Zurück in die Vergangenheit?

Seit dem Ende des Protestgeschehens sind in unserer G20-Debatte vor allem die Riots des Freitagabend kontrovers erörtert worden. Unser Aschaffenburger Genosse Tacko fragt sich, warum nicht die eigenen IL-Aktionen im Zentrum der Debatte stehen, und stellt zur Diskussion, wie die Mittel des massenhaften zivilen Ungehorsams wieder in eine klare politische Strategie eingebunden werden können.

Zwei Dinge haben mich an der bisherigen Auswertung von #NoG20 besonders überrascht. Zum einen die Empörung über das angeblich noch nie dagewesene Ausmaß von Gewalt, die weit bis ins linke Spektrum hinein zu vernehmen war, und zum anderen die innerlinke Debatte über die »Riots« und dass offenbar entfachte Interesse am Insurrektionalismus. Beides kann ich mir nur mit den meist handzahmen Protesten der vergangenen Jahre, gepaart mit einer allgemeinen Geschichtsvergessenheit erklären. Denn weder waren die Ausschreitungen in Hamburg einmalig, noch ist der Insurrektionalismus neu. Auch der mediale Shitstorm und die Hetze gegen alles Linke wurden nicht erst in Hamburg geboren. Sich dies selbst und anderen immer wieder bewusst zu machen, halte ich für ein Gebot der Stunde. Das lässt auch einen wesentlich entspannteren Umgang in der Bewertung der Ereignisse zu. In diesem Zusammenhang erscheint mir die These, dass unsere Verankerung im Alltag oder in Bündnissen beschädigt sei, etwas voreilig getroffen worden zu sein.

Wie weitreichend die Nachwehen, im Positiven wie im Negativen, sein werden, ist in Gänze noch nicht absehbar. Doch unbestreitbar ist, dass die gesamte Linke einiges zu verlieren hat. Unabhängig von etwaigen kommenden repressiven Maßnahmen sehe ich für uns selbst die Gefahr, an Profil zu verlieren. Dass sich unsere öffentliche Nachbereitungsdebatte, aber auch Gespräche und Online-Kommentare zum Großteil mit den Ausschreitungen beschäftigen, statt mehr die von uns direkt zu verantwortende Praxis in den Mittelpunkt zu stellen, ist vielleicht ein Hinweis darauf, dass wir unzufrieden mit dem Verlauf der eigenen Aktionen sind – beziehungsweise an deren zukünftigen Erfolgsaussichten zweifeln.

Zugegeben, die von uns mitgetragenen Aktionen des massenhaften zivilen Ungehorsams (MZU) haben in den letzten Jahren nicht immer ihr Maximalziel erreicht. Der Preis war oft hoch und in Sachen Beteiligung ist eine Stagnation festzustellen. Denn wirkliche Massen bekommen wir bei unseren Aktionen nicht auf die Straßen. Stattdessen findet sich immer wieder ein Sammelsurium von einigen wenigen tausend Aktivist*innen zusammen. Vor diesem Hintergrund finde ich die Frage, welche Lehren wir aus den Erfahrungen von Hamburg ziehen, aktuell drängender, als die Ausschreitungen nach soziologischen Kriterien und politischen Motivationen einzuordnen oder über insurrektionalistische Konzepte zu diskutieren.

Welchen Stellenwert haben Aktionen des massenhaften zivilen Ungehorsams für die IL?

Im Zwischenstandspapier haben wir formuliert: »Die Praxis der IL wird hauptsächlich mit Blockaden und anderen ungehorsamen Massenaktionen identifiziert. Aus unserer Sicht gibt es in der gegenwärtigen politischen Situation tatsächlich gute Gründe, häufig auf diese Aktionsformen zu setzen.«

Hat sich nach Hamburg an dieser Einschätzung etwas geändert?

Wenn Genoss*innen jetzt von »den möglicherweise kommenden Aufständen in den Banlieues von Hamburg, Frankfurt etc.« schreiben oder die Frage in den Raum werfen, dass es vielleicht »angesichts der gesellschaftlichen Situation eigentlich eine wesentlich militantere Praxis bräuchte, als sie vermittelbar erscheint«, kann ich das nicht losgelöst vom Presseecho und der noch wirkenden Dynamik des Erlebten einordnen.

Mir stellt sich die Frage, welche Indikatoren aktuell darauf hinweisen, dass wir uns mit der Frage möglicher Aufstände auseinandersetzen sollten oder warum eventuell die Zeit für eine (vermeintlich) militantere Praxis reif wäre? Natürlich werden Gründe für die jeweiligen Überlegungen genannt. Allerdings erscheint es mir so, dass darin eine absolute Überinterpretation und teils romantische Verklärung der Ausschreitungen zum Vorschein kommt.

