Der Mikro-Aufstand von Hamburg als materielles und diskursives Ereignis

Mit »Es braucht mehr als ein Nein« haben Genoss*innen aus Berlin die Diskussion um die strategischen Schlussfolgerungen für postautonome Politik nach G20 eröffnet. David Doell tritt noch einmal einen Schritt zurück und versucht die Ereignisse von Hamburg anders zu deuten, dabei den Aufstand in seinem Kontext zu erschließen und die heterogenen Akteur*innen in den Blick zu bekommen. Seine These lautet, dass sich in Hamburg ein Antagonsismus von unten gezeigt hat, der aber vielleicht nicht nur und auch nicht wesentlich von traditionellen linken Akteur*innen getragen wurde.

Wake-Up-Call

Für den 20. Juli, zwei Wochen nach der W2Hell-Demonstration, hatte die Rote Flora zu einer außerordentlichen Stadtteilversammlung in St. Pauli eingeladen. Nach dem medialem »Ausnahmezustand«, hysterischer Gewalterzählungen und antilinken Ressentiments schien die Situation ungewiss – auch für Teile der radikalen Linke, bei denen sich ein Gefühl des Aufbruchs der Protesttage mit der Katerstimmung der Berichterstattung und der drohenden Repression verbindet.

Es kommen dann mehr als 1.000 Menschen. Die von außen herbeigeredete Spaltungslinie blieb relativ wirkungslos, die Flora wird in keiner Form in Frage gestellt, die Vielfältigkeit der Proteste trotz teilweise deutlicher Kritik am Freitagabend positiv hervorgehoben. Eine Anwohnerin spricht von einem Feuer direkt vor ihrem Haus, von der Angst, die sie und ihre Nachbar*innen gespürt haben und dem stillen Wunsch, ein Wasserwerfer möge das Feuer löschen. Um dann mit dem fragenden Vorschlag zu schließen, ob sich darauf geeinigt werden kann, Barrikaden in engeren Straßen direkt an Wohnhäusern nicht anzuzünden?!

Für mich ist dieser Vorschlag als Zeichen der solidarischen Kritik beispielhaft ein Ausdruck davon, dass sich in Hamburg etwas bewegt (hat). In der solidarischen Kritik (wo Wut auf die radikale Linke verständlich und eine Distanzierung wahrscheinlich wäre) zeigt sich an, dass »Hamburg« über ein Protest-Event hinaus neue Praxen, neue Verbindungen und neue Arten des Sprechens hervorbringen kann. Seit Hamburg stelle ich mir die Frage, warum Partytourist*innen Läden plündern, Jugendliche sich massenhaft Straßenschlachten mit der Polizei liefern und Anwohner*innen dennoch mit den Protesten sympathisieren? Diese Fragen mögen an sich leicht zu beantworten sein, aber eine Situation, in der die Rote Flora Angst vor den Reaktionen der Menschen hat und Menschen, die selbst Angst vor den Straßenschlachten hatten, zu einer Klarheit über den Einsatz von Barrikaden kommen, ist vielleicht doch anders als gedacht.

Auch wenn es auf der medialen Makro-Ebene am Freitagabend einen Bruch gab und die Berichterstattung über »Gewalt« und »Linksextreme« alles andere zu überlagern schien, zirkuliert untergründig doch eine andere Wahrheit der Geschehnisse. Ich kann im Folgenden keine objektive Analyse dieser gegenhegemonialen Wahrheit anbieten, sondern nur von Schlaglichtern ausgehend einige spekulative Thesen aufstellen. Zunächst werde ich kurz auf den herrschenden Diskurs eingehen, der bis ins Lager der (Partei-)Linken eine homogene Riot-Akteur*in konstruiert und depolitisierend diffamiert. Demgegenüber gilt es, die heterogenen Akteur*innen und Aktionsformen des Riots im engeren Sinn herausstellen und darüber hinaus den Riot als nur eine Form der Artikulation des aufständigen Hamburgs zu deuten. Die Auseinandersetzung mit dem Post-Insurrektionalismus des Unsichtbaren Komitees kann dabei helfen, die Qualität des Aufstands nicht in der Anzahl der eingeschmissenen Fensterscheiben zu bemessen, sondern in den materiellen und diskursiven Verbindungen, die aus ihm hervorgehen.

