Gesellschaftliche Arbeit – Gesellschaftliche Wohlfahrt: Wie viel Staat muss es sein?

Vielerorts wird derzeit ein Ende des Neoliberalismus heraufbeschworen, der Sozialstaat sei zum Greifen nah. Hannah Eberle zweifelt daran, dass jetzt so einfach A auf B folgt und plädiert einmal mehr für eine handlungsfähige Linke, die weiß, wo es jetzt einzugreifen gilt.

Es wird gesagt, die aktuellen Umstände und Entwicklungen könnten eine postneoliberale Wende markieren, der Sozialstaat sei doch möglich. Auch die gesellschaftliche, gar die radikale Linke stellt Forderungen an diesen. Ich möchte die aktuellen sozialpolitischen Maßnahmen einordnen und argumentieren, dass es zwar ein Möglichkeitsfenster gibt; aber für eine tatsächliche Wende die radikale Linke gerade jetzt nicht um eine staatskritische Position herumkommt. Ich will mit euch gemeinsam überlegen, wo wir als Antikapitalist*innen daher jetzt ansetzen könnten.

Was konkret passiert

Die Bundesregierung und der Bundestag haben in kürzester Zeit finanzielle Hilfe auch für Soloselbstständige, Angestellte und Arbeiter*innen zugesagt. Die Hilfspakete umfassen mehrere Milliarden Euro, die schwarze Null ist vorerst ausgesetzt. Zu den Unterstützungsleistungen gehört das vereinfachte Beantragen der Grundsicherung, auf die auch Künstler*innen, Selbstständige politische Bildner*innen zurückgreifen können. Für Erwerbslose und Wohnungslose gibt es die Möglichkeit, den tatsächlichen Mietzuschuss zu erhalten, und die Vermögensprüfungen werden derzeit ausgesetzt. Da wir davon ausgehen können, dass bei vielen Erwerbslosen die Vermögen – wenn es denn welche gab – bereits aufgebraucht wurden, zielt diese Maßnahme offensichtlich nicht auf sie ab. Mietschulden, nicht die Miete werden ausgesetzt. Menschen in Kurzarbeit werden angehalten, anderweitig zu dazuzuverdienen, allerdings dürfen sie am Ende neben dem Kurzarbeitergeld nicht mehr in der Tasche haben als ihren Normallohn. Im Rahmen des Kurzarbeitergeldes bleibt die Bundesregierung eisern bei den 60% des Ursprungslohns, wohingegen Gewerkschafter*innen je nach Gewerkschaft bereits 80% bzw. 90% gefordert haben. Die Sozialversicherungsbeiträge werden vollständig übernommen – ich bin keine Expertin, aber das bedeutet wohl, dass sich netto leider nichts im Geldbeutel der Arbeiter*innen und Angestellten ändert. Start-Ups und kleine Unternehmen erhalten die Möglichkeit Kredite aufzunehmen, die Sicherung dazu übernimmt die Bundesregierung – allerdings nur für Unternehmen, die zuvorderst keine wirtschaftlichen Probleme aufwiesen. Für Kollektivbetriebe, Clubs, Zeitungen etc. nicht hilfreich, denn es bedeutet eine Verschiebung des Problems, das sie dann auf die »Kund*innen« umwälzen müssten. Von einem Einspringen des Staates kann hier also keine Rede sein. Die viel diskutierte Staatsübernahme von Unternehmen ist ebenfalls kein Paradigmenwechsel. An der Profitlogik wird nichts geändert, es springt lediglich der Staat im Krisenfall zeitweise ein und übernimmt somit auch das Risiko des fails. Von dem Profit, den manche Unternehmen im Rahmen der Krise sogar machen, wird nichts umverteilt oder an die Angestellten ausgezahlt.

Dieser kurze, oberflächliche Blick in die Sozialstaatsmaßnahmen in Bezug auf den Arbeitsbereich (die Felder Krankenhaus, Miete etc. habe ich ausgelassen) stellt mich vor die Frage, warum manche Linke davon ausgehen, es handle sich um eine postneoliberale Wende?

