Was tun in Zeiten von Corona?

Zuvor Undenkbares wird plötzlich möglich, weil ein Virus die Gesellschaft durchrüttelt. Welche Möglichkeitsfenster sich für eine radikale Linke ergeben und wie sie diese nutzen könnte und letztendlich nutzen muss, dazu hat sich eine Frankfurter Genossin einige Gedanken gemacht und möchte zu weiteren anregen.

Willkommen in einer neuen Wirklichkeit. Auch wenn wir es uns wünschen, wir befinden uns nicht in einer zeitlich begrenzten Ausnahmesituation. Die Corona-Regulierungen zielen nicht darauf ab, dass sich niemand infiziert. Das ist schlicht nicht möglich. Es wird stattdessen versucht, dass der kleine Korridor zwischen Auslastung und Überlastung der Behandlungskapazitäten getroffen und die Infektionsrate auf dieses Maß verlangsamt bzw. beschleunigt wird. Es gibt nicht jetzt die Corona-Krise und dann eine Nach-Corona Zeit. Wir befinden uns in einer zyklischen Corona-Krise, in der auch die politischen Maßnahmen, wie Ausgangssperre, Kontaktverbot, Schließungen, Versammlungsverbot etc. wahrscheinlich zyklisch zur Anwendung kommen werden, mindestens solange noch kein Impfstoff entwickelt ist.

Während dieses On und Offs sedimentiert sich etwas, das bleiben wird: Unsere Nicht-Haltung zu Dingen, die eingeführt und ausgesetzt werden, unsere Widerspruchslosigkeit und die Handlungslogiken, die sich jetzt einüben und unsere Haltung und Begriffe des Politischen nachhaltig beeinflussen werden.

Manche Linken denken, die shut down-Politik führe auch für uns als Linke zu Corona-Urlaub. Andere rödeln unentwegt in Stadtteilinis um solidarische Versorgungsmodelle zu etablieren und zu vermassen. Andere versuchen, die unmittelbar drohenden Prekarisierungen (über Entlassungen, Schulden, nicht stornierte Mietzahlungen etc.) durch die Suche nach Druckpunkten gegen Wohnungsbaukonzerne, Arbeitsagenturen oder für ein Corona-Grundeinkommen abzuwenden. Wieder andere reden über das Für und Wider des Ausnahmezustandes aka polizeilich durchgesetzte Kontaktsperre (sic!). Was bisher zu kurz kommt, ist der Weitblick. Ist eine grundsätzlichere Auseinandersetzung damit, was sich gesellschaftlich gerade ereignet, was sich darin für Konfliktlinien verbergen und verschieben und wie eine (radikale) Linke sich darin politisch-strategisch aufstellen sollte.

Ein paar Thesen zum Nachdenken, Anregen lassen und Handeln.

Politik ist wieder da.

In der Corona-Krise kann plötzlich alles, was vorher niemals auch nur ein Gedanke war, politisch entschieden werden. Verstaatlichung, Beschränkung des Eigentumsrechts der Vermieter, Aufgabe des Sanktionsregime von Hartz IV, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Nach 30 Jahren der Entpolitisierung politischer Entscheidungen, ist die Politik schlagartig zurück und wir erkennen wieder, dass die Welt ist, wie sie ist, weil es politisch so entschieden wird. Das Festzustellen ist wichtig, da uns diese Erkenntnis oft entgleitet. Vor allem weil sie nicht im Alltagsverstand verhaftet ist.

Während zur Zeit der globalisierungskritischen Bewegung zwar Viele (nicht nur Linke) den Vorstellungshorizont hatten und vor sich her getragen haben, dass eine andere Welt möglich ist, die tatsächlichen Verhältnisse aber weitestgehend stabil waren, haben wir jetzt eine ungeheuer dynamische Situation. Tatsächlich könnte durch die Immobilität der Körper die kapitalistische Globalisierung zum Stillstand kommen. Gleichzeitig hat die Linke selbst den Horizont für eben dieses Moment des Politischen weitestgehend verloren und begnügt sich mit pragmatischen Forderungen zur Verbesserung der unmittelbaren Lebensbedingungen. Wir selbst müssen - für uns und für andere - dauerhaft auf Politik, auf den Vorstellungshorizonts des Möglichen bestehen, müssen die Kraft aufbringen, den Raum des Politischen zurückzuerobern.