I. Der herrschende Diskurs

»Hüten wir uns also davor, es als den endlich erbrachten Beweis unserer Radikalität anzusehen, wenn völlig blinde Repression über uns hereinbricht. Glauben wir nicht, man versuche, uns zu zerstören. Gehen wir eher von der Hypothese aus, dass man versucht, uns hervorzubringen. Uns als politisches Subjekt, als »Anarchisten«, als »Schwarzen Block«, als »Systemgegner« hervorzubringen, uns aus der allgemeinen Bevölkerung herauszulösen, indem uns eine politische Identität verpasst wird.«

Unsichtbares Komitee, An unsere Freunde S. 126

Die Rauchschwaden über Hamburg hatten sich am Samstagmorgen kaum gelegt, da standen die Kategorien »Terrorismus« und »Verbrechen« schon bereit, um alles »Aufständige« auf eine homogene Identität festzulegen und en bloc zu diffamieren. Die omnipräsente »Gewaltdebatte« will in bekannter Weise seit Monaten eine Spaltungslinie in den Protest einziehen. Dafür gibt es meines Erachtens seit den Ereignissen in Hamburg wesentlich zwei Strategien.

Die »konservative« Strategie versucht mit dem Begriff »Terrorismus« in der Konstruktion eines absoluten Außen die innere Einheit zu beschwören – etwas davon klingt in Scholz’ Stilisierung der Polizei zu Held*innen an, welche »die« Bürgerschaft vor dem Schlimmsten bewahrt haben. Fehler der Polizist*innen sind logisch ausgeschlossen, eine Kritik an ihrem Vorgehen »Denunziation«. Am plastischsten wird die Stumpfheit dieser Reduktionismus in einem Text der Welt sichtbar: »Das Schwarze verbindet Faschisten, den IS und die Autonomen. Errichtet wurde eine Kathedrale der Angst.« Augenmaß aus der Kathedrale der Angst, die von schwarzen Feinden umstellt ist, – so will es die Metapher – kann nicht mehr erwartet werden. Akteur*innen der konservative Strategie kapitalisieren die Feindkonstruktion, indem sie Anti-Linke Ressentiments mit dem Wahlkampfthema der inneren Sicherheit verbinden.

Die »liberale« Strategie gewährt dem Aufständigen demgegenüber einen Platz innerhalb des Bürgerlichen – und zwar den des Verbrechens. Die Akteur*innen des Aufständigen seien nach den Spitzen einer möglichen progressiven Regierungsoption rot-rot-grün »Kriminelle« (Özdemir), »Mordbrenner« (Schulz) und »durchgeknallte Randalier« (Wagenknecht). Auch für Kipping als Vertreterin des »bewegungsorientierten« Flügels in der Spitze der Linkspartei gibt es nur friedliche Protestierende und Straftäter*innen. Die Diffamierung hat nicht nur wahltaktische Gründe der Abgrenzung, sondern zeigt auch Elemente einer Verweigerung, sich mit subalternen Artikulationsformen des Politischen auseinanderzusetzen. Gemeinsam ist beiden Perspektiven die De-politisierung der Handlungen des aufständigen Handelns – eine genauere Analyse der Ereignisse wird aus der Distanz der moralischen Überlegenheit abgelehnt. Genau diese Analyse braucht es aber, um von der moralischen Ebene der Diskussion zu einer strategischen Einschätzung der Lage zu kommen.

II. Den Aufstand verstehen

»Man muss es sich anschauen gehen. Man muss die Begegnung suchen. Und in der Komplexität der Bewegungen die gemeinsamen Freunde, die möglichen Bündnisse, die nötigen Konflikte erkennen. Einer Logik der Strategie und nicht einer der Dialektik folgen.«

Unsichtbare Komitee, An unsere Freunde, S. 179

Die zentrale Frage, die sich stellt und hier nur ansatzweise verhandelt werden kann, ist, wie die Dynamiken des Aufständigen und ihre Situiertheit in der gesellschaftlichen Situation verstanden werden können: Wer sind die Akteur*innen? Was sind ihre sozio-ökonomischen Hintergründe? Was ihre politischen Positionen und Aktionsformen? Wie, wenn überhaupt, sind sie für radikalen gesellschaftlichen Wandel ansprechbar? Letztlich kann nur eine geteilte Einschätzung der beteiligten Akteur*innen und ihrer Resonanzräume selbst das Ereignis und deren Konsequenzen zur Sprache bringen. Annäherungsweise kann vielleicht von einem »aufständigen Kontinuum« gesprochen werden, das verschiedene Akteur*innen und heterogene politische Prozesse in einem Kulminationspunkt verbindet, der das Protestevent ansatzweise zu einer sozialen Revolte hin öffnet.

