Kampf um den Impfstoff

Weltweit wird fieberhaft an einem Impfstoff gegen SARS-CoV-2 geforscht. Wenn er denn erst einmal zugelassen und verfügbar ist, hoffentlich schon Anfang kommenden Jahres, hat auch der Corona-Spuk ein Ende. Das ist zumindest die weit verbreitete Annahme und Hoffnung vieler Menschen – und wahrscheinlich ein ziemlicher Trugschluss, argumentiert unser Berliner Genosse Daniel

Das Patent

Das multilaterale Handelssystem, das ab den 1990er Jahren geschaffen wurde, ist Ausdruck der Machtstrukturen des globalisierten Kapitalismus. Die USA und EU haben die wirtschaftlichen Interessen ihrer Großkonzerne gegen die Interessen der Länder und Bevölkerungen des globalen Südens durchgesetzt und darin festgeschrieben. Das TRIPS-Abkommen (Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights) ist Teil dieses Systems. Es etabliert und reguliert die soziale Konstruktion des »geistigen Eigentums« auf globaler Ebene und damit eine der grundlegenden Verwertungsvoraussetzungen des postmodernen »informationellen« Kapitalismus. Die TRIPS-Regulation greift dabei auch für Medikamente und Impfstoffe. Wirkstoffe und deren Grundlage wie biologische Organismen, Gene oder Gen-Sequenzen und teilweise auch diagnostische und therapeutische Verfahren, die auf ihnen basieren, werden patentiert und damit der Zugriff darauf monopolisiert. Die Regelungen des Abkommens wurden in nationales und EU-Recht gegossen. Der Streitschlichtungsmechanismus der WTO greift bei internationalen Auseinandersetzungen um die Auslegung des Abkommens.

Machtlose WHO

Die WHO stellt sich in der Corona-Krise gegen diese Auffassung und Sicherung von geistigem Eigentum. Sie hat sich Mitte Mai in der Resolution ihrer Jahrestagung dafür ausgesprochen, den Impfstoff als globales öffentliches Gut allen Menschen zur Verfügung zu stellen. Leider ist das bislang nichts weiter als ein frommer Wunsch. Formal betrachtet sind Resolutionen der WHO, obwohl eine UN-Organisation, nicht völkerrechtlich bindend wie beispielsweise Resolutionen des UN-Sicherheitsrates. Auch praktisch zeigte sich diese Machtlosigkeit, als die WHO Ende Mai zusammen mit 35 Ländern den sogenannten »Covid-19 Technology Access Pool« (C-TAP) vorgestellte. Diese Initiative soll die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung zum Medikamenten und Impfstoffen gegen SARS-CoV-2 bündeln und öffentlich zugänglich machen, um die Entwicklung der Präparate zu beschleunigen und sie letztendlich als globales öffentliches Gut zur Verfügung zu stellen. Aber allein die Liste der Initiator*innen und Unterstützer*innen und der Ablauf der Pressekonferenz zum Launch von C-TAP machen deutlich, wie marginalisiert diese Auffassung vom Impfstoff als globalem öffentlichen Gut ist. Nachdem der Generalsekretär der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus als erster auf der Pressekonferenz zur Vorstellung von C-TAP gesprochen hatte, sprach Carlos Alvarado Quesada, Präsident von Costa Rica gefolgt von Mia Amor Mottley, Premierministerin von Barbados. Mit Costa Rica und Barbados als machtpolitischer Basis jedenfalls wird sich der Anspruch auf den Impfstoff als globales öffentliches Gut nicht durchsetzen lassen. Der offizielle Rückzug der USA aus der WHO kann auch als Reaktion auf die Initiative C-TAP interpretiert werden, als Ablehnung der dahinterstehenden Idee des Open Source in der Biotechnologie.

Das Wettrennen

Anfang Juni 2020 waren bereits zehn Impfstoff-Präparate in der klinischen Testphase. Das heißt, sie werden bereits an Menschen getestet. Dabei werden acht dieser zehn Präparate von oder unter Beteiligung von US-amerikanischen oder chinesischen Pharmakonzernen entwickelt. Der Kampf China vs. USA um die globale Vormachtstellung spiegelt sich auch an der »Front« der Impfstoffentwicklung wieder. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn der Impfstoff wird ein Instrument globaler Macht werden. Die Fortführung der »America-First«-Politik auch in Bezug auf den Impfstoff und dessen Einsatz als zusätzlicher Machtfaktor des US-Unilateralismus des maximalen Drucks scheint wesentlich plausibler als ein Umschwenken der US-Administration in einen Modus globaler Kooperation. Im März diesen Jahres hatte Trump die Offerte gemacht, einen möglichen Impfstoff der Tübinger Firma CureVac für die USA zu sichern. Obwohl der Vorstoß zurückgewiesen wurde, macht er beispielhaft deutlich wie die US-Regierung in dieser Sache denkt und handelt.