Der Sozialstaat als Absicherung für das neoliberale Weiter-So

Zweifellos, es macht realpolitisch einen Unterschied, ob ein sozialer Staat absichert und eine rotrotgrüne Landesregierung, wie in Berlin, bei der Absicherung zuerst an die auf sich allein gestellten Selbstständigen und die Künstler*innen denkt. Aber erst einmal lassen sich diese Maßnahmen auch im Rahmen einer keynesianischen Krisenpolitik verstehen. Kaufkraft und wirtschaftliche Funktionsfähigkeit sind zu erhalten. Das ist nicht neu, Ingar Solty hat bereits darauf hingewiesen, dass auch in der Weltfinanzkrise 2008 zunächst der Keynesianismus griff. Als radikale Linke erkenne ich ebenso die Notwendigkeit, dass es keinen Crash gibt, aber das heißt nicht, dass dieser Politikansatz eine postneoliberale Wende, geschweige denn eine Auseinandersetzung nach sich zieht. Die BRD hat gerade erst heruntergefahren und sofort wird von Konservativen und Liberalen beschwört, dass nach Ostern alles wieder normal funktionieren und die schwarze Null zurückkommen solle. Diese Maßnahmen sind also kein soziales, sondern ein kapitalistisches, neoliberales Denken. Die Gegenseite verlässt weder ihre Stellung noch gibt sie Macht ab. Die harten Angriffe kamen auch 2008/2009 erst danach, es steht uns also möglicherweise ein Umverteilungskampf bevor, der mit Gewinnen nicht viel zu tun hat. Möglicherweise könnten wir sozialdemokratisch einige konkrete Verbesserungen erhalten, zum Beispiel die positiven Maßnahmen der Notlagenbarauszahlung an Erwerbslose, wie es aus dem Umfeld des »Tacheles« in Wuppertal oder der Koordinierung gewerkschaftlicher Erwerbslosengruppen gefordert wird, oder die vollständige Mietübernahme. Aber wenn wir wirklich eine postneoliberale Wende erreichen wollen, braucht es mehr als diesen neoliberalen Sozialstaat.

Die theoretische Ambivalenz des Sozialstaats in Erinnerung rufen – Staatskritik I

Seit es ihn gibt, hat ein Großteil der Linken ein ambivalentes Verhältnis zum Sozialstaat, und das nicht nur, weil er seit jeher der Befriedung des Klassenkonflikts dient und an den Nationalstaat gekoppelt ist. Der Staat ist und war kein neutraler Verwalter und bildet keine neutrale Aushandlungsplattform von Interessen, wie es Sozialdemokrat*innen behaupten. Der Staat agiert als »ideeller Gesamtkapitalist«, indem er zum Beispiel kontinuierlich neue Möglichkeiten schaffen muss, dass überall neue Profite erwirtschaftet werden können, indem er darauf ausgerichtet ist, Regeln zu schaffen, in denen freier Handel ermöglicht wird und der Wettbewerb erhalten bleibt. Die Angriffe auf Erwerbslose beinhalten nicht nur materielle Kürzung. Hinter der Einführung von HartzIV steht die Verfügbarmachung der Erwerbslosen für die Notwendigkeiten dieses Wirtschaftssystems. Weil wir es mit einem vereinfacht gesprochen kapitalistischen Staat zu tun haben, wird mit Appellen und demokratischen Mehrheiten allein keine Umwälzungen herbeizuführen sein, auch nicht in der Krise. Wie das so ist mit praktischer Politik, allerdings… ich komme darauf zurück.

Freiwillige übernehmen – Staatskritik II

Die Entstehungsgeschichte des sozialen Staats einmal übersprungen, denn für hier reicht der Blick auf die vergangenen 20 Jahre: Der soziale Staat ist nicht einfach verschwunden, sondern er hat wesentlich seine Logik geändert. Er befördert zunehmend marktwirtschaftliche Mechanismen, zwingt Menschen in die private Versicherung und sortiert durch das repressive Hartz-System Menschen aus – wer nichts zurücklegen kann, kann nicht mehr partizipieren, ist also längst Bürger*in zweiter Klasse. Das hat zur Folge, dass nicht nur die unbezahlte care-Arbeit durch vorrangig Frauen*, sondern eine ganze Maschinerie an gesellschaftlichen Versorgungsleistungen eigenverantwortlich organisiert werden müssen. Dabei denke ich nicht nur an Familien und das Individuum, sondern eine ganze Armada von Freiwilligenagenturen und freiwilligen Versorgungsdienstleitern, wie Lebensmitteltafeln, Suppenküchen, Kleiderkammern etc. Es gilt Charity statt Absicherung – statt Mietübernahme erhält man die Adresse der nächsten Lebensmitteltafel. Das Problem für uns und alle in ökonomischer Prekarität: Diese Einrichtungen sind, wie unschwer gerade zu erkennen, notwendig. Ihr Ausbleiben führt zu mehr Verarmung.