Der Riot im engeren Sinn ist darin nur eine Artikulationsform. Wenn in Hamburg nur ein paar Insurrektionalist*innen (Insurrektion, Aufstand von lateinisch insurgere »sich erheben«) Autos angezündet hätten, wäre nicht von einem Ereignis zu sprechen. Es wäre der kalkulierte und kalkulierbare »linksextreme Krawall«, wie er sich bei jeder »Revolutionären 1. Mai Demo« ritualisiert und routiniert in einem Scharmützel mit der Polizei austragen kann. Die Situation in Hamburg war aber anders und vielleicht auch wesentlich mehr als ein »europäischer Gipfelriot«. Die Regierenden müssen keine Angst haben, wenn ein paar Autos von Insurrektionalist*innen angezündet werden, und die Bilder entstehen, die für sie medial nutzbar sind. Schon eher, wenn Jugendliche beginnen massenhaft Steine zu werfen und Anwohner*innen sich mit „Ganz Hamburg hasst die Polizei« Sprechchören solidarisieren.

Entscheidende Vorbedingung ist vielleicht zunächst der Ort, die Erfahrungen der Anwohner*innen mit der Polizeiwillkür der »Gefahrengebiet«-Zeit und die organische Integration von linker Infrastruktur im Schanzenviertel. Dann die Zuspitzung der »Hamburger Linie« im Polizeikonzept der »Besondere Aufbauorganisation Michel« zu einer gesellschaftlich kaum mehr vermittelbaren Gewaltstrategie, die der bekennende Hardliner Dudde in einer Lagebesprechung vor G20 in dem Satz, dass ein Wasserwerfer keinen Rückwärtsgang habe, zum Ausdruckt bringt. Die brutale Zerschlagung der »Welcome to Hell«-Demonstration als Ausdruck dieser Strategie und die Reformierung der Demonstration nach ihrer Zerschlagung. Schließlich die Aneignung des öffentlichen Raums am Freitagnachmittag, in der die organisierten Blockadefinger des Morgens sich in eine organische 2.-Welle Aktionseinheit aufheben, Angst und Lähmung durchbrechen, und dafür sorgen, dass die Polizei teilweise die Kontrolle über Gebiete von St.Pauli verliert.

Als das untergründige Thema der ganzen Protest-Woche erscheint die Demokratiefrage: Wer darf wo schlafen, essen, trinken, protestieren, sich den öffentlichen Raum aneignen? Eine Ausdrucksform der Aneignung ist die Einrichtung des »Arrivati-Parks« als öffentlicher Raum zu den Themen »Flucht, Migration und Urban Citizenship«. Hier sammeln sich am Freitagnachmittag verschiedene Spektren, unweit des Parks liefern sich insbesondere Jugendliche Scharmützel mit der Polizei. Die Polizei drängt die Jugendlichen immer wieder in Richtung Platz und greift mit Wasserwerfern und Schlagstöcken auch Unbeteiligte an.

Die Stimmung der Vortage erreicht ihren Höhepunkt: Willkürliche Polizeiangriffe korrelieren mit der Wut von Aktivist*innen und Anwohner*innen – gleichzeitig zeigt die Aktionsform der Jugendlichen, dass die symbolische Ordnung angeknackst ist. Die Barrikaden, die später gebaut und gehalten werden, verdeutlichen, dass das Gewaltmonopol des Staates in der Schanze temporär nicht mehr durchgesetzt werden kann. Es werden Läden von größeren Ketten geplündert und Barrikaden angezündet, die Lage wird unübersichtlich. Selbst die Tagesschau kommt allerdings zu einem wesentlich differenzierten Bild der Akteur*innenkonstellation als dem der »Mordbrenner« und »durchgeknallten Randalierer«: Autonome, »G20-Gegner*innen, Anwohner*innen, Vorstadt-Jugendliche, Krawalltourist*innenen und Partygänger*innen treffen aufeinander - und auf die Polizei.« Gewerbe und Geschäftebetreiber*innen der Schanze spiegeln das Bild des Aufständigen noch komplexer, wenn sie davon sprechen, dass gut organisierte Vermummte kleine Läden und Anwohner*innen vor Riot-Teilnehmer*innen schützen. Dass anders als bei den Riots in England 2011 fast ausschließlich große Ketten geplündert und keine Menschen durch den Riot verletzt wurden, ist wahrscheinlich auch Ausdruck von guter Verankerung der radikalen Linken im Schanzenviertel.

