Der Kampf gegen Femi(ni)zide


Strategische Interventionen in eine sich wandelnde Debatte

Die kritische Auseinandersetzung mit Femi(ni)ziden nimmt erfreulicherweise immer weiter zu. Welche Herausforderungen das mit sich bringt und warum queere und antirassistische Perspektiven auf geschlechtsspezifische Gewalt zentral sein müssen, diskutiert die Berliner Initiative #keinemehr in ihrem Debattenbeitrag.

Die Initiative #keinemehr (Berlin) hat sich 2017 gegründet, um ein größeres Bewusstsein für Femi(ni)zide (1) in Deutschland und ihre strukturellen Hintergründe zu schaffen. Wir wollen zeigen, dass Sexismus tötet, auch in Deutschland. Wir beobachten, dass sich der gesellschaftliche Diskurs zu geschlechtsspezifischer Gewalt und Femi(ni)ziden verändert hat: Die kritische Auseinandersetzung nimmt zu. Immer mehr Gruppen und Einzelpersonen arbeiten in diesem Kontext. Seit einiger Zeit finden beispielsweise am umbenannten Widerstandsplatz (2) im Berliner Stadtteil Wedding Mahnwachen statt, wenn ein Femi(ni)zid in Berlin bekannt wird; Vortragsreihen und Publikationen zum Thema werden zunehmend auch jenseits feministischer Kontexte rezipiert.

Das hat zur Folge, dass Begriffe und Konzepte einerseits geschärft werden. Andererseits findet eine Vereinnahmung statt und das Konzept Femi(ni)zid droht seinen gesellschaftskritischen Gehalt zu verlieren. Für uns bedeutet diese Entwicklung, den Erfolg feministischer Kämpfe in der Thematisierung geschlechtsspezifischer Gewalt anzuerkennen und gleichzeitig über die neuen Herausforderungen zu reflektieren. Es geht uns um eine politische Auseinandersetzung, in der wir unsere Praxis gegen Femi(ni)zide strategisch verorten. Wir möchten in diesem Debattenbeitrag fünf Punkte in der bestehenden Auseinandersetzung um Femi(ni)zide hervorheben.

Punkt 1: Vordenker*innen sichtbar machen

Ein Großteil unseres Wissens geht auf Errungenschaften feministischer Bewegungen zurück, die dieses Wissen erkämpft haben. In Deutschland hat vor allem die autonome Frauenbewegung der 1970er und 1980er Jahre eine politische Auseinandersetzung um geschlechtsspezifische Gewalt begonnen. Frauenhäuser und Beratungsstellen arbeiten seither kontinuierlich zu dem Thema. Viele der Konzepte, mit denen wir heute arbeiten, wie das des Femi(ni)zids, haben außerdem ihren Ursprung in den feministischen Bewegungen Lateinamerikas. Wenn wir uns darauf beziehen, dann mit dem Bewusstsein, dass die Realitäten der Gewalt in Deutschland andere sind und Wissen und Konzepte entsprechend angepasst werden müssen. Die Vordenker*innen und ihre Impulse müssen klar benannt werden, um nicht ein weiteres Mal koloniale Strukturen zu reproduzieren.

Punkt 2: Transfemi(ni)zide in Analyse und Praxis aufnehmen

Im Kontext unserer Öffentlichkeitsarbeit – vor allem bei Vorträgen und im digitalen Raum – nehmen wir eine zunehmende Queer- und insbesondere Transfeindlichkeit wahr. Sogenannte Radikale Feministinnen oder kurz TERFs (trans-exclusive radical feminists), aber auch »feministische« Organisationen bedienen sich der Debatte um Femi(ni)zide und geschlechtsspezifische Gewalt, um über die Definition von Männern als Tätern und Frauen als Opfer letztlich die Binarität von Geschlecht zu reproduzieren. Ein Beispiel dafür ist die Organisation Terre de Femme, die sich unter anderem gegen Femi(ni)zide stark macht. In ihrem Positionspapier erkennen sie allerdings die Selbstbestimmung von trans Menschen nicht an. Sie gehen sogar so weit, trans Menschen die Verantwortung für die Gewalt im binären Geschlechtersystem unserer Gesellschaft zuzuweisen. Eine solche Instrumentalisierung vermag nichts zum Abbau geschlechtsspezifischer Gewalt beizutragen, sondern befeuert auf gefährliche Weise die bereits vorhandene Gewalt.

