von Feminismus tags Internationalismus Feminismus Transformation Datum Aug 2022
zuAm 4. September wird in Chile über die neue Verfassung abgestimmt. Mit Javiera Manzi, Soziologin und feministische Aktivistin, sprechen wir über die Potenziale und Grenzen des Verfassungsprozesses und über die feministische Streikbewegung.
Die gegenwärtige Verfassung Chiles stammt aus der Zeit der Diktatur unter General Augusto Pinochet. Darin verankert ist ein neoliberales Finanz- und Politikmodell, das den Sozialstaat auf ein Minimum reduziert und soziale Infrastruktur weitestgehend dem privaten Sektor überlässt. Im Herbst 2019 entzündete sich nach der Erhöhung der Preise für den öffentlichen Nahverkehr eine soziale Revolte, die über mehrere Monate andauerte und landesweite Massenproteste nach sich zog. Der politische Kitt der Revolte lag in der Forderung, den Neoliberalismus zu beenden. »Der Neoliberalismus wurde in Chile geboren und wird in Chile sterben«, war die Parole der Revolte. Der Prozess um eine neue Verfassung ist somit die Errungenschaft sozialer Bewegungen.
2021 wurde eine Verfassungsgebende Versammlung demokratisch gewählt. Dieser Versammlung gehörten Vertreter*innen der Umwelt- und feministischen Bewegungen an, von indigenen Gemeinschaften, sowie Akteur*innen aus der vorausgegangen Protestbewegung. Den Vertreter*innen ist es unter anderem gelungen ein Recht auf Sorge, sowie Rechte für Klima und Umwelt mit Verfassungsrang festzuschreiben. Unter Wahlpflicht entscheiden nun am 4. September die Menschen in Chile, ob die Verfassung angenommen oder abgelehnt wird. Unsere Gesprächspartnerin Javiera Manzi ist in feministischen Kämpfen und der Kampagne für ein „Ja“ zur neuen Verfassung im Abschlussplebiszit aktiv.
Debattenblog: In Chile bereitet ihr gerade das große Referendum am 4. September für den neuen Verfassungsentwurf vor. Wie kam es dazu? Wie hast du die letzten Monate erlebt?
Javiera: Aktuell sind wir Teil des Verfassungsprozesses, der mit einer sozialen Revolte und dem Aufstand am 18.Oktober 2019 begonnen hat. Deswegen ist es mir wichtig ,dass wir uns in Erinnerung rufen,dass dieser Prozess mit massiven sozialen Mobilisierungen auf der Straße begann, und seinen Ursprung nicht im Parlament hat. Unsere Bewegung hatte keine Anführer*innen oder Repräsentant*innen, sondern war ein spontaner Ausbruch gegen den Neoliberalismus und die Prekarisierung des Lebens in Chile. Nun steht der verfassungsgebende Prozess, kurz vor seinem Ende. Am 4. September werden wir in Chile über den endgültigen Verfassungsentwurf abstimmen. All das ist jetzt schon ein großer Erfolg für die sozialen Bewegungen und die chilenische Linke. Wir haben das politische System verändert und konnten viele soziale Rechte in der Verfassung verankern, etwa in Bezug auf den Schutz der Umwelt und die Rechte der Natur, insbesondere aber auch durch feministische Forderungen und Veränderungen im Justizsystem. Wir hoffen, dass wir die Mobilisierungen am 4. September mit einer massiven Zustimmung zur Verfassung abschließen können.
Wie kam es dazu, dass ihr euch dafür entschieden habt, eine neue Verfassung zu schreiben? Und was ist die Rolle sozialer Bewegungen in einem solchen Prozess?
Ich bin Teil der Coordinadora 8M. Wir organisieren seit 2018 jeden 8. März einen feministischen Streik und kämpfen gegen die Prekarisierung des Lebens. Für uns war es sehr wichtig zu verstehen, dass der verfassungsgebende Prozess eine historische Chance ist, die autoritäre und neoliberale institutionelle Struktur in Chile zu zerschlagen. Als feministische Bewegung wollen wir nicht nur als ein Mitglied der verfassungsgebenden Versammlung integriert werden, sondern es ist uns zugleich wichtig, die sozialen Proteste während des gesamten Prozesses aufrechtzuerhalten. Auf dem Weg zur neuen Verfassung müssen wir mit einem Fuß in der Institution und mit dem anderen auf der Straße stehen. Das ist unsere Hauptstrategie: Wir sind Teil des institutionellen Prozesses und wissen gleichzeitig um die Notwendigkeit, dass eine radikale Demokratie nicht nur die 145 Mitglieder der Versammlung braucht, sondern auch auf die Forderungen von Millionen von Menschen reagieren und es uns allen ermöglichen muss teilzuhaben. Vielleicht geht es darum, ständig neue Verbindungen und Brücken zu bauen und damit bleibende Löcher und Risse in die Mauern der Institutionen zu schlagen.
