Für Ereignisse, die den Alltag unterbrechen

Ein Plädoyer für Ereignisse, die den Alltag unterbrechen und die fortwährenden Kämpfe für einen Moment stoppen. Für ungehorsame Massenaktionen und das Gefühl, Teil einer großen Bewegung zu sein, die sich selbst ermächtigt, über Grenzen hinwegsetzt und die radikale Linke in Zeiten von liberalem Kapitalismus und globalem Rechtsruck sichtbar macht. Kurz: Warum wir in Hamburg zusammenkommen.

Für Ereignisse, die den Alltag unterbrechen

»Meine Faszination für ungehorsame Massenaktionen fand ich auf den Feldern um Heiligendamm. Es war das Ereignis, das sich in die Biographie meiner Generation einschrieb. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, Teil einer globalen Bewegung von unten zu sein, die unwiderstehlich und unaufhaltbar ist. Später wurden Castor Schottern, Ende Gelände oder Blockupy zu Momenten, in denen für mich die Revolution greifbar wurde.« Emily Laquer war 2007 20 Jahre alt.

»Wenn es nicht die großen Ereignisse gäbe, in denen Menschen von überall her zusammenkommen, den kapitalistischen Alltag unterbrechen, sich über Grenzen hinwegsetzen und selbst ermächtigen, in denen Gegenmacht sinnlich erfahrbar wird – woher sollte dann die Kraft und die Ausdauer für lange Jahre des Aktivismus kommen? Das war für mich Heiligendamm ebenso wie die praktische Solidarität im summer of migration – und das wird Hamburg 2017 sein.«

Christoph Kleine war schon 40, als er 2007 Block G8 mit organisiert hat.

Die G20-Proteste werden riesig. Sie könnten, in ihrer Verzahnung aus Camps, Gegengipfel, Großdemonstration und Blockaden eines der größten Bewegungsereignisse der letzten Jahrzehnte werden. Trotz dieser Erwartung werden an das NoG20-Projekt viele kritische Fragen gestellt: Ist es nur ein Szene-Event ohne Verankerung, losgelöst von den Kämpfen des Alltags, die die Interessen von Menschen tatsächlich berühren? Gibt es eigentlich eine politische Frage, einen gesellschaftlichen Konflikt, der in Hamburg exemplarisch zugespitzt wird? Was wird, was soll bleiben von der Mobilisierung – oder ist am 9. Juli alles wieder vorbei?

10 Jahre nach Block G8 ist Block G20

Nicht zufällig beginnen wir diesen Text mit unseren Erinnerungen an den letzten großen Gipfelprotest der Bundesrepublik und dem Verweis auf die biografische Bedeutung von Heiligendamm für eine ganze Generation von Aktivist*innen, die bis heute nachwirkt. Niemand erinnert sich mehr an die leeren Versprechungen der Herrschenden, die hohlen Bekenntnisse zum Klimaschutz oder zur Hilfe für Afrika. Die konkrete Agenda des Gipfels der Macht war 2007 so bedeutungslos wie sie 2017 in Hamburg wieder sein wird.

Von Heiligendamm geblieben ist die kollektive Erfahrung der Straße in all ihrer Widersprüchlichkeit zwischen dem schwarzen Block von Rostock und den bunten Fingern in den sommerlichen Feldern rund um Heiligendamm. Wir haben körperlich gespürt, dass wir Viele sind, Teil einer globalen Bewegung, der unstillbaren Sehnsucht nach einem anderen Leben jenseits der organisierten Traurigkeit des Kapitalismus.

Die G8-Proteste waren nicht nur die Geburtsstunde der Interventionistischen Linken wie wir sie heute kennen, sondern eine Neukonfigurierung unserer politischen Praxis, strategischer Bündnisarbeit und taktischer Planung zugleich. Wir alle sind Generation Heiligendamm. Und doch ist die Debatte um die scheinbar unvermeidliche Konkurrenz von Basis und Massenmobilisierungen mindestens so alt wie die iL selbst. Wir sind angetreten, um die selbstgewählte Marginalität der radikalen Linken, die Isolation der Szene und unsere lokale Beschränktheit zurücklassen. Wir wollen uns gesellschaftlich verankern und im Sturm der Großwetterlange an Bedeutung zu gewinnen. Der Anspruch, auf dem Radar des politischen Koordinatensystems wahrgenommen zu werden, war die Aufgabe der iL im Jahr 2007 und es ist es noch immer.

Sichtbarkeit der radikalen Linken

Gesellschaftliche Verankerung heißt, als radikale Linke überall dort erkenn- und ansprechbar zu werden, wo gesellschaftliche Konflikte ausgetragen werden: In den Stadtteilen, in den Mieter*inneninitiativen, in den Betrieben, in der praktischen Solidarität mit Geflüchteten usw. Deswegen müssen wir uns beteiligen an Recht-auf-Stadt-Netzwerken, an der Care Revolution oder der Unterstützung von Streiks in Krankenhäusern oder bei Amazon. Es gibt aber viel mehr Betriebe, Nachbarschaftsinitiativen und lokale Kämpfe, als dass wir uns allen anschließen könnten. Noch können wir uns nicht mit allen zusammentun, die mehr wollen, die sich missachtet fühlen und die ungeduldig sind. Wie Schiffe in der Nacht ziehen wir aneinander vorbei, ohne voneinander zu wissen. Deswegen muss unser Engagement punktuell und exemplarisch bleiben. Solange wir (noch) nicht in jedem Kiez und jedem Betrieb sichtbar sind, hilft es, uns in der Tagesschau zu finden.