Doch diese stetig wachsende Anzahl an freiwilliger Versorgungsstruktur entsteht im »Schatten des vermeintlich aktiven Sozialstaats«. Politiker*innen jedweder Couleur beklatschen das solidarische Engagement, weil es die Lücken des Sozialstaats füllt. Gerade jetzt ist doch sichtbar, dass nicht die Bundesregierung es schafft, sondern die Gesellschaft.

Zwanzig Jahre »Vertafelung« bedeuten also noch keinen politischen Überschuss. Aus unserer Staatskritik heraus und der Überzeugung, dass wir mit der Gesellschaft massenhaft den Kapitalismus stürzen, wollen wir diese Freiwilligkeit als Solidarpraxen von Unten begreifen. Denn Helfen ist angesagter, als Staatskritik auf der Couch wiederzukäuen. Aber als organisierende Linke brauchen wir eine Idee, wie an diese »solidarische Gesellschaft« angeknüpft werden kann – zumal die Netzwerke gerade nicht alle erreichen. Anfang des 20. Jahrhunderts haben Organisationen wie die Internationale Arbeiterhilfe dies versucht – als politische Plattformen, organisierten sie Streiks und Hilfe.

Was also tun? Denn ein Möglichkeitsfenster gibt es!

Nach diesem Versuch, uns die Ambivalenz des sozialen Staates ins Bewusstsein zu rufen, also die Frage »Was tun?«. Einerseits kann es, wie bereits angekündigt, politisch praktisch trotzdem richtig sein, in unseren Bündnissen an den Staat zu appellieren. Denn es wäre arrogant und menschenverachtend, ihn jetzt nicht einzufordern – am sichtbarsten im Gesundheitswesen, sofortig mehr Pflegekräfte, sofort Geld an Selbstständige usw.. Forderungen zu stellen, kann zudem auch Klassenbewusstsein schaffen. Viele realisieren jetzt, es gibt finanzielle Mittel auch für uns, viele machen durch Organisierung positive Erfahrungen. Und vielleicht lässt sich das ein oder andere tatsächlich gewinnen, wie die angesprochene Notbargeldauszahlungen oder die Abschaffung von Sanktionen. Da hat die Linkspartei recht, das wäre ein tief eingreifender Paradigmenwechsel.

Als IL müssen wir sogar Forderungen aufstellen, weil wir eine reale Linke sind, die an der Seite mit vielen für reale Verbesserung streiten. Aber das kann die IL doch am besten als Teil von gesellschaftlichen Bündnissen, in denen sie sichtbar ist.

Andererseits sollte die IL als radikale Linke genau jetzt nach Alternativen zu diesem Staat suchen und eine Strategie entwickeln, wie wir diese erreichen, durchsetzen und umsetzen können – also mehr als Kritik. Als gemeinsame Denksportaufgabe – Ansatzpunkte:

Erstens: Diese Zeit jetzt könnte eine gute Phase sein, an die seit Jahrzehnten angedachten Überlegungen zur Vergesellschaftung neu anzusetzen. Commons nicht verstanden als Güter, die wir alle gemeinsam frei nutzen können, was auch ein liberaler Traum ist, sondern Commons als kollektiv organisierte (Re-)Produktionsbereiche. In der zugespitzten Situation könnte gerade im Gesundheits-, Wohn- aber auch Versorgungswesen ein Bewusstsein entstehen, dass der Markt es eben nicht regelt. Lasst uns das nutzen, indem wir etwas vorlegen. Vergesellschaftung muss dabei weiter gedacht werden als Rekommunalisierung, denn der Staat ist nicht unbedingt unser Freund. Also stellt sich die Frage nach Struktur und Organisation, die Frage nach Demokratie. Vergesellschaftung muss auch die Zerschlagung jedweden privaten Zusatzmarktes (wie ich ihn nenne) bedeuten. Private Tafeln, private Klinken, private Altersheime – solange es die Alternative weitergibt, gibt es keine Commons. Die Klassenlogik bliebe bestehen und nicht alle investierten gleich viel gemäß ihren Fähigkeiten in die kollektive Produktion und Versorgung. Masken produziert von allen, konsumiert von allen.