Welche feministischen Forderungen habt ihr in den Verfassungsprozess eingebracht? Und welche Rolle spielte dabei die Politisierung von Alltagserfahrungen?
Seit 2019 formulieren wir unsere feministischen Forderungen als Kritik an neoliberalen Strukturen und der Gesellschaft. Geschlechtergewalt können wir nur durch eine strukturelle Veränderung bekämpfen. Feminismus ist deshalb keine einzelne Agenda, sondern eine transversale Perspektive der Transformation, die zugleich antikapitalistisch, antiextraktivistisch und antirassistisch sein muss. Nur so können wir geschlechtsspezifische Gewalt abschaffen. Wir alle erleben Gewalt in sehr unterschiedlichen Formen: Sie kann zwischenmenschlich passieren, aber auch auf institutioneller, wirtschaftlicher oder kultureller Ebene stattfinden. Wenn wir von der Prekarität des Lebens sprechen, meinen wir damit auch, dass wir in unserem alltäglichen Leben mit all diesen verschiedenen Formen von Gewalt zu kämpfen haben. Wir müssen uns fragen: Wie können wir all diese miteinander verknüpften Formen der Unterdrückung gemeinsam überwinden? Wir müssen den Kampf um Wohnraum mit dem Thema der Schulden, der Migration, der Bildung, der Gesundheitsversorgung und der reproduktiven Gerechtigkeit verbinden. Der Neoliberalismus regiert über Fragmentierung und Spaltung. Er trennt unsere Erfahrungen voneinander. Das müssen wir sichtbar machen! Wir müssen über das Leben als Ganzes reden.
Wie habt ihr ausgehend von dieser Analyse Kämpfe miteinander verbunden? Welche Allianzen habt ihr gegründet, wo war es aber auch schwierig zusammenzukommen?
Ich würde sagen, dass der Prozess der Massenpolitisierung der letzten Jahre auch eine neue politische Subjektivität und einen neuen Feminismus hervorbringt, der von unten wächst und Frauen mitnimmt, die sich davor nicht unbedingt als Feminist*innen verstanden haben und die aus Kämpfen um Wohnraum, Gewerkschaften oder Umweltkämpfen kommen. Inzwischen verstehen wir all diese Kämpfe als Teil eines breiteren politischen Veränderungsprozesses. Und in jedem einzelnen Kampf erkennen wir auch eine feministische Dringlichkeit. Wir sind dabei, ein neues politisches Band zu knüpfen, eine neue Form des "Wir" zu finden. Vielleicht können wir uns sogar als Vorkämpfer*innen der Klassenkämpfe bezeichnen.
Kannst du das konkreter beschreiben? Was meinst du, wenn du von dem Hervorbringen neuer Subjektivitäten sprichst?
Mit den Protesten seit 2019 haben wir etwas erlebt, das sich sehr von der Tradition unserer Linken in Chile unterscheidet. Die Linke hat so viele Niederlagen erlitten, nicht nur aber vor allem durch die Jahre der Diktatur. Danach hatten wir mehr als 30 Jahre unterschiedliche neoliberale Regierungen - darunter einige, die sich als links bezeichneten, was sie natürlich nicht waren. Alles, was darüber hinausging, blieb in einer Minderheit und ohne Potenzial für einen tatsächlichen Wandel. Was wir heute erleben, ist ein eine Veränderung, die zugleich radikal und popular, also massenbasiert, ist. Auf einmal können die Leute sich vorstellen, eine alternative Gesellschaft zu bilden, und sie haben das Vertrauen in eine reale Veränderung. Das ist der wichtigste Unterschied. In dieser Macht von unten liegt unsere Stärke. Vor dem großen Generalstreik, den wir 2019 organisiert haben, hat niemand an uns geglaubt. Aber wir haben es geschafft! Seitdem erleben wir die größte Mobilisierung seit dem Ende der Diktatur.