Die Zurückweisung des bei der Geburt festgelegten Geschlechts ist Ausdruck von Selbstbestimmung über das eigene Leben und den eigenen Körper. Gerade diese geschlechtliche Selbstbestimmung ist es, die als Bedrohung der männlichen Vormachtstellung aufgefasst und mit Gewalt geahndet wird. Wer eine Frau ist, wie sie zu sein hat und wann sie eine Grenze überschreitet, wird dabei nicht von der betroffenen Person selbst, sondern von außen durch den Täter stellvertretend für die patriarchale Dominanzgesellschaft bestimmt. Hier wird eine für Femi(ni)zide grundlegende Struktur deutlich: Femi(ni)zide geschehen häufig dann, wenn eine FLINTA in den Augen des Täters die ihr zugeschriebene Rolle verlässt. Ihr Begehren nach Unabhängigkeit kann in der Äußerung eines Trennungswunsches ebenso wahrgenommen werden, wie im Streben nach ökonomischer Eigenständigkeit, oder dem Verlassen der eng gesteckten Grenzen traditioneller Geschlechterrollen. Auch deshalb verwenden wir die geläufige Definition – »Frauen werden getötet, weil sie Frauen sind« – nicht mehr. Denn sie suggeriert, dass der Grund für die Tötung beim Opfer liegt. FLINTA werden aber nicht getötet, »weil sie Frauen sind«, sondern aufgrund von (Trans-)Misogynie und Antifeminismus.

Als #keinemehr Berlin halten wir es daher für dringend notwendig, der radikalfeministischen Instrumentalisierung von Femi(ni)ziden entgegenzuwirken. Deshalb lenken wir mit besonderer Nachhaltigkeit die Aufmerksamkeit auf Transfemi(ni)zide, zu denen es in Deutschland noch kaum ein gesellschaftliches Bewusstsein gibt (3).

Punkt 3: Aufmerksamkeit nutzen, um auf soziale Bedingungen zu verweisen

Eine neuere Entwicklung ist auch, dass der Begriff – auch über DIE LINKE hinaus – von parlamentarischen und institutionellen Akteur*innen aufgegriffen wird. Das zeigt: Das Konzept ist in der parlamentarischen Politik angekommen. Um ein prominentes Beispiel zu nennen: Der voraussichtlich nächste Kanzler Olaf Scholz verwendet in einem Interview den Begriff »Femizid« und greift Forderungen auf, die den unseren ähneln, wenn er beispielsweise eine bessere Datenerhebung bei »Straftaten, die aus Frauenhass begangen werden« vorschlägt. Gleichzeitig gibt er aber keine politische Antwort auf patriarchale Gewalt als strukturelles Problem. So verweist Scholz lediglich auf »Schwerpunktstaatsanwaltschaften zur Strafverfolgung von Femiziden« als Stellschraube zur Bekämpfung von Femi(ni)ziden. Mit der Etablierung des Femi(ni)zid-Begriffs ist es feministischen Bewegungen gelungen, geschlechtsspezifische Morde als politisch zu benennen und damit ihre strukturellen Ursachen sichtbarer zu machen. Denn das Ziel ist nicht nur Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken, sondern vor allem die Bedingungen zu analysieren, die diese Gewalt ermöglichen.

So mag es durchsetzungsstark erscheinen, wenn Scholz den Blick auf die Justiz lenkt. Es ist aber vor allem eine kostengünstige und zugleich gewalterhaltende Lösung gegenüber dem, was eigentlich nötig wäre. Was also als progressive Forderung daherkommt, ist vielmehr als Instrumentalisierung der Debatte zu verstehen, weil die strukturellen Bedingungen der Gewalt nicht angetastet, ja nicht einmal thematisiert werden.