Viele haben die Hoffnung, dass politische Zugeständnisse, wie der sogenannte erleichterte Zugang zur Grundsicherung, nicht mehr so leicht rückgängig zu machen sind und sich die Leute das nicht mehr wegnehmen lassen. Darauf zielen verschiedene Kataloge guter und richtiger Forderungen ab. Dabei haben wir doch die Erfahrung nach der Finanzkrise und im Sommer der Migration im Rücken - und erlebt, wie erkämpfte Erleichterungen durch Vergesellschaftung der Schulden oder den Ausbau der europäischen Abschiebe- und Abschottungspraxis zunichte gemacht wurden. Wir wissen, dass die jetzt vielleicht gemachten Fortschritte (auch davon ist viel noch nicht ausgemacht), nicht bleiben werden. Sie gelten als Handlung in der Ausnahmesituation. Überall, wo jetzt Geld bereitgestellt wird, wird gleichzeitig der Tilgungsplan verabschiedet. Nach der Bewältigung der Gesundheitskrise kommt nicht nur die Wirtschaftskrise, sondern auch die Austerität.

Wir müssen das kommen sehen und uns jetzt auf eine Situation einrichten, in der wir im besten Fall versuchen, das Zurückdrehen nicht passieren zu lassen oder im schlechtesten Fall die Kämpfe um Austerität zuführen und nicht alle zu verlieren. Damit können wir nicht auf eine vermeintliche Nach-Corona-Zeit warten, dafür brauchen wir bereits jetzt eine Strategie.

Für diese Auseinandersetzungen müssen wir uns auch auf eine Situation einstellen, in der wir eine stark eingeschränkte materielle Infrastruktur zur Verfügung haben werden. Linke und/oder kollektive Cafés, Bars, Clubs, Betriebe, Festivals, Buchläden, genau wie viele andere mittelständische und oft auch kleine, migrantische Betriebe und Unternehmen, kurz: alle Orte, an denen Miete gezahlt oder Schulden beglichen werden müssen, werden die Corona-Krise nicht oder nur stark beschädigt überleben. Das heißt nicht nur, dass sie als soziale und praktische Räume nicht mehr zur Verfügung stehen (das trifft möglicherweise auch auf Vereinsräume zu), sondern auch dass die dort bewahrte Literatur und Debatten nicht mehr zur Verfügung stehen. Erschwerend kommt hinzu, dass die aus ihnen geleistete Finanzierung unserer Arbeit wegfällt und die letzten Nischen alternativer Lebensentwürfe (also andere Kombinationen aus Leben und Arbeiten) verschwinden, mindestens aber dezimiert werden. Nicht nur wir, aber eben auch wir, werden damit um ein Vielfaches erpressbarer und stärker strukturell verbürgerlichen, als es mit der Linken in den letzten 30 Jahren passiert ist. Wir müssen uns deswegen auch darauf einrichten, uns dieses Rückgrat und damit auch die Voraussetzung für radikale Subjektivität wieder aufbauen zu müssen.

Neutralität als Waffe

Eine schwer zu fassende Gegnerin in unserer oben beschriebenen Auseinandersetzung ist die Ideologie der politischen Neutralität. Es ist eine der zentralen antikommunistischen Figuren des Neoliberalismus, die wir über die letzten 30 Jahre gesellschaftlich und individuell inkorporiert haben. Damit ist die Verneinung und Entleerung des Politischen gemeint. In Bezug auf Corona bedeutet das, dass die oben beschriebenen, einschneidenden und gravierenden Maßnahmen nicht als politisches Handeln, als Gegenstand des Aushandelns und Veränderns erscheinen, sondern als Krisenmanagement. Als neutrales, geradezu technokratisches Krisenmanagement.

Das hat Vor- und Nachteile für uns. Der Vorteil ist, dass das aktuelle Krisenmanagement explizit nicht rechts ist. Das heißt nicht, dass es das nicht noch werden kann und auch nicht, dass die bisherigen Maßnahmen alle richtig, erfreulich und alternativlos waren. Darum geht es mir nicht. Das Krisenmanagement ist »neutral«, weil es in erster Linie darauf zielt, bestimmte, als sinnvoll erachtete Maßnahmen der »Volksgesundheit« umzusetzen und durchzusetzen. Was sinnvoll ist, kann dabei natürlich unterschiedlich bewerten werden, wird aber durch Expert*innen, wie das Robert Koch-Institut (RKI) als alternativlos vorgegeben. Aber natürlich täuscht bereits diese »Neutralität«, wenn Deutschland Exportstopps für medizinisches Material beschließt und wenn völlig diskussionslos klar ist, dass Bildungs- und Kultureinrichtungen als erste geschlossen werden und nicht die Fabriken. Die Neutralität des Krisenmanagements entpuppt sich schnell als Neutralität in der Logik kapitalistischer Vergesellschaftung.

