Deutsche Wohnen & Co enteignen


Im, mit und gegen den Staat?

Anarchist*innen finden die Kampagne »Deutsche Wohnen enteignen« sozialdemokratisch, Sozialdemokrat*innen finden sie zu radikal. Es wird Zeit, kritisch-theoretisch zu begreifen, was da in Berlin bereits praktisch-politisch passiert. Ein Debattenbeitrag von der Recht auf Stadt-AG der IL Hannover.

»Ich halte Enteignung nicht für das richtige Mittel« sagt die Berliner SPD-Vorsitzende Franziska Giffey am 24.02.21 dem Tagesspiegel. Lieber sei ihr mehr Dialog mit den Bauunternehmen. Auf der Nachrichtenseite Anarchistische Föderation hingegen heißt es: »Es ging bei der Kampagne gegen 'Deutsche Wohnen' nie um enteignen. Hier geht es nur um einen Rückkauf von Wohnungen«. Gegen solche »sozialdemokratische Denke« helfe nur »sozialrevolutionärer Kampf«. Wie der aussehen soll? »Besetzen ist der sicherlich sichtbarste Ausdruck derzeit«. Andererseits gehören die Partei Die Linke und die (Anarcho-)Syndikalistische Gewerkschaft FAU zu den Unterstützenden von Deutsche Wohnen & Co enteignen (DWE). Die Gemengelage ist also verwirrend – und darum besonders interessant. Die Hintergründe der Kritiken sind dabei nicht neu, sondern kreisen weiter um die linke Gretchenfrage: Wie hast Du's mit dem Staat?

Im Folgenden geht es darum zu zeigen, dass DWE tatsächlich praktisch etwas Neues ist, was in theoretischen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahrzehnte immer wieder gesucht wurde: Eine Perspektive jenseits von Anarchismus und Sozialdemokratie. Zunächst erinnern wir daran, warum ein reiner Anarchismus im modernen Sozial- und Repräsentativstaat ins Leere läuft (1.). Als noch hohler erweist sich die Sozialdemokratie und ihre Politik mit dem Staat des Kapitals (2.). DWE hingegen ist ein gutes Beispiel für eine neue Politik im, mit und gegen den Staat (3.).

1. Im Staat – Das Veralten des reinen Anarchismus

Anarchist*innen üben oft radikalere Kritik als dies andere Schattierungen der Linken tun würden. So glasklar ist auch das Fazit des Artikels auf der Homepage Anarchistische Föderation zu DWE.

»Bei einer solchen Verstaatlichung haben sich ja die Spielregeln nicht plötzlich geändert, wenn der Staat im Besitz der Häuser ist. Weder Polizisten noch Gerichte sind verschwunden. Die Machtverhältnisse bleiben die gleichen, der Rahmen der Wohnen zur Ware macht, verändert sich nicht“.

All das ist richtig: Selbst bei einem Erfolg von DWE wären die enteigneten Wohnungen weiterhin Mietwohnungen in Warenform, aber immerhin dem Immobilienmarkt entzogen. Staat und Kapital wären nicht aus Berlin verschwunden.

Solcherlei hat DWE freilich nie behauptet, es ist nur die hohe Messlatte anarchistischer Theorie. Hinsichtlich der Utopie einer Gesellschaft, in der Arbeitskraft wie Güter keine Waren mehr sind, in denen die Abspaltung der Reproduktion aufgehoben ist und es auch keinen Staat mehr braucht, ist diese Perspektive der Kritik richtig. Aber der anarchistisch-feministische Kommunismus ist fern. Zwischen der theoretischen Utopie und der praktischen Umsetzung stehen mächtige Bollwerke. Der Theoretiker John Holloway, eher Post-Operaist als Anarchist, aber ein staatskritischer Autor (»Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen« 2002, »Kapitalismus aufbrechen« von 2010), hofft auf Risse in diesen Bollwerken, die durch alltägliche Kämpfe erweitert werden. Ähnliches lesen wir bei den Anarchist*innen über die Alternativen zu DWE. »Besetzen, Basisstrukturen, Demos [...] Aktionen und Blockaden vor den Immobilenversammlungen, [...] Radikale Beratungsstellen, Küchen für Alle, Zwangsräumungskämpfe, direkte Aktionen und Anschläge«. Den Autor*innen ist selbst klar, dass es bei alldem erst mal um eine Politik der Nadelstiche geht. Perspektive wäre hier Holloways Idee, dass sich die Risse zu revolutionären Brüchen ausweiten. Dafür braucht es sehr viel Zeit und damit auch Geduld.