Auch wenn die Mischung aus Barrikaden (Infragestellung des staatlichen Gewaltmonopols), Plünderungen (Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums) und Sachschäden (Eigentumskritik) schließlich an sich keine progressive Dynamik darstellen müssen, so sind sie doch weit mehr als bloßer Krawall, eine genuin (vor-)politische Artikulation. Thomas Seibert spricht im Anschluss an Rancìere vom »Anteil der Anteillosen« am Gesellschaftlichen (und den Protesttagen). Dass diese Artikulation eher von links geschieht, Autos und nicht Geflüchteten-Unterkünfte angezündet werden, ist gut und nicht schlecht. Über die materielle Barrikade des kleinen Aufstands wird aber gleichzeitig auch eine größere symbolische Barrikade sichtbar, an der sich eine kommende Linke formieren kann. Dass es aus den Reihen der radikalen Linken kaum Distanzierungen gab und Jugend gegen G20 sich explizit vom »friedlichen Protest«, aber nicht irgendeiner Form von Gewalt distanziert(!), lässt darauf schließen, dass der Aufstand verstanden als Solidarität mit dem Hamburger Protest eine weit gefasste Linke zusammenbringen kann und nicht teilt.

III. Die Barrikade deuten

»Eine Häufung von Taten ergibt deshalb noch keine Strategie, weil es die Tat im Absoluten nicht gibt. Eine Tat ist nicht durch ihren eigenen Inhalt revolutionär, sondern indem Wirkungen aus ihr folgen. Die Situation bestimmt den Sinn einer Handlung, nicht die Absicht der Urheber.«

Unsichtbares Komitee, An unsere Freunde S. 113

Die symbolische Barrikade wird selbst von linken Kommentator*innen, die vorrangig auf den herrschenden Diskurs blicken und von einem homogenen und strategisch schlechten »Krawall« sprechen, in ihrer potentiell konstitutiven Wirkung anerkannt: »Es geht nicht nur um die ewige Regierungsfrage, um die Grenzen von Handlungsfähigkeit, um die Formen der Aktion, es geht um die Brücken, die noch nicht gebaut sind. Das ist der kommende Aufwand. Man wird ihn mit dem Aufstand von gestern nicht bewältigen. Aber vielleicht wird man dereinst sagen können, die Debatte über die Randale am Rande des G20-Gipfels hat mehr gebracht, als es zunächst den Anschein hatte.«

Ironischerweise nähern sie sich dem Unsichtbaren Komitee, deren Buch »Der Kommende Aufstand« mittlerweile scheinbar als Chiffre für strategielose Randale dient, mehr an, als sie es mit der Gegenüberstellung von ›gestrigem Aufstand‹ und ›kommenden Aufwand‹ meinen. Das Komitee hatte 2015 im »An unsere Freunde«-Buch schon geschrieben, dass das Wesentliche eines Aufstandes in den Qualitäten der Verbindungen liegt, die er ermöglicht und nicht in der Quantität der Sachbeschädigungen:

»Der Grad an ›Gewalt‹ einer Bewegung sagt nichts über ihre revolutionäre Entschlossenheit aus. Die ›Radikalität‹ einer Demonstration misst sich nicht an der Zahl der eingeschlagenen Schaufenster. Oder besser gesagt doch, aber dann muss man das Kriterium der ›Radikalität‹ denen überlassen, denen es darum geht, politische Phänomene zu messen und sie auf ihre skelettartige Moralskala zu reduzieren.«

Unsichtbares Komitee, An unsere Freunde S. 111

Wenn wir davon ausgehen, dass die Qualität eines Aufstands sich gerade in den Brücken ausdrückt, die er zwischen heterogenen Kräften bauen kann, und den Diskussionen, die er eröffnet, kann der Riot dann en bloc als »strategisch schlecht« bezeichnet werden, obwohl ohne ihn die Diskussion über einen »kommenden Aufwand« und die zu bauenden Brücken sich gar nicht in dieser Form gestellt hätte?