Der Nachteil dieser »Neutralität« besteht in der durch diesen Modus reproduzierten Logik. Das tatsächliche politische Handeln gibt sich aus als Pragmatismus, Einsicht in die Notwendigkeit oder Zweckrationalität. Das aktuelle Krisenmanagement wird als alternativlos propagiert und je effizienter dieses durchgesetzt wird, desto besser, desto weniger Menschen werden sterben. China ist Vorbild für beispiellose Krisenintervention. Das Krisenmanagement ist dabei nicht darauf angelegt autoritär zu sein, in der Struktur leistet es aber der Entleerung von Politik über das TINA-Modell (»There Is No Alternative«) Vorschub und stärkt damit Autoritarisierungstendenzen. In diesem Modus der »rationalen und vernünftigen« Maßnahmen wird Politik nicht mehr als politisches Handeln sichtbar. Maßnahmen erscheinen als unmittelbar einleuchtende Setzungen, genau wie bei der schwarzen Null. Damit korrespondiert auch die Alle-Parteien-Einigkeit, die Harmonisierung des politischen Feldes bis zur quasi Reduzierung der Parlamente auf pragmatische Abnick-/Durchwink-Instanzen.

Wir erleben also wieder, wie Politik stattfindet, ohne dass sie stattfindet. Die Vorstellung aber, dass politisches Handeln entscheidet, wie unsere Gesellschaft eingerichtet ist und das alles änderbar ist, ist Voraussetzung für Rebellion und für gesellschaftliche Veränderung. Sie bildet die Voraussetzung dafür, dass das Zutagetreten des kapitalistischen Irrwitzes in der Corona-Krise (wie ein auf Profit ausgerichtetes Gesundheitssystem, Flüge, die leer fliegen um die Slots nicht zu verlieren, Exklusivverhandlungen über Verkauf des Impfstoffs, arbeiten müssen, aber nicht mehr die Freunde sehen dürfen...) auch zu etwas führen kann. Deswegen müssen wir uns damit beschäftigen. Müssen den Mechanismus dieses Neutralitätsglaubens aufzeigen und aktiv zurück drängen. Auch im eigenen Kopf.

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.

Das formulierte Ziel der aktuellen Interventionen ist, das »Höchste Gut zu bewahren: Das Leben«. Das ist eine genuin linke Position, die bisher vor allem gegenüber all denjenigen, die sie jetzt vor sich her tragen, verteidigt werden musste. Es klingt absurd, daran Anstoß zu nehmen. Dennoch müssen wir die Vorstellung des Lebens, das da verteidigt wird, hinterfragen. Leben ist mehr als nur Überleben. Es gibt schon sehr lange eine linke Kritik an der Maslowschen Bedürfnispyramide: zuerst kommt das Fressen und dann die Moral. Zu Recht. Meines Erachtens nach muss eine linke Position darin bestehen, die Reduktion unserer Interessen, die Reduktion des Lebens auf die Frage des reinen Überlebens zurückzuweisen.

Leben birgt immer das Risiko zu sterben und lässt die Entscheidung zu, Maßnahmen zur Reduzierung dieses Risikos zu treffen, nicht zu treffen oder bewusst vielleicht das komplette Gegenteil zu tun (Fahrradhelm, Drogen, Risikosport, Unfälle, Krankheiten, Widerstand). Das, was uns am Leben wichtig erscheint, ist Sozialität, Dinge zu tun, die uns Freude bringen, die uns bereichern, die Genuss ausmachen, Lust. Auf vieles davon, vielleicht sogar alles, können wir temporär verzichten, aber nicht auf Dauer, nicht Monate, weder individuell noch gesellschaftlich. Ich will nicht behaupten, dass Corona dasselbe sei, wie keinen Fahrradhelm zu benutzen. Es geht mir darum zu verdeutlichen, dass die Überlebenssicherung einen Preis hat, den wir benennen und besprechen sollten.