Uns als #keinemehr Berlin widerstreben Debatten, die auf das Strafrecht fokussieren, weil dahinter ein Knast-System steht, das nicht auf Veränderungen abzielt und so noch keinen Femi(ni)zid verhindern konnte. Vertreter*innen abolitionistischer Ansätze haben dies schon längst erkannt. Sie fordern nicht einfach eine Abschaffung, sondern eine »Neuerfindung von Institutionen« durch die Einbeziehung verschiedenster Gesellschaftsbereiche, »wie zum Beispiel Wohnen, Gesundheitsversorgung, Drogenpolitik, Kampf gegen patriarchale Strukturen«, wie es die kritische Rassismus- und Migrationsforscherin Vanessa E. Thompson formuliert. Dazu gehören etwa Lohnerhöhungen, Finanzierungen einer öffentlichen Infrastruktur, eine soziale Wohnpolitik oder ein gewaltfreieres Gesundheitssystem – Bedingungen, die die Autonomie aller fördern.

Die Bekämpfung von ökonomischer Abhängigkeit ist ein maßgeblicher Hebel in der Prävention geschlechtsbasierter häuslicher Gewalt und damit auch von Femi(ni)ziden. Eine Gefahrensituation rechtzeitig verlassen zu können setzt voraus, dass die betroffene Person über die finanziellen Mittel dazu verfügt, da eine Trennung ein besonders hohes finanzielles Risiko bedeuten kann (4). Hier wird deutlich, wie wichtig es ist, die Debatte um Femi(ni)zide mit der Forderung nach fairen Mieten und kostenloser guter Bildung zu verbinden.

Hat die Debatte um Femi(ni)zide in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit für das Thema geschaffen, muss es jetzt umso stärker darum gehen, diese Aufmerksamkeit strategisch zu nutzen, indem strukturelle Ursachen und überholte Rollen- und Geschlechtervorstellungen in den Fokus gerückt werden.

Punkt 4: Bewusstsein für Gewaltstrukturen ausbauen, rassistische Diskurse abbauen

Gruppen wie der kurdische feministische Verein Dest Dan oder Women in Exile weisen unermüdlich darauf hin, wie rassistisch geschlechtsspezifische Gewalt und Femi(ni)zide in Deutschland diskutiert werden. Und trotzdem kocht die öffentliche Debatte immer wieder in derselben Weise hoch: So insistierte etwas die Sozialsenatorin Elke Breitenbach im Falle einer von ihren Brüdern ermordeten Frau aus Afghanistan darauf, von einem Femi(ni)zid zu sprechen. »Es geht nicht um die Herkunft und die Nationalität der Täter, es geht um die Frage des Geschlechts«, erklärte Breitenbach und löste damit sowohl unter politischen Akteur*innen (wie Franziska Giffey von der SPD oder Kai Wegner von der CDU), zivilgesellschaftlichen Organisationen (wie Terre de Femme) und Journalist*innen (von telepolis bis jungle world) große Aufregung aus. Aufregung, die Femi(ni)zide üblicherweise nicht hervorrufen – und genau hier zeigt sich das Problem. Skandalisiert werden Femi(ni)zide meist nur, wenn die Täter nicht weiß sind.

Und so wurde eher schlecht als recht versucht zu begründen, weshalb »Verletzung von Rollenvorstellungen« oder die dahinterstehenden »patriarchalen Strukturen« im Falle von Femi(ni)ziden und sogenannten »Ehrenmorden« sich nun doch unterscheiden, um anschließend nach stärkerer Integration – ohne zu erklären, was das sein soll – oder gar Abschiebung zu rufen. Diese Debatte ist nicht neu. Die rassistische Instrumentalisierung von Femi(ni)ziden wird auf dem Rücken der Bedrohten und Toten ausgetragen, indem geschlechtsspezifische Gewalt als ein Problem der »Anderen« phantasiert wird . Diese Instrumentalisierung zieht sich in der Vereinnahmung der Ermordung an Hatun Surücü (Berlin, 7.2.2005) über die sexualisierte Gewalt in der Silvesternacht in Köln (2015) bis heute. Sie geht auf Kosten von uns allen, da sie Gewaltabbau verhindert und Gewalt an sowieso schon Marginalisierten stärket.