Diese Geduld und Zeit können sich Mieter*innen bei Deutsche Wohnen nicht lange leisten. Mieterhöhungen auszuhalten bis zur anarchistischen Revolution ist keine sinnvolle Option. Abgesehen von der Dringlichkeit ist es sicher auch der Alltag, der zu staatlicher Politik drängt. Die Ausstattung von Schulen, die Höhe von Mindestlohn und Arbeitslosengeld, sogar der Mietendeckel – es gibt heute kaum noch eine soziale Frage, die nicht durch den Sozialstaat vermittelt ist. Zu den Zeiten der anarchistischen Klassiker*innen war dies anders. So schreibt Pjotr Kropotkin 1892: »Wenn man einen Blick auf die Gesellschaft wirft, so wird man betroffen von der unendlich geringen Rolle, welche die Regierung in Wirklichkeit spielt. Balzac hatte schon die Bemerkung gemacht, wie viele Millionen von Bauern während ihres ganzen Lebens mit dem Staat nicht in Berührung kommen, ausgenommen, daß sie an ihn drückende Steuern bezahlen müssen« (1). Was für Zeiten! Freie Bauernschaft, autarke Dörfer und ein ferner Staat – so erscheint Anarchie zum Greifen nah. Was für Russland im 19. Jahrhundert galt, gilt aber nicht für Deutschland im 21. Jahrhundert. Passt sich der Anarchismus nicht an die heutigen Gegebenheiten an, ist sein Veralten besiegelt.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es ist keine Freude im Staat integriert zu sein. Es ist aber so. In 'The state and everyday struggle' schreibt Holloway daher über Staatsfetischismus. »We think of the existence of the state as an apparently autonomous institution as one aspect of […] an ever-repeaed process of fetishisation« (2). Die Neutralität des Staates ist fetischistisch, sie besteht nur formal. Gleichermaßen garantiert er den Vermietenden und Mietenden ihre Rechts- und Stimmengleichheit. Gerade dadurch ist der moderne Staat ein Bollwerk des Kapitalismus. Zugleich aber ist er ein Spielfeld, auf dem zwar nicht die Warenform, wohl aber Miethöhen auf dem Spiel stehen.

2. Mit dem Staat – Das Verwesen der Sozialdemokratie

Die einfache Tatsache, dass Staat und Gesellschaft im Kapitalismus als zwei Bereiche erscheinen, hat den Anarchismus wie die Sozialdemokratie historisch gleichermaßen verwirrt. Für den Anarchisten Kropotkin war es faszinierend, dass die Gesellschaft viele kleinere Zusammenschlüsse umfasst: Eisenbahngesellschaften, Rettungsgesellschaften für Schiffbrüchige, das Rote Kreuz – ohne Staat (4). Vernetzung sei notwendig, aber kein Zentralismus, denn die Basis der Freiheit war 1892 klar lokal. »Die Unabhängigkeit der kleinsten territorialen Einheit wird ein dringendes Bedürfnis; das gemeinsame Übereinkommen ersetzt das Gesetz« (5). Innerhalb von Dorfgemeinschaften mögen freie Vereinbarungen tragen, zwischen Vermietenden und Mietenden aber steht nur das Mietrecht.

Die Rechtsform menschlicher Beziehungen ist undenkbar ohne eine rechtsetzende Staatsgewalt. Dieser Staat, der den Menschen in den Kropotkinschen Dörfern vollkommen fern war, begeisterte die deutsche Sozialdemokratie. Er sollte der Hebel sein, um die Gesellschaft umzuwälzen. Setzte der Anarchismus auf die Gesellschaft gegen den Staat, war die Strategie der Sozialdemokratie die Nutzung des Staates gegen den Kapitalismus. Enteignung und Vergesellschaftung waren die Utopie des SPD-Gründers August Bebel (1840-1913). Bebel hatte das Glück vor 1914, vor dem Verrat seiner Partei am Vorabend des Weltkriegs, zu sterben. Rosa Luxemburg kritisierte den Zustand ihrer Partei zu diesem Zeitpunkt schon als den eines »›Haufens organisierter Verwesung‹, der sich heute deutsche Sozialdemokratie nennt« (6). Mag das Gespenst der Anarchie ein älterer Spuk sein, so ist die Sozialdemokratie ein vergesslicher Zombie: Selbst die eigene Mission – die 'Expropriation der Expropriateure' (Bebel) – ist vergessen.

Von der sozialdemokratischen Idee des Staatssozialismus bleibt erst der Sozialstaat, dann der aktivierende Staat. Sich auf diesem Terrain zu bewegen, ist selbstverständlich für die Volks- und Staatspartei. Den Aktivist*innen von DWE trauen die Staatskritiker*innen auf der Seite der Anarchistischen Föderation dies nicht zu: »Sollte tatsächlich ein Gesetz auf den Weg gebracht werden, so sagen die Interviewten [...]: ›Die Umsetzungen werden wir natürlich kritisch begleiten und kontrollieren‹. Welch eine Selbstherrlichkeit und Selbstüberschätzungen der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten: Der Glaube, sich auf fremden Terrain souverän entlang der Interessen von Unten bewegen zu können«. Dieses Misstrauen ist bemerkenswert: Unvorstellbar soll es sein, per Unterschriftensammlung einen Volksentscheid zu initiieren, der die Staatsorgane zwingt eine Enteignung vorzunehmen, Wohnungen in einer Art genossenschaftlicher Selbstverwaltung zu überführen und in diesen Prozess kritisch zu intervenieren, was allerdings nötig und schwierig ist. Vorstellbar aber soll es sein, dass eine Hausbesetzungsbewegung zur Massenbewegung wird, um die Aneignung des Wohnraums gegen alle Staatsorgane vorzunehmen. Realpolitik könne nur Sozialdemokratie bedeuten. Diese These zu widerlegen, tritt DWE nun an.