Bei einem politischen Primat des Überlebens, der noch dazu als alternativlos eingeführt wird, gibt es diese Debatte nicht. Es wird beispielsweise ein Prozess der situativen, aber auch der langfristigen kulturellen Entleerung unserer Gesellschaft in Kauf genommen (die kulturelle, mediale Landschaft wird nach Corona erheblich dezimiert und bedeutend stromlinienförmiger aussehen). Auch das wird Formen von Verrohung produzieren und Spuren hinterlassen.

Zugleich ist der Modus der sozial-kulturellen Einschränkung stark durch bisherige Vorstellungen von Normalität, dem, was ein »normales Leben« ist, geprägt. Ein physical distancing ist mit einer bürgerlichen Existenz, die aus Arbeiten, Kleinfamilie und drei Freund*innen besteht, wesentlich besser kombinierbar, als mit anderen Formen des Lebens und Liebens. Die aktuellen Verordnungen zur Kontaktsperre machen das deutlich. Ein Spaziergang oder Weg zu einer nicht verheirateten Partner*in muss notfalls ausreichend genug gegenüber der Polizei glaubhaft gemacht werden. Was geht es die Polizei aber an, in welchem Verhältnis ich zu Personen stehe und warum muss ich mich dafür überhaupt rechtfertigen? Mir wird das Recht zur Abwägung und Entscheidung abgesprochen. Ob ich sie*ihn sehen kann, wird zur Frage der Normativität im Kopf des Polizisten. Der Maßstab, mit dem die aktuellen Maßnahmen abgeglichen werden, ist deswegen einer, den wir als Linke unbedingt kritisieren müssen.

Dabei geht es nicht darum, nichts zur Corona Prävention beizutragen, sondern den Widerspruch zwischen dem Freund*innen treffen und noch arbeiten gehen, nicht zu Gunsten des komplettierten shut downs aufzulösen. Unsere Antwort muss komplexer sein. Wir müssen als (radikale) Linke eine Debatte darüber beginnen, was zum (guten) Leben (für alle!) dazu gehört und was dafür gesellschaftlich notwendige Arbeit ist. Entlang dieser Frage Maßnahmen abzuwägen und zu bestimmen würde quer zu den bisherigen Maßnahmen völlig neue Auseinandersetzungslinien aufmachen. Zum Beispiel um die Frage reproduktiver Arbeit, Bedürfnisbefriedigung entgegen der Normalität kapitalistischer Vergesellschaftung. Eine solche Debatte würde uns gleichsam helfen, unserer zentralen Aufgabe nach zu kommen: den Raum des Politischen und Utopischen aufzumachen, vorstellbar zu machen, zu füllen und damit für uns und im Denken aller, zurück zu erobern.

Moralismus, Schuld und Solidarität

Die aktuelle Debatte zu Corona ist in großem Maße moralisiert und individualisiert und sie orientiert auf Widerspruchsfreiheit. Die staatlichen Maßnahmen sind ohne Wenn und Aber zu befolgen. Oder, was es zum Teil auch gibt, sie werden unter der Annahme, alles wäre große Corona-Hysterie, abgelehnt. Beide Positionen sind sich im Gestus gleich, sie sind nur von unterschiedlichen Standpunkten überzeugt. Was darin aber verloren geht, ist der Widerspruch zwischen solidarischen Praxen und physical distancing, zwischen verbotener gegenseitiger Hilfe und erlaubter, bezahlter Hilfe Fremder, zwischen Arbeiten und Freund*innen treffen, zwischen Solidarität im Inneren und Solidarität an den Grenzen. Was darin verloren geht, ist das Moment der überlegten Abwägung, die im Zweifel auch zu unterschiedlichen Ergebnissen führen kann. Die Vorstellung davon, dass Menschen zu überlegter Abwägung in der Lage sind und ein Recht darauf haben, zu unterschiedlichen Ergebnissen in dieser Abwägung zu kommen, wird abgelöst durch die Vorstellung, dass es darin eigentlich keine Varianz geben darf. Wer ausschert, macht sich schuldig. Darin ist die Massenverachtung, also die Annahme, die Leuten würden, wenn sie abwägen und selbst entscheiden, mehrheitlich unverantwortlich handeln, angelegt. Eine solche Herangehensweise sollten wir uns als Linke nicht zu eigen machen.