In der neuen Verfassung sind viele Forderungen aus den sozialen Bewegungen enthalten, wie du zu Beginn erklärt hast. Wo siehst Du besondere Herausforderungen in der Implementierung der Verfassung, falls am 4. September eine Mehrheit für das Apruebo stimmt? Wo siehst du auch politische Risiken für soziale Bewegungen und linke Politik?
Das Risiko ist hoch! All die Erwartungen, die in dem Verlangen nach Veränderung liegen, bedeuten eine sehr große Verantwortung. Denn wenn wir siegen und diese Verfassung verabschieden, geht der Kampf weiter. Wir wissen, dass wir uns nicht auf die politischen Institutionen verlassen können, die die Verfassung umsetzen. Also müssen wir weiterhin soziale Proteste auf der Straße organisieren, um Druck auf die Umsetzung unserer zukünftigen Verfassung auszuüben. Außerdem müssen wir entscheiden, wie wir innerhalb der politischen Institutionen kämpfen. Dafür brauchen wir eine plurinationale, paritätische Zusammensetzung der Abgeordneten.
Wir haben uns bewusst dazu entschieden, in die Institutionen zu gehen. Und jetzt müssen wir uns wirklich gut überlegen, wie eine Bewegung innerhalb und außerhalb der Institutionen funktionieren kann. Eine der zentralen Fragen ist also, wie wir Handlungsmöglichkeiten unabhängig von den Institutionen entwickeln können und den Druck auf der Straße aufrecht erhalten.
In Debatten um den feministischen Streik stellen wir in unseren politischen Kontexten immer wieder fest, dass es schwer ist, gemeinsam eine Praxis zu finden, die über Proteste auf der Straße hinausgeht. Was bedeutet für Dich das Konzept des Streiks?
Wir verstehen den feministischen Streik als ein Instrument, um das alltägliche Leben und die Arbeit zu unterbrechen. Wir wollen nicht, dass Männer uns oder unsere Arbeit ersetzen. Wir wollen, dass alles still steht. Dafür müssen alle Menschen streiken, nicht nur Frauen. Damit unterscheiden wir uns vom feministischen Streik, wie er zB in Argentinien organisiert wird. In dem Versuch einen feministischen Generalstreik zu organisieren werden wir jedes Jahr ein bisschen besser. Dafür gehen wir auch strategische Allianzen ein, zum Beispiel mit mit Gewerkschaften aus dem Pflegesektor und aus dem Bildungsbereich oder mit Frauen, die als Hausangestellte arbeiten und mit Menschen, die um Wohnraum kämpfen.Die einen legen in den Fabriken die Arbeit nieder, die anderen bauen Barrikaden. Frauen und Queers präsentieren ihre Performances bei den Protesten auf den Straßen, außerdem gibt es Streiks in den Krankenhäusern. All diese Protestformen bilden als Ganzes den Streik. Ich denke das ist der zentrale Unterschied zu anderen Streikverständnissen. Denn wir verstehen den Streik nicht nur als etwas Symbolisches. Es geht uns um die materiellen Bedingungen.
Wie geht ihr mit der Frage der Sorgearbeit um? Wie können wir Sorgearbeit besteiken, wenn die Sorge um Kinder oder ältere Menschen nicht einfach unterbrochen werden kann, weil deren Leben davon abhängen?
Das ist eine gute Frage. Genau deswegen haben wir uns mit dem Streik von entlohnter Arbeit kritisch befasst, weil er ein limitiertes Verständnis davon vermittelt, wo und wie wir arbeiten. Denn wir arbeiten doch immer und vor allem auch da, wo wir leben. Sorgearbeit wird im feministischen Streik kollektiviert und aus den Kleinfamilien herausgeholt, um mit der Vorstellung zu brechen, dass sie nebenbei und aus Liebe geleistet wird. Für mich persönlich war das ein wichtiges Thema bei den Streiks.