Um uns nicht im unendlichen Ozean der Alltagskämpfe zu verlieren, müssen wir Positionslichter setzten. Es braucht die Ereignisse, die den Alltag unterbrechen. Wir schaffen Orte, wo wir unsere Kräfte sammeln und eine bundesweite, eine europäische, eine globale Perspektive eröffnen. Denn aus der Auseinandersetzung um den eigenen Miet- oder Arbeitsvertrag entsteht noch kein Bewusstsein über die Notwendigkeit und Möglichkeit des großen Bruchs. Die Basiskämpfe sind Teil eines historischen und globalen Aufstands. Sie müssen wissen, dass sie nicht alleine sind.

Die Welt von 2017 ist nicht mehr die von 2007

Der kapitalistische Wahnsinn hat sich noch einmal weitergedreht und verschärft. Die Krise des Neoliberalismus und die Krise der Repräsentation hat nur kurzzeitig linken Bewegungen Auftrieb verliehen. Die Hoffnungen des Arabischen Frühlings, der Occupy-Bewegung, der Platzbesetzungen in Madrid und Athen sind zerplatzt. Der Versuch der griechischen Linksregierung, dem deutschen Spardiktat die Stirn zu bieten, endete in der Kollaboration mit der Troika und dem europäischen Grenzregime. Auf den Sommer der Migration folgte der Winter rassistischer Gewalt, rechter Wahlerfolge, einer beispiellosen Verschärfung des Asylrechts und einer neuen Abschottungspolitik, während an der Außengrenze Europas die Menschen zu Tausenden ertrinken. Der Rechtsruck ist ein globales Phänomen und die liberale bürgerliche Demokratie nicht mehr das Leitbild der kapitalistischen Zentren. Davon legt die Liste der autoritären Führer, die sich im Juli in Hamburg versammeln wollen, deutlich Zeugnis ab. Der Kapitalismus stößt offensichtlich sowohl an die inneren Grenzen der Kapitalverwertung wie an die äußeren Grenzen der ökologischen Tragfähigkeit des Planeten. Nichts fehlt so sehr wie die Hoffnung, dass ein ganz anderes Leben, eine ganz andere Welt doch noch möglich ist.

Dabei ist die Resignation nur die eine Gefahr, der wir begegnen müssen. Die andere besteht darin, sich aus Furcht vor dem Rechtsruck an den liberalen Kapitalismus zu ketten, auf »Mitte-Links-Bündnisse« oder andere Formen linker Regierungsbeteiligung zu schielen und dabei außer Acht zu lassen, dass die rassistischen und autoritären Mobilisierungen eine Folge, eine Art reaktionärer Reflex auf die Ideen- und Zukunftslosigkeit des Neoliberalismus sind.

Hoffnung entsteht aus Rebellion

Wir schrieben »Hoffnung entsteht aus Rebellion« und genau das ist es, wofür wir in Hamburg zusammenkommen: Den dritten Pol auf den Straßen sichtbar zu machen, um unseren entschlossenen Widerstand deutlich zu machen - sowohl gegen die Diktatur Erdogans, den Sexismus Trumps und die Homophobie Putins wie auch gegen die kalte Sachverwalterlogik des Kapitals, wie sie von Merkel und Macron repräsentiert wird. Dagegen organisieren wir die grenzenlose Solidarität. Es braucht ein Lebenszeichen eines grundsätzlichen, linken Widerspruchs, das aus den lokalen Kämpfen allein nicht erwachsen kann. So wie das Beispiel von Rojava, der Women’s March in Washington oder der Generalstreik in Brasilien uns ermutigen, kann auch von Hamburg ein Zeichen ausgehen, das lokal wie global verstanden wird. Zu glauben, dass die Menschen nur an ihren unmittelbaren Bedürfnissen kleben und nicht genug Träume und Militanz für die Rebellion besäßen, ist ein Irrtum. Häufig sind wir überrascht von der Entschlossenheit, die Menschen mitbringen, wenn wir sie einladen.

Das Gefühl der Unzulänglichkeit, die Verzweiflung, nicht genug oder nicht das Richtige zu tun, ist untrennbar damit verbunden, Revolutionär*in sein und werden zu wollen. Wer Geschichte schreiben will, muss hungrig und sehnsüchtig bleiben und immer daran glauben, dass das Unmögliche möglich ist. Die Erfahrung, dass wir Viele sind und gemeinsam handlungsfähig, gibt uns Hoffnung: Der Moment, als die Polizei in Heiligendamm durchfunkt, dass wir zu viele sind, um uns aufzuhalten. Als im Wendland den Bullen das Pfefferspray ausgeht. Das Wissen, dass wir nicht alleine sind mit unseren Fragen und Sehnsüchten. Wir mobilisieren zur Rebellion, damit wir an die Revolution glauben können. Generation Hamburg, eben.

Christoph Kleine sagt von sich, er sei 1985 in die Interventionistische Linke eingetreten - tatsächlich in die Vor-Vorläufergruppe. Er lebt in Lübeck und verdient sein Geld mit Spielwaren.

Emily Laquer ist Bummelstudentin und Pressesprecherin der Interventionistischen Linken für die G20 Proteste. Sie war schon in drei verschiedenen iL-Ortsgruppen aktiv. Seit Heiligendamm kann sie sich kein anderes Leben vorstellen, als das in einer kämpfenden Bewegung.

Bild: Frankfurt, 18. März 2015, Commune of Europe