Die von jedem und jeder übernommene individuelle Verantwortung soll dafür sorgen, dass die Schwächeren geschützt werden. Wir werden unter diesen Vorzeichen zu Solidarität aufgerufen. Auch innerhalb der Linken gibt es große Strömungen die diese Anrufung nicht nur teilen, sondern sie auch noch selbst aktiv voran treiben. #Staythefuckhome suggeriert zugespitzt die Verantwortung für den Tod Anderer durch das eigene vermeintlich egozentrische Verhalten. Es soll hier nicht behauptet werden, dass individuelles Handeln oder Verhalten egal sei. Es gehört zu einer der Kernüberzeugungen einer Linken, dass Handlung (auch individuelle Handlung) Bedeutung hat. Trotzdem. Darin steckt eine ganze Reihe von Problemen.

Zum einen verdrängt die Anrufung der individuellen Verantwortung als hegemonialer Diskurs den Umstand, dass unsere Gesellschaft strukturell so eingerichtet ist, dass nicht alle das Gleiche haben, nicht dieselben Chancen, Ressourcen etc. Sie blendet auch aus, dass der Grund, warum aktuell selektiert werden muss zwischen denen, die am Leben bleiben, und denen, die sterben werden (bei den Beatmungsgeräten), eine künstliche, weil auf Profitmaximierung und an Konkurrenz ausgerichtete Verknappung von Gütern/ Dienstleistungen/ Möglichkeiten/ Zugängen ist und dass diese Güter nicht knapp sein müssten. Der absolut überwiegende Teil der Menschen wird nicht an Corona sterben, sondern am Mangel an Versorgungsressourcen, der fehlenden Hygiene, dem gesundheitsschädlicheren, weil billigeren Lebensstil, an der fehlenden Krankenversicherung etc. Der Fokus auf individuelle Verantwortung lässt Kritik an der grundsätzlichen Eingerichtetheit unserer Gesellschaft in den Hintergrund treten. Er erklärt die Individuen zu den Schuldigen, für alles, was da noch kommt, leistet damit der Entpolitisierung der Debatte Vorschub und untergräbt unsere Veränderungsperspektive.

Zum anderen wird der Begriff der Solidarität umgedeutet. Die linke Vorstellung von Solidarität ist eine kollektive, eine unteilbare und eine nicht gegeneinander ausspielbare. Mit dem Verweis darauf, dass Solidarität mit Schwächeren im individuellem Privilegienverzicht (rausgehen zu dürfen) besteht, wird sie entkollektiviert und wird (unabsichtlich) strukturell gegenüber den Interessen anderer bedürftiger Gruppen in Stellung gebracht. Verzicht ist noch keine aktive solidarische Praxis. Den social media Raum mit Statements zu fluten auch nicht. Und auch wenn das niemandes Absicht ist, wird damit der bisherige linke Solidaritätsbegriff untergraben. Auch weil diese Solidarität exklusiv und eurozentrisch ist. Nicht nur, dass Hilferufe aus Moria, Rojava oder Gaza verhallen, die sagen, dass sie keine ausreichenden Ressourcen haben, um mit Corona umzugehen, keine Hygieneartikel, keine Beatmungsgeräte, kein Personal, keine Krankenhäuser, manchmal noch nicht mal fließend Wasser.

Unsere Lebensweise und Form sorgen strukturell permanent dafür, dass Leute sterben (und zwar nicht so wenige), dass die ganze Zeit zwischen lebenswert und lebensunwert unterschieden und selektiert wird (an den Grenzen, in den Lagern, auf den Ämtern). Dass jetzt und in dieser Vehemenz Moral und Solidarität von Regierung und Medien eingefordert werden, während das »normale« Sterben, an das wir uns gewöhnt haben, nie Grund für Solidarität war, entlarvt, worum es eigentlich geht: Diesmal sind wir diejenigen, die sterben und der Ruf nach Solidarität mit den Schwächeren ist eigentlich Ausdruck der Angst ums eigene Überleben. Es ist keine Solidarität in unserem Sinne.

Warum ist das wichtig? Solidarität ist einer unser zentralsten Begriffe, um zu erklären warum wir Linke sind. Wenn sich das gesellschaftliche Verständnis von Solidarität verändert, verengt, dann stellt uns das vor erhebliche Herausforderungen.

Was also tun.

1. Handlungsfähigkeit. Ganz basal: unsere Infrastruktur zugänglich halten, unsere Kommunikation umstellen und überhaupt aufbauen. Strukturen zur Koordinierung neu schaffen. Die Geschwindigkeit unseres Reaktionsvermögens erhöhen. Uns die Fähigkeit aneignen, linke Infrastruktur wieder völlig neu aufbauen zu müssen.