Konkret können wir zum Beispiel an öffentlichen Plätzen kollektiv Sorgearbeit leisten und damit die Arbeit sichtbar machen, die normalerweise unsichtbar bleibt und so die Bedingungen problematisieren, unter denen Sorgearbeit sonst geleistet wird. Man kann auch am Fenster ein Transparent anbringen, sodass Menschen sehen, dass man den Streik unterstützt, auch wenn man nicht selbst auf die Straße gehen kann. Damit können wir anerkennen und sichtbar werden lassen, dass nicht alle Streikenden anwesend sind, vor allem nicht, wenn sie Sorgearbeit leisten müssen. Deswegen streikt aber niemand mehr oder weniger. All das sind kleine Gesten, die aber Teil des Streiks sind. Es geht darum, sich nicht isoliert zu fühlen.
Neben der Prozesshaftigkeit des feministischen Streiks, die du gerade erwähnt hast, und der Anerkennung verschiedener Protestformen, fokussiert ihr auch eine transnationale Idee des Streiks. Was bedeutet das?
Während in Polen Frauen und Queers gegen das Abtreibungsverbot auf die Straße gingen, protestierten gleichzeitig in Brasilien Frauen und Queers gegen Bolsonaro. Uns war klar: Da ist viel in Bewegung, da passiert was an verschiedenen Orten in der Welt. Der feministische Streik enthält die Idee, diese Orte miteinander zu verbinden und den Gedanken, dass wir alle auf unterschiedliche Weisen diese kollektive Kraft teilen und erfahren können. Ohne dieses Selbstbewusstsein hätten wir nie daran geglaubt, dass der feministische Streik funktionieren würde. Wir befinden uns also in einem Zyklus transnationaler feministischer Organisierung, wo es uns möglich ist, sehr verschiedene Orte wie Chile und Polen miteinander zu verbinden und darin ähnliche Erfahrungen zu sammeln.
Wir sehen, dass sich viel verändert. Vielleicht nicht global. Aber im Alltag verändert sich etwas. Das betrifft auch materielle Bedingungen. Hast du ein Beispiel, was der die Proteste in Chile und die feministischen Streiks bisher bewirkt haben? Was gibt dir Hoffnung?
Das merke ich in vielen kleinen Momenten. Heute können junge Mädchen andere Erfahrungen machen als ich in meiner Schulzeit. Vor ein paar Monaten gab es eine Demo von jungen Schüler*innen gegen sexualisierte Gewalt. Sie hatten keine Angst und das war so schön und inspirierend zu sehen! Sie waren so selbstbewusst und sicher in dem, was sie tun, und gleichzeitig total scharf in ihren Analysen des Bildungssystems oder der Straflosigkeit in ihren Schulen. Da dachte ich: „Okay, wir sehen hier nicht nur die Zukunft unserer soziale Kämpfe, sondern auch die Gegenwart.“ Es kommen Generationen feministischer Bewegungen nach und ich denke, da gibt es viele Verbindungen zu knüpfen. Wir können viel voneinander lernen. Außerdem denke ich an die Allianzen. Ich will Allianzen von unten aufbauen. Sie stehen im Zentrum der Bewegung, Allianzen mit indigenen Kämpfen, mit migrantischen Kämpfen. Für mich ist es wichtig zu beobachten, wie diese Bündnisse wachsen. Und zuletzt sind es auch die kleinen Veränderungen, die im Alltag stattfinden. Zum Beispiel denke ich daran, wie es sich anfühlt, ein Teil sozialer Proteste und Revolten zu sein. Oder Teil einer riesigen Asamblea [große, regelmäßige Versammlungen. Historisch zentrales Instrument sozialer Kämpfe in Chile, Anm. d. Red.] zu sein. Wir sind zwar nicht immer einer Meinung, dennoch ist klar, dass wir uns gemeinsam organisieren. Und das an Orten, an denen das soziale Gefüge vorher so porös und brüchig war. Das ist auch etwas, das sich sehr verändert hat.
Danke für das Gespräch, Javiera.
Javiera Manzi ist Soziologin und feministische Aktivistin der Coordinadora Feminista 8M. Lange war Javiera Sprecherin der Organisation, die jedes Jahr zahlreiche feministische Mobilisierungen und Versammlungen veranstaltet und als deren Vertreterin Alondra Carrillo in den Verfassungskonvent gewählt wurde. Derzeit arbeitet Javiera Manzi für Alondra Carrillo sowie an der Kampagne für ein „Ja“ zur neuen Verfassung im Abschlussplebiszit.
Bild: Leaves, Autonomous Design Group