Denn anders als in Athen, London oder Ferguson gab es in den letzten Jahren hierzulande keinerlei spontan entstandenen Riots, »sozialen Unruhen« oder gar Aufstände. Und die Ausschreitungen in Hamburg hätten ohne das durch die (radikale) Linke inszenierte Protestgeschehen und den spezifisch lokalen Rahmenbedingungen (großes alternatives Milieu, starke linke Akteure und Infrastruktur) nicht stattgefunden. Hamburg taugt also meines Erachtens nach weder für hypothetische Annahmen, noch als besonderes Potential, aus dem wir für zukünftige Kämpfe schöpfen könnten.

»Generation Heiligendamm«. »Generation Hamburg«?

Im Vorfeld von NoG20 wurde des Öfteren von der »Generation Heiligendamm« gesprochen. Ohne Frage prägten die damaligen Proteste gegen den G8-Gipfel die nachfolgende Linke und im Speziellen die IL. Für mich selbst, als ein durch die Antifa-Szene politisierter Aktivist, der gegen 2007 genug von politischer Subkultur und autonomer Folklore hatte, waren Form und Inhalt der IL-Mobilisierung ein wirklicher Lichtblick.

Zur Generation Heiligendamm gehören somit für mich nicht nur diejenigen, deren Politisierung und Radikalisierung durch die G8-Proteste begann, sondern auch all jene, die bereits politisch aktiv waren und die G8-Mobilisierung als Anbruch von etwas Neuem wahrnahmen. Etwas Neuem, das auch einen tatsächlichen Bruch mit so einigen »autonomen Selbstverständlichkeiten« bedeutete, wie er über viele Jahre in Vorläufergruppen der IL diskutiert wurde.

Warum machen wir das, was wir machen?

Radikal linke Politik in und mit der Gesellschaft, Ansprechbarkeit, verbindliches Auftreten und Absprachen, breite Bündnisse, Organisierungswille und Aktionen des massenhaften zivilen Ungehorsams sind Attribute, die heute (gewollt oder ungewollt) unter dem Label ›postautonom‹ verhandelt und wohl am ausdrucksstärksten von uns praktiziert werden.

Meine Vermutung ist, dass es ähnlich wie 2007 auch nach Hamburg nicht wenige Aktivist*innen gibt, die die eigene autonome Praxis kritisch hinterfragen oder gar nach neuen Aktionsformen suchen. Wie stark wir als IL für dieses Spektrum wahrnehmbar waren und Orientierung bieten konnten, kann ich nicht beurteilen. Aber wenn wir als Organisation von linksradikalen Aktivist*innen wachsen wollen, sollten wir versuchen, bei Großereignissen unter anderem dieses Spektrum zu adressieren. Dafür sind Wahrnehmbarkeit und ein scharfes Profil unverzichtbar.

Doch schon ansatzweise in der No-G20-Mobiliserung, aber vor allem in der öffentlichen Nachbereitung, vermisse ich das »postautonome Profil« der IL. Wir laufen damit Gefahr, im linksradikalen Szenebrei zu verwässern, ohne uns in der Außendarstellung abzuheben. So fehlten mir auch in der Nachbereitung ein paar klare Worte in Bezug auf manche gelaufene Aktion. Wir brechen uns als IL doch keinen Zacken aus der Krone, wenn wir Dinge, die wir nicht gut finden klar beim Namen nennen. Wir wollen eine Linke sein, die sich einmischt. Dann aber bitte auch in innerlinke Debatten, auch wenn dies Reibungen provoziert. Wenn also irgendwo private Kleinwagen brennen oder an in Wohnhäusern befindliche Supermärkte gezündelt wird, hieße Sachlichkeit in diesen Fällen für mich: »Wir finden das politisch scheisse, weil…«

Ja warum eigentlich?

Dass wir als IL oftmals – aber nicht ausschließlich! – auf Aktionen des massenhaften zivilen Ungehorsams setzen, hat gute Gründe. Der Anspruch mit möglichst vielen Menschen Aktionen zu machen, die radikalisieren und ermutigen, widerständigen und grenzüberschreitenden Aktionen Legitimität verleihen, Mut zum Widerstand herzustellen, hat nach Hamburg noch mehr an Aktualität gewonnen.