Wir sehen in der Verwendung des Femi(ni)zid-Begriffs eine Möglichkeit, entgegen rassistischer Diskurse geschlechtsspezifische Gewalt als ein globales Phänomen zu begreifen, das durch die jeweils regionalspezifischen Ausformungen geprägt wird. In Deutschland sehen wir uns mit einer starken Tabuisierung geschlechtsspezifischer Gewalt konfrontiert, die dazu führt, Gewalt auf ein vermeintliches Außen zu projizieren und rassistisch zu vereinnahmen, um die Strukturen patriarchaler Gewalt hierzulande nicht anerkennen zu müssen. Wir machen uns deshalb im Gegensatz zu Begriffen wie Ehrenmord für einen Femi(ni)zid-Begriff stark, der es ermöglicht, die gewaltvollen Strukturen zu erkennen, zu benennen und zu verändern.

Punkt 5: Politische Auseinandersetzung führen

Die gesellschaftlichen Entwicklungen um das Konzept des Femi(ni)zids sind von Widersprüchen geprägt. Es gibt vermehrt Versuche, das Konzept der Femi(ni)zide zu verwässern oder gar im Kontext von queerfeindlichen und rassistischen Narrativen zu vereinnahmen. Gleichzeitig sehen wir darin aber auch Anzeichen dafür, dass die Diskussion um Femi(ni)zide in den letzten Jahren einen enormen Aufschwung erhalten hat. Die Zunahme der Debatten um Femi(ni)zide in Deutschland muss also auch als vorläufiger Erfolg gedeutet werden, weil es diskursstrategisch gelungen ist, über ein eingängiges Konzept eine Diskussion voranzubringen, die strukturelle Ursachen geschlechtsspezifischer Gewalt als zentral setzt. Darin sehen wir auch weiterhin das Potenzial dieses Begriffs.

Wir als #keinemehr Berlin wollen uns deshalb durch ein Festhalten und eine strategische Zuspitzung unserer Praxis weiter in die politische Auseinandersetzung um Femi(ni)zide einbringen. Denn wir wollen uns lebend!

(1) Während die Schreibweise Femizid vor allem auf die Tötung unter geschlechtsspezifischen Merkmalen verweist, nimmt der Begriff Feminizid Bezug auf die Verantwortung von Institutionen, insbesondere des Staates. Wir wollen mit der Schreibweise Femi(ni)zide beide Versionen mitnehmen und uns nicht für die eine oder andere entscheiden.

(2) Der Nettelbeckplatz heißt der offiziell nach Joachim Nettelbeck, einem deutschen Sklavenhändler, und wurde vom Berliner Netzwerk gegen Feminizide in Widerstandsplatz umbenannt.

(3) Transgender Europe koordiniert das quantitativ-qualitative Rechercheprojekt »Trans Murder Monitoring«, das jährlich zum 20. November, dem Trans Day of Remembrance, aktuelle Berichte zu Gewalt gegen trans Personen veröffentlicht: https://transrespect.org/en/research/tmm/

(4) Verschärfte ökonomische Abhängigkeit betrifft nicht nur Bezieher*innen von Sozialleistungen. Beispielsweise sind alleinerziehende Mütter überproportional privat verschuldet, um laufende Kosten wie Miete, Gesundheitsversorgung oder Ausbildung der Kinder zu finanzieren.

Autor*innen: Die Initiative #keinemehr hat sich zum Ziel gemacht, auf die strukturellen Hintergründe des Feminizids aufmerksam zu machen, die Problematik im Bewusstsein der Öffentlichkeit in Deutschland zu etablieren und Forderungen zu stellen, um die aktuelle Situation zu verbessern. Dabei handelt es sich bei #keinemehr um keine feste Organisation, sondern kann Bezugspunkt sein für eine Vielzahl feministischer Anklagen an die patriarchalen Bedingungen, die Feminizide ermöglichen. Zuletzt haben sie eine Broschüre über Debatten und Konzepte rund um das Thema Femi(ni)zide veröffentlicht.

Bild: von #keinemehr