2. Das Unmittelbare tun. Es gibt die Listen und Forderungskataloge schon. Wir müssen die aktuelle Situation nutzen und mit Druckpunkten durchsetzen, was durchzusetzen ist und den Blick auf die kommenden Kämpfe gegen die Austerität nicht aus den Augen verlieren.

3. Rebellische Impulse setzen. Wir sind es gewohnt für ungewöhnliche Situationen Antworten zu finden. Wir können das. Wir (im weiteren Sinne) haben auch schon in anderen Situationen Mut und Kreativität zur Rebellion unter Beweis gestellt (Aneignung der Straße gegen Totalverbote etc.). Jetzt sind wir mit einer völlig neuen Realität konfrontiert. Aber auch dafür gibt es Optionen, die eintretende Stille zu überwinden. Wir müssen uns Mut aneignen und verbreiten und experimentieren. Was ist mit Demos mit Abstandshaltern und Mundschutz und Handschuhen. Nie war es so einfach sich zu vermummen. Radioballett, koordinierte Formen des gemeinsamen Laufens, Springens, eine Demo ohne eine Demo zu machen. Man hält das Abstands- und Kontaktverbot ein. Und durchbricht es doch. Wir müssen ebenso mit digitalen Widerstandspraxen Erfahrung sammeln, Serverblockaden organisieren etc. aber wir dürfen den öffentlichen physischen Raum nicht aufgeben.

4. Politisch orientieren. Die Leerstelle unserer intellektuellen und strategischen Orientierungsfähigkeit schließen. Wir müssen für uns selbst und für andere den Vorstellungshorizont erweitern und permanent herausstellen, was politisch alles möglich ist und dass es möglich ist. Wichtig ist, nicht dieselben Diskurse zu reproduzieren, sondern zu entmoralisieren, dafür aber zu politisieren. Wir müssen eine ideologische Antwort gegen Entpolitisierung, Neutralisierung, Individualisierung und Schuld formulieren. Sozialität schaffen und verteidigen.

Die bisherige Politik der iL ist stark auf Lern- und Bewusstwerdungs- sowieVeränderungsprozesse in gemeinsamen Praxen, politischen Prozessen, in den Kämpfen etc. ausgelegt, die von dort ausgehend mit in den eigenen Alltag genommen werden und die Sicht auf die Welt nachhaltig verändern. Das ist nicht falsch. Gleichzeitig wissen wir, dass Erfahrungen im Alltagsverstand in den seltensten Fällen zu einem ideologischen Koordinatensystem führen, sondern meist zusammengepuzzelt und sich widersprechend verbleiben. Das bedeutet, dass Menschen mit uns und in unseren iL-Praxen und Kämpfen zwar gute und ermächtigende Erfahrungen machen, dass darin aber mehrheitlich die ideologische Neutralitätsfigur, die politische Entleertheit nicht verändert wird. Oft wird der objektiv vorhandene Widerspruch von den betreffenden Personen selbst gar nicht als solcher empfunden oder artikuliert.

Es ist richtig und wichtig, sich weiterhin auf soziale Konflikte zu beziehen, d.h. auf Akteure die uns als Verbündete brauchen, weil ihnen die kollektive Kampferfahrung fehlt. Wir dürfen uns aber in unserer Praxis nicht nur auf diese Ebene des Alltagsverstandes beschränken, sondern müssen auch eine vordergründige und offensive ideologische Auseinandersetzung gegen die Figur von Neutralität und Individualisierung führen. Nur dadurch ist thematisierbar, dass es um das Entscheiden geht. Ein Umdenken dazu, was Politik ist, dass die Welt nur auf Grund aktiver Entscheidungen so ist wie sie ist und der Charakter unserer Gesellschaft jederzeit neu entschieden werden kann. Das ist die Gegenthese zur aktiven Entpolitisierung der ideologischen Neutralitätsfigur.

Gleichzeitig müssen wir das Utopische in den Blick nehmen. Wir müssen die Auflösung der Lager, Heime und Abschiebeknäste erkämpfen, die Grausamkeit der Funktionalität der kapitalistischen Globalisierung offenlegen und utopische, aber auf der Hand liegende Alternativen aufzeigen. Drunter wird es nicht gehen.

Autorin: Karin ist Teil der iL Frankfurt.

Bild: The Modern Ghost, von RANT 73.