Eventuell haben wir aber die Vermittlung genau dieser Gründe in den letzten Jahren vernachlässigt. Wir setzten wohl viel zu oft voraus, dass es (neuen) Aktivist*innen schon klar sei, wieso es sinnvoll ist, in den frühen Morgenstunden in einem regelrechten Kraftakt Blockaden durchzuführen, statt sich in Scharmützeln an der Polizei abzuarbeiten oder auf Straßenkampf, mit all seinen negativen Begleiterscheinungen, zu setzen.

Vielleicht sind unsere Großaktionen mittlerweile auch derart ritualisiert (Stichwort »Dreiklang«), dass es uns selbst schwerfällt, diese mit Leidenschaft zu bewerben? Ist ein fast immer gleichlautender Aktionskonsens vielleicht der sichtbarste Ausdruck dessen?

Ungehorsam in die Offensive

Wie könnten wir zukünftig massenhafte ungehorsame Aktionen und Blockaden als das verkaufen, was sie tatsächlich sein könnten? Nämlich eine zutiefst kämpferische, selbstermächtigende und relativ repressionsarme Praxis, die durchaus materielle Siege erringen kann, wenn sie wirklich massenhaft und von Selbstbewusstsein getragen ist. Die auch über das Ereignis hinaus die Beteiligten zum Ungehorsam ermuntern und rebellische Hoffnung produzieren kann.

Ob aber das Herrschaftsspektakel in Form von Gipfeln, die heute mehr denn je symbolisches statt materielles Gehalt aufweisen, überhaupt die Rahmenbedingungen bieten, um über symbolischen Aktivismus und das Produzieren mehr oder weniger schöner Bilder hinaus zu gelangen, ist eine Frage, die uns schon lange begleitet und noch immer nicht befriedigend beantwortet wurde.

Unabhängig davon denke ich, dass das Potential für ungehorsame Massenaktionen noch lange nicht ausgereizt ist. Auch wenn wir uns nach Hamburg in einer Situation befinden, in der erst einmal die (Wieder)Herstellung ihrer Legitimität auf der Tagesordnung zu stehen scheint. In unserer ersten, vorläufigen Bilanz schrieben wir: »Für die Zukunft werden wir sorgfältig auswerten, welche Aktionsformen und politischen Strategien unter den Bedingungen einer polizeilichen Bürgerkriegsübung im urbanen Raum angemessen sind.«

Ich hoffe sehr, dass wir uns dieser Auswertung, mit der dafür notwendigen Intensität und Ausdauer, widmen und dabei auch Ansichten anderer linker Akteure mit einbeziehen, die vor ähnlichen Problemen stehen wie wir. Gleichzeitig sollten wir die Debatte um zeitgemäße Aktionsformen auch dafür nutzen, den Faden »Findung einer Gesamtstrategie« wieder aufzugreifen. Erst wenn wir eine grobe Idee davon haben, wie und mit wem wir uns eine gesellschaftliche Transformation und den revolutionären Bruch eigentlich vorstellen, wird es uns gelingen, eine gemeinsame Praxis zu entwickeln, in der sich nicht nur unterschiedliche Politikansätze, sondern auch Großproteste und Alltagskonflikte gegenseitig bereichern können.

Zwar haben wir uns der Frage »Was heißt radikale Politik heute?« bereits im Rahmen der Strategiekonferenz 2016 gestellt, aber eine Antwort steht nach wie vor aus. Ich habe meine Zweifel, ob wir der Antwort durch Hamburg einen Schritt nähergekommen sind. Denn bei mancher Äußerung von Genoss*innen ist mir unklar, ob es wirklich um eine Auswertung von #NoG20 geht oder sich nur dasselbe wiederholt wie vor 30 Jahren, als Bolle brannte.

In diesem Sinne: Nach vorne gehen statt »back to the roots«!

Tacko ist aktiv in der Ortsgruppe Aschaffenburg. Er versteht sich als undogmatischer Anarchist mit Organisationsaffinität und fühlt sich genau deswegen in der IL gut aufgehoben.

Bild: Die Ruine des Supermarktes »Bolle« in Berlin Kreuzberg, der im Kontext der Maikrawalle am 1. Mai 1987 geplündert und angezündet wurde – letzteres aber nicht, wie anfangs von der Presse behauptet, von Autonomen, sondern von einem alleine handelnden Pyromanen. Das Bild wurde uns vom wunderbaren Umbruch-Bildarchiv zur Verfügung gestellt und ist Teil einer längeren Fotoserie zum 1. Mai 1987 in Kreuzberg.