Konstellationen

Die Profitinteressen von Big Pharma sind für die US-Administration von zu großer Bedeutung, um sich auf so etwas wie C-TAP einzulassen. Die Konzerne gelten als wichtige Sponsoren für die US-Präsidentschaftswahl, und zwar für beide politischen Lager. Darüber hinaus scheint der Griff zum globalen Machtinstrument Impfstoff zu verführerisch für Trump. Die Präsidentschaftswahlen finden Anfang November statt. Sollte es Trump respektive einem US-Pharmakonzern gelingen bis dahin glaubhaft zu machen, dass sie den Impfstoff als erste haben werden und die US-amerikanische Bevölkerung (oder zumindest die Ober- und Mittelschicht) zuerst zu versorgen, kann das die Chancen auf eine zweite Amtszeit Trumps deutlich erhöhen. Er wäre der Retter der Nation. Demgegenüber stehen die Länder und Bevölkerungen des globalen Südens, die weder die Technologie der Impfstoffentwicklung besitzen noch die finanziellen Möglichkeiten für den Zugriff auf einen patentrechtlich monopolisierten und damit teuren Impfstoff. Sollte China den Impfstoff als erste Partei entwickeln, ist die Chance, dass er allgemein zugänglich wird, jedenfalls wesentlich größer als bei den USA. Andererseits könnte China das Präparat ebenfalls als zusätzliche Machtressource nutzen, um sich beispielsweise den aggressiven Unilateralismus der USA vom Leibe zu halten. Wie sich die EU in dieser Frage verhalten wird, ist weithin unklar. Merkel hatte zwar gesagt, ein künftiger Impfstoff müsse allen zur Verfügung stehen, und unter Federführung der EU-Kommission fand eine große Online-Geber-Konferenz zur weiteren Finanzierung der Entwicklung statt. Aber dies sagt erstmal noch nichts darüber aus, wie der Impfstoff kapitalistisch reguliert wird und hat bisher auch nicht dazu geführt, dass Deutschland die C-TAP-Initiative der WHO unterstützt hätte. Mit BioNTech gibt es auch einen deutschen Biotechnologiekonzern, der an einer Impfstoffentwicklung beteiligt ist, die sich bereits in der klinischen Erprobungsphase befindet.

Perspektiven der Vergesellschaftung und globale Kämpfe

Dieser Kampf weist weit über die akute Auseinandersetzung um den Impfstoff hinaus. Im Kern geht es in diesem Konflikt darum, die gegenwärtige globale Regulation der Eigentumsverhältnisse in Frage zu stellen und statt ihrer das Konzept der Vergesellschaftung und des globalen öffentlichen Guts zu setzen. Im Prinzip ist es dieselbe Auseinandersetzung wie sie schon von und in der globalisierungskritischen Bewegung in den frühen 2000er Jahren gegen die WTO-Handelsabkommen geführt worden ist. In der Situation der globalen Pandemie erlangt sie eine neue Dringlichkeit und ein neues Möglichkeitsfenster.

Von der Entwicklung, vom Zugriff auf und der Verteilung des Impfstoffs wird vieles abhängen. Wie viele Menschen weltweit sterben werden, wie weit die Weltwirtschaft noch einbrechen wird – davon wird unter Umständen auch abhängen, welche Politiker*innen gewählt werden. Das spricht eher für eine hohe Intensität der kommenden Auseinandersetzung. Sie kann zu einer wichtigen Etappe im Kampf zwischen den USA und China um die Vorherrschaft im Weltsystem werden. Und zugleich weitet der Kampf um den Impfstoff den politischen Horizont. Ein Großteil der Erdbevölkerung hat ein gemeinsames Interesse am günstigen Zugriff auf den Impfstoff. Eine globale Bündniskonstellation scheint möglich. Auch die radikale Linke muss sich auf diese kommende Auseinandersetzung vorbereiten. Globale Diskursinterventionen, Schutzkampagnen gegen international agierende Pharmakonzerne, Diebstahl und Schmuggel des Impfstoffs werden vielleicht schon sehr bald viel konkretere Szenarien und potenzielle Betätigungsfelder für Aktivist*innen überall auf der Welt werden als derzeit viele annehmen.

Autor: Daniel Seiffert ist organisiert in der iL Berlin.

Bild: Ein 100$ Geldschein in einer Spritze mit Injektionsnadel, von Marco Verch.