Die Situation, so exzeptionell sie im rebellischen Hamburg der Gipfelproteste auch gewesen sein mag, hat die aufständige Erfahrung der letzten Jahre auch ins Zentrum des deutsch-europäischen »Empires« gebracht. In Deutschland gab es beispielsweise nach der Krise von 2008 noch keine massenhaften Plünderungen – egal wie diese Aktionsform moralisch und strategisch eingeschätzt wird, so ist es doch eine neue Qualität. Gleichzeitig war die Militanz in Qualität und Quantität viel geringer als beispielsweise bei der Bewegung in Frankreich gegen das Loi Travail im letzten Jahr. »Die Barrikade« im Post-Krisengewinner*innen-Deutschland ist im europäischen Rahmen eine kleine und noch unvertraute.

Sie gehört außerdem nicht nur und vielleicht auch nicht primär Linken, sondern verbindet subalternisierte Positionen. Wahrscheinlich bräuchte es für Teile der Linken in Deutschland einen französischen Soziologen, der in einer autobiographischen Erzählung »Rückkehr ins Banlieu« auf die vergessene migrantische Arbeiter*innenklasse aufmerksam macht, bevor das Aufbegehren von migrantischen Jugendlichen im kleinen Hamburger Aufstand ernst genommen würde. Es ist in jeden Fall sicherlich falsch, diesbezüglich auf das Scheitern der »linken Strategie des Aufstands« in den Pariser Banlieues hinzuweisen. Ganz so, als habe es sich bei den Aufständen in den Banlieues um eine linke Strategie gehandelt und nicht um ein Ereignis der Subalternen, die bis dahin auch von Linken nicht gehört wurden. »Die Barrikade« ist für Linke dann auch ein Ort, um zuzuhören und auch Protestformen zur Kenntnis zu nehmen, die »uns« strategisch falsch erscheinen. Gleichzeitig ist sie auch ein Ort der Kritik und in Hamburg ganz unmittelbar dann, wenn gut organisierte Vermummte Anwohner*innen und kleine Läden vor Riot-Teilnehmer*innen schützen. Die allgemeinen antilinken Ressentiments nach Hamburg sind vielleicht vergleichbar mit dem (antimuslimischen) Rassismus nach der Kölner Silvesternacht. Der »Volkszorn«, die Aufrufe zur Denunziation oder Todesstrafe sind Ausdruck der allgemeinen Angespanntheit und Verrohung der Gesellschaft. Niemand sollte sich deswegen vor den anti-linken Ressentiments erschrecken lassen oder denken, dass die Menschen, die jetzt fordern, dass Polizist*innen mit scharfer Munition auf Demonstrant*innen schießen sollen, ohne den Riot von Hamburg auf unserer Seite der Barrikade stehen würden. »Die Barrikade« muss gegen diese Menschen viel eher entschieden und offensiv verteidigt werden. Die diskursive Lage nach Hamburg macht, mehr als sie »neu« wäre, eher das latente Hegemonieverhältnis in der BRD deutlich und welche Folgen diese für alle Minderheiten haben kann. Gleichzeitig ist der Diskurs unterhalb der obersten Aufmerksamkeitsschwelle wesentlich differenzierter und insbesondere die Polizeigewalt wird von fast allen liberalen Medien thematisiert. In Reaktion auf die Eskalation der Polizei bei der W2Hell-Demonstration plädierte Boris Pistorius (SPD), Innenminister von Niedersachsen, nach Hamburg für eine »Lockerung des Vermummungsverbots«. Die Deutung »der Barrikade« ist wesentlich offen und gegenüber den »Umfallern«, die angesichts der brennenden Barrikaden autoritäre Sicherheitssehnsüchte erkennen lassen, gibt es ebenso Menschen, die gerade dann aufstehen und sich positionieren. In der Mitteldeutschen Zeitung wird in Anlehnung an Brecht gefragt: »Was ist das Anzünden eines Autos gegen das Betreiben einer Autofabrik?«. Der Raum des Sagbaren hat sich durch Hamburg erweitert, auch wenn es vielleicht noch und gerade nicht die traditionellen Akteur*innen der politischen Linken sind, die ihn nutzen.

