte bedeuten, sich auf Wandel und Veränderung einzustellen, Lust auf Neues zu haben, neugierig zu sein, auf etwas, was man nicht kennt, Wandel nicht als Bedrohung und Anstrengung zu sehen, keine Angst vor der Zukunft zu haben.

Wir erleben das Paradoxon, dass gerade im neoliberalen Diskurs, der die Freiheit feiert und Selbständigkeit und Unabhängigkeit zum Paradigma erhebt, die Menschen diese Freiheit nicht wollen. Eigentlich könnte man davon ausgehen, dass die Rechtswähler*innen den neoliberalen Zauber durchschauen – nur sind ihre Schlussfolgerungen daraus falsch. Nach vorne zu denken, in eine offene Zukunft zu schauen, ist ungleich anspruchsvoller und setzt auf frei denkende Menschen. Und wo sollen die herkommen? Die Menschen, die in unserer Gesellschaft eine Position einnehmen, wollen nichts verändern, weil sie Profiteure sind. Das ist hegemonial. Damit sind die Fronten doch klar.

Unser strategischer Punkt muss sein: Es gibt eine Alternative, davon sind wir überzeugt, daran glauben wir, wir wissen es! Daher finden wir die Strategie, Hoffnung auf Veränderung auszustrahlen, sinnvoll. Es gibt eine begründete Gewissheit, dass das kapitalistische System keine Lösung für die Probleme bietet, die wir unerträglich finden. Dieses Selbstbewusstsein zu haben und auszustrahlen, das meint linke Politik, die sich radikal versteht. So verstehe ich auch den Begriff des kommenden Aufstands oder der Revolution. Revolution einzufordern bedeutet nicht, dass ich damit in den nächsten Jahren rechne, sondern dass ich überzeugt davon bin, dass sie kommt, wie auch immer. Daraufhin Politik zu machen, das ist meines Erachtens revolutionäre Politik.

Hoffnung auf Rebellion, Rebellion entsteht aus Hoffnung. Das ist kein emotionales Gedusel im Sinne der Vertröstung aufs Jenseits, sondern das ist der Kern unserer Kraft, unser Leben dafür zu geben, dass sich die Verhältnisse grundsätzlich ändern müssen. So ein Leben ist ein gutes Leben, das ist unsere Message.

Barbara ist bei der IL Münster organisiert und arbeitet als Geschichtslehrerin.

Bild: »Otro mundo es possible. Un mundo donde quepan todos los mundos.« Bild von Beatriz Aurora, año nuevo zapatista