3. Im, mit und gegen den Staat – DWE als Intervention

Die Sozialdemokratin Giffey hat Recht: Enteignung ist ein radikales Mittel des Konflikts. Die Kritiker*innen der Anarchistischen Föderation haben auch Recht: Enteignungen, ob nun mit oder ohne Entschädigung, ändern nichts an den kapitalistischen Formen von Recht, Ware und Staat. DWE befindet sich praktisch in einer interessanten Lage, die theoretisch noch wenig erfasst wurde. Anders als im klassischen Anarchismus ist ein Ausgangspunkt das Leben der Menschen im Staat. Die Lage der Mietenden ist ohne Mietrecht und Mietenpolitik überhaupt nicht zu verstehen, eine plötzliche Änderung dieser Lage, indem sie zu Besetzenden würden, ist heute keineswegs absehbar. Im Staat involviert zu sein, bedeutet für Klassenpolitik auch, mit dem Staat Politik zu machen. John Holloway Worte aus dem Aufsatz von 1991 lassen sich auf die Lage der Berliner Mietenden münzen:

»Their problem, in other words, is to maintain their daily contact with the state apparatus (for this is normally a practical neccesity) and yet combat the processing of social activity usually implicit in the actions of the state: to work within the state apparatus and yet against the state form. The extent to which this is possible will depend on the general constellation of class forces« (7).

Was kann es bedeuten, ›im Staatsapparat und doch gegen die Staatsform zu arbeiten‹? Es kann bedeuten, im Staat gültige Rechte, z.B. das Recht auf Volksentscheide und das Grundrecht auf Enteignung, zu nutzen, um eine Klassenpolitik zu betreiben, welche Kräfteverhältnisse verändert. Weniger Unsicherheit ums eigene Wohnen kann auch mehr Kraft für andere Kämpfe bedeuten. Umgekehrt setzt eine erfolgreiche Enteignungskampagne eine kämpferische Bewegung voraus. Auch wenn hier 'nur' darum gekämpft wird, dass Wohnungen den Immobilienkonzernen entzogen werden, um in eine Art genossenschaftliche Selbstverwaltung überführt zu werden, so ist dies doch in mehrfacher Hinsicht außerordentlich bedeutsam. Erstens ist DWE, anders als anarchistische Revolten, eine attraktive Kampagne an der sich Hunderttausende als Unterschreibende und Millionen als Wählende beteiligen können, auch wenn sie z.B. alleinerziehend, gesundheitlich angeschlagen oder anderweitig nicht straßenkampftauglich sind. Zweitens war es für diese Mobilisierung nötig, im Kontakt mit dem Staatsapparat und im Rahmen der gewählten Mittel, zu arbeiten, ohne in sozialdemokratischer Manier dem Staatsfetisch zu erliegen. Drittens konnte mit DWE die Erfahrung gemacht werden, dass mit dem Staat zu arbeiten stets auch bedeutet, gegen den Staat zu arbeiten. Die Nichtzuständigkeit der Politik für den Markt, die Ablehnung des Staatspersonals zu radikalen Eingriffen, muss gebrochen bzw. überstimmt werden. Viertens ist für sozialistische Stadtpolitik die DWE-Kampagne eine Erfahrung in Organisierung mit klarer Perspektive: Gegenmacht in den Kiezen aufzubauen, auch über der 26.9 hinaus!

Autor*innen: Recht auf Stadt-AG der IL Hannover

Foto: Autonomous Design Group

Quellenangaben

(1) Pjotr Kropotkin (1892/1999): Die Eroberung des Brotes, Grafenau, S. 25.

(2) »Wir betrachten die Existenz des Staates als scheinbar autonome Institution als einen Aspekt […] eines sich immer wiederholenden Fetischisierungsprozesses« (Übersetzung IL/RAS Hannover), aus: John Holloway (1991): The state and everyday struggle, in Simon Clarke: The state debate, p. 236.

(3) Pjotr Kropotkin (1892/1999): Die Eroberung des Brotes, Grafenau, S. 100-109.

(5) Pjotr Kropotkin (1892/1999): Die Eroberung des Brotes, Grafenau, S. 124.

(6) Rosa Luxemburg (1917): Offene Briefe an Gesinnungsfreunde, in: Gesammelte Werke 4, Berlin, S. 234.

(7) »Ihr Problem besteht also darin, den täglichen Kontakt mit dem Staatsapparat aufrechtzuerhalten (denn dies ist normalerweise eine praktische Notwendigkeit) und dennoch die Verarbeitung gesellschaftlicher Aktivität zu bekämpfen, die normalerweise im Handeln des Staates impliziert ist: im Staatsapparat zu arbeiten und doch gegen die Staatsform. Inwieweit dies möglich ist, hängt von der allgemeinen Konstellation der Klassenkräfte ab« (Übersetzung IL/RAS Hannover), aus: John Holloway (1991): The state and everyday struggle, in Simon Clarke: The state debate, p. 236.