IV. Die Aufgaben einer historischen Partei diskutieren

»Und all diese Verbindungen, all diese Gespräche, all diese Freundschaften verweben sich im wechselseitigen Austausch zu einer historischen Partei, die weltweit am Werk ist – ›unsere Partei‹, wie Marx sagte.«

Unsichtbares Komitee, An unsere Freunde, S. 12

Der Aufstand von Hamburg ist gleichzeitig Ausdruck der Schwäche der Linken und ein Anzeichen von einer kommenden Reformierung. Die Schwäche besteht darin, dass der Riot im engeren Sinn in der Lage ist, alle linken Inhalte zu überlagern. Machen wir uns an dieser Stelle allerdings nichts vor: auch ohne Riot wären die inhaltlichen Positionen im hegemonialen Diskurs weitestgehend unberücksichtigt geblieben. Es fehlt der Linken in Deutschland diskursiv an einer klaren Artikulation eines gesellschaftlich tragfähigen Antagonismus und weitergehend glaubhafter Alternativen. Die Geflüchteten-Bewegungen, die Willkommensinitiativen und antirassistischen und »Recht auf Stadt«-Bewegungen sind beispielsweise Ausdruck beeindruckender Solidarität und kommender Alternativen, gleichzeitig aber in der Formulierung eines politischen Projekts im hegemonialen Diskurs immer noch nur kaum präsent.

Der zentrale politische Antagonismus stellt sich derzeit in Deutschland – und auch im Treffen der G20 – zwischen autoritärerem Neoliberalismus und nationalistischen Autoritarismus dar. Zumindest ansatzweise wurde dieser Konstellation in Hamburg aber ein linker Antagonismus von unten entgegengesetzt. Die offene Frage ist, inwieweit der Riot dazu beigetragen hat. Die Genoss*innen von Ums Ganze sehen gerade in der Zuspitzung des Protests im Riot einen entscheidenden Faktor, da damit die Aufstände der europäischen Peripherie auch zurück ins anscheinend vernünftige Zentrum des deutsch-europäischen Empires getragen wurden: »Durch die Vielfältigkeit von Aktionsformen und Spektren ist es zumindest kurzzeitig gelungen, gegen den inszenierten Showdown zwischen autoritärem Neoliberalismus und nationalistischem Rollback endlich wieder die dritte Option eines grenzübergreifenden Widerspruchs auf die Tagesordnung der Weltöffentlichkeit zu setzen. Das ist mehr als ein taktischer Sieg, denn damit wurde zugleich die heuchlerische Inszenierung des Exportweltmeisters Deutschland als „Hort von Vernunft und Demokratie“ durchkreuzt.«

Wer dieser Argumentation zwar zustimmt, aber glaubt, dass es den Bewegungen in Deutschland schaden würde, weil diese über einen »Linksextremismus-Randale«-Vorwurf diskreditiert würden, sollte unbedingt an die Demonstration von Samstag erinnert werden. Nach dem Riot und Bildern von extremer Polizeigewalt sowie Spezialeinheiten mit Maschinenpistolen und trotz lange vorbereiteter medialer und militärischer Spaltungsversuche waren fast 80.000 Menschen auf der Straße, die linken und radikalen Protest mit-legitimiert und sich von den Polizeipräsens genervt, aber nicht eingeschüchtert gezeigt zeigten. Das ist beeindruckend, nicht nur in der Quantität, sondern auch als Qualität – nämlich in Solidarität mit diesen Protesten auch in seinen Problematiken, Fehlern und Widersprüchen. Wäre die »Hamburg-Haltung«-Demonstration der senatsnahen Akteur*innen, deren Aufruf schließlich nur 4.000 Menschen folgten, wesentlich größer und die »grenzenlose Solidarität statt G20« wesentlich kleiner gewesen, wäre von einer Niederlage zu sprechen. Wenn die brennende Barrikade nicht durch eine symbolische Barrikade gedeckt würde, wäre der Protest gescheitert.

Die Schwäche der (radikalen) Linken zeigt sich dabei in einer zweiten Weise, und zwar, dass es im Bereich zwischen zivilem Ungehorsam und Straßenschlachten noch kaum Aktionsformen gibt, bei denen sich die symbolische Barrikade materialisieren kann. Dafür wäre es wichtig, eine Vorstellung davon zu bekommen, was es heißen könnte, materielle Siege auf der Straße zu erringen und welche auch militanten Aktionsformen dafür vermittelbar scheinen. Vielleicht hätte sich die aufständige Situation im Schanzenviertel auch in eine produktivere Dynamik umsetzen können, als es mit den tendenziell destruktiven Tendenzen des Riot dann geschehen ist. So gilt es eher genau im Sinne der Anwohnerin auf der Stadtteilversammlung Manöverkritik zu üben, darüber wann und an welcher Stelle die Straßen für unsere Bewegungen günstig sind, um Barrikaden anzuzünden, und wo nicht. Dabei ist es mit Sicherheit richtig, dass das primäre Ziel der Barrikade politisch und strategisch nicht die Auseinandersetzung mit einer hochgerüsteten und mit neuer Militärtaktik operierender Polizei sein kann.