Zweitens: Ich finde es richtig, dass über das Bedingungslose Grundeinkommen gesprochen wird. Aber einfach ein Einkommen für Alle ist noch kein Klassenkampf. Zurecht verweisen die Erwerbsloseninitiativen darauf, dass dauerhafte Sofortentlastungen für sie jetzt notwendiger sind. Ein Grundeinkommen, dass dazu führt, dass Hausarbeit weiter bei Frauen* liegt und für die ökonomisch Schwachen lediglich ein anderes HartzIV ist, bleibt trügerisch.

Drittens: Die Frage nach gesellschaftlich notwendiger Arbeit politisieren. Die ökologische Frage hängt wesentlich mit der Frage danach zusammen, was wir gemeinsam für ein gutes Leben für Alle brauchen: Welche Maschinen wollen wir bauen, welche Flugreisen, sind gesellschaftlich notwendig (und damit meine ich auch weiter Urlaubsreisen) etc. Meine Genoss*innen sind da teilweise weiter, aber ich möchte darauf drängen, dies jetzt gemeinsam zu diskutieren. Und sofortig umsetzbar ist eine gesellschaftliche Wertschätzung für Sozialarbeiter*innen, unbezahlte Care-Arbeiter*innen, Supermarktverkäufer*innen, Spätis und Gesundheitsarbeiter*innen.

Viertens: Einspruch und Widerspruch, wenn Sicherheitskräfte Wohnungslose jetzt von der Straße entfernen und Geflüchtete in Lagern einsperren. Wie sieht unsere Taktik zur Öffnung der für den Normalbetrieb gesperrten Hotels aus, in Absprache mit der Sozialen Arbeit und den Betroffenen? Viele Sozialarbeiter*innen wollen jetzt auch weiterarbeiten, weil ihre Klient*innen sonst einmal mehr doppelt angegriffen werden – wir sollten ein Angebot formulieren. Jede*r Linke, der*die jetzt denkt, es ist gut, dass die Bullen die Wohnungslosen ansprechen: it sucks. Menschen wollen sich selbstbestimmt schützen, also auch Wohnungslose!

Fünftens: All diese Fragen dürfen nicht weiter national geklärt werden. Wo sind unsere internationalen Strukturen? Wie Mario und Maximilian zurecht im Freitag schrieben, ist diese Krise einmal mehr eine, die auf nationale Organisation und Abschottung zielt.

Zum Abschluss – Die Frage der Schuld vorausschauend denken

Wer wird am Ende schuldig sein? Diese Frage müssen wir in unseren Strukturen diskutieren und uns wappnen. Regierungen, Unternehmer*innen, Rechte – am Ende darf kein Wohnungsloser, keine Geflüchtete und keine zusammengesponnene Gruppe Jugendlicher, die sich nicht an die Regeln gehalten hat, dafür verantwortlich gemacht werden. Stattdessen muss der Fokus darauf gelegt werden, dass ein kaputtes System Menschen hat sterben lassen. Die Linke muss in dieser Situation mehr können als Diskurspolitik – aber diesen Diskurs darf sie nicht verlieren.

Leseempfehlung: Vieles konnte hier nur verkürzt dargestellt werden. Wer mehr wissen will, dem*der sei zum Beispiel eine Einführung in die materialistische Staatspolitik, die bei der RosaLuxemburg-Stiftung erschienen ist, ans Herz gelegt.

Autorin: Hannah Eberle ist in der IL Berlin und beim #unteilbar-Bündnis aktiv und arbeitet wissenschaftlich zu Fragen von Sozialstaatlichkeit.

Bild: Explored! von Dylan Luder.