Eine Schwierigkeit auf dem Weg zu einer radikalen Praxis, die materiell Situationen öffnet, ist, dass es angesichts der gesellschaftlichen Situation eigentlich eine wesentlich militantere Praxis bräuchte als sie vermittelbar erscheint. In einer Situation, in der im Durchschnitt jeden Tag Geflüchteten-Unterkünfte angegriffen werden und Menschen im Mittelmeer sterben, müssten beispielsweise die Aktionen gegen Grenzregime und Rassismus deutlich militanter sein. Vielleicht würde es diesbezüglich einer Linken in Perspektive eines historischen Materialismus dabei helfen, vom Kopf auf die Füße zu kommen, die (virtuell) vorhandenen materiellen Praxen mehr zum Ausgangspunkt ihrer Kritik zu machen, und die vermeintliche oder angenommen Unvermittelbarkeit nicht zu überschätzen. Hegemoniekämpfe sind auch wesentlich materielle Kämpfe und eine vervielfältigbare materielle Praxis die beste Grundlage für eine gute Symbolpolitik.

Eine zweite Schwierigkeit besteht darin, dass angesichts der europäischen Konstellation und der Dringlichkeit, die Merkel-Schäuble-Position abzusetzen, die Linke in Deutschland eine besondere Verantwortung trägt. Diesbezüglich hatte das Institut für Solidarische Moderne einen Vorschlag gemacht. Es gelte, in den Wahlkampf zu intervenieren und von einer eigenständigen »vierten Position« aus einen Lagerwahlkampf anzustoßen, der SPD, Grüne und Linke eine (progressive) Positionierung abverlangt: »Treiben wir SPD, Grüne und LINKE deshalb in genau das Entweder-Oder, das sie je auf ihre Weise scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Geben wir ihnen damit eine letzte Chance. Tun wir das in aktiver Weise und aus einer eigenständigen ›vierten Position‹ heraus. Machen wir ihnen klar, dass wir sie nicht mehr als ›kleineres Übel‹ gewähren lassen werden.« Die Relevanz dieses Vorschlags für eine gesellschaftliche Linke bleibt über diesen September und die Planlosigkeit des Wahlkampfs der SPD und ihres Spitzenkandidaten (der gerade entdeckt zu haben glaubt, dass er vor dem abermaligen Ankommen von Hunderttausenden Geflüchteten aus wahlkampftaktischen Gründen warnen müsste) bestehen. Gezeigt hat sich allerdings, dass die Hoffnung in ein Regierungsereignis, ohne dass die eigenständige »vierte Position« sich selbst konstituiert, weitestgehend unbegründet bleibt.

Gerade die Formierung dieser vierten Position als unhintergehbaren Ausgangspunkt für die Formierung eines solidarischen Blocks dieser Gesellschaft, scheint weiterhin die dringliche Aufgabe der Zeit. Dabei wird es auch um die Konstitution einer Partei gehen, die wesentlich keine Wahlpartei ist; die aus heterogenen Akteur*innen und Logiken besteht die sich gemeinsam verändern, aber auch divers bleiben können; die sich an der geteilten »Barrikade« verdichten können und zur Parteinahme einladen. Hamburg war diesbezüglich nur das offenkundigste und wirksamste Beispiel. Der Adressat dieser »Partei« ist immer noch »die« Klasse, aber nicht im traditionellen Sinn, sondern einer Klasse, die sich durch objektive Stellungen in globalen Reproduktionsprozessen wie durch subjektive Kampferfahrungen in Bewegung selbst bestimmt.

David Doell studiert Philosophie mit Schwerpunkt Kritik des Postmarxismus und ist aktiv bei der Interventionistischen Linken.

Bild von Iven Einszehn »Die freie Stadt der Zukunft gehört keiner Nation an«, 5. Juli 2017