Der Coronavirus, die aktuelle Lage und die Zukunft


Ein Interview mit Toni Negri

Vor wenigen Tagen gab Toni Negri dem Radiosender Onda D`Urto ein Interview über Corona und mögliche Folgen der Krise. Negri äußert darin nicht nur Hoffnung für ein Europa, das in Zukunft eine Politik im Sinne des Gemeinwesens betreibt, sondern denkt auch über die Möglichkeiten der sozialen Kämpfe nach: »Wir müssen uns die soziale Reproduktion des Gemeinwesens aneignen.« Hier lest ihr die deutsche Fassung des Interviews.

Wie siehst du die aktuelle Situation - die COVID-19 Pandemie? Entlarvt sie die neoliberalen Politiken und die inneren Widersprüche im Kapitalismus oder ist das zu simpel gedacht?

Naja, ich weiss nicht, ob es einfach oder komplex sei, aber mir scheint es wahr. Der Neoliberalismus hat einen Deckel von gewaltiger Kraft auf die wirtschaftliche und politische Entwicklung unserer Länder gelegt. Es gab einen finanziellen Deckel, der bis in die kleinsten Details kontrolliert wurde und der einer Struktur der Produktion und der Reproduktion folgte, die immer breiter und komplexer wurde, und in der ohne Zweifel sowohl natürliche als auch produktive Elemente - d.h. zwei mal natürlich - eingebettet wurden.

Heute ist das Zusammenspiel zwischen dieser Muschel [im Sinne einer Hülle; Anm. d. Ü.] der finanziellen Kontrolle und der Muschel der menschlichen Interaktion - d.h. zwischen produktiven und reproduktiven Verhältnissen - ausgesetzt worden. In dieser Krise werden die Prozesse des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der Produktion von Reichtum und Leben unterbunden. Die kapitalistischen Verhältnisse, die die Produktion und die Reproduktion abdecken sollten, werden als hinderlich für die reale Entwicklung erkannt.

Ich halte das, angesichts der Rede von Ursula von der Leyen, für einen sehr wichtigen Punkt. Sie sagt, dass sich die reale Ökonomie jetzt selbstständig fortbewegen solle und dass wir ihr folgen werden müssen. Das ist einerseits erstaunlich, andererseits explosiv. Erstaunlich, weil sie erkennt, dass so wie die Situation bisher gelaufen ist, nicht mehr einzudämmen ist. Explosiv, weil sie konkrete Räume für gemeinschaftliche Antworten und Programme öffnet. Wir müssen selbstverständlich schauen, was es bedeutet.

Um zurück zu deiner Frage zu kehren: es ist eindeutig, dass der Neoliberalismus an einen kritischen Punkt angelangt ist. Das hat einerseits auch mit dieser seltsamen Sache, mit diesem Virus zu tun, der tödlich ist, und keineswegs etwas mit einer normalen Grippe zu tun hat - das wäre schön! - und uns alle betrifft. Dieser Virus ruft in jeder Hinsicht undenkbare Notstände hervor. Andererseits, wird diese Krise der neoliberalen Leistungsfähigkeit auch von anderen Sachen wie z.B. der Kontinuität der sozialen Kämpfen gegen den Neoliberalismus begleitet, die z.B. in Frankreich und Großbritannien gewaltig gewesen sind.

Schon bevor es die Angst gab, dass sich die Situation in Frankreich so wie in Italien weiterentwickeln wird, musste Macron vor den Kämpfen der gilet jaunes, d.h. der Gelbwestenbewegung, und der Gewerkschaften zittern. Diese haben die Situation für ihn unkontrollierbar gemacht, sodass er gezwungen wurde, die Rentenreform zurückzuziehen. Aktuelle Kämpfe haben in vielen Ländern eine entscheidende Rolle darin gespielt, dass am Ende repressive Maßnahmen gegen soziale Bewegungen eingestellt wurden. Diese Kämpfe waren auch in Italien massiv, sowohl in den Betrieben, als auch z.B. bei Amazon, wie mir berichtet wurde.

In Frankreich sehen wir die aktuelle Situation als eine, in der sich die Grenzen der neoliberalen Politiken verschieben. Dies sowohl im Verhältnis zur Natur - wie z.B. die Umweltverschmutzung und alles Weitere, was hinter dieser Pandemie steckt - als auch im Verhältnis zur Produktionsweise, deren Ausbeutung extreme Ausmaße angenommen hat. Diese neoliberalen Politiken sehen wir als einen Angriff auf die Reproduktion und auf das Gemeinwesen, sei es im Schul- oder Gesundheitsbereich, und das uns über alles wichtig ist und wir soweit wie möglich erweitern möchten. Dieser Angriff war heftig, aber er kam jetzt durch die aktuelle Krise zur Ruhe. Diese Lage öffnet unseren Kämpfen eine Richtung, die wir nehmen sollen.

Wir werden nachher nochmal zu den Kämpfen kehren. Du hast vorher von der Leyen zitiert: die EU sagt aktuell, sie habe keinen Mandat, um sich um ein europaweites Gesundheitswesen zu kümmern. Geht die EU gerade das Risiko ein, einen politischen Untergang zu erleben?

Ich finde, sie haben die richtige Entscheidung getroffen, Geld wieder fließen zu lassen. Wenn wir über Europa sprechen, reden wir nicht nur über eine politische Einheit, sondern auch über die Währung und über das Bankwesen. Daher ist die Entscheidung, Geld fließen zu lassen, mehr als willkommen. Willkommen und Notwendig. Es ist eindeutig, wie heute der Kampf gegen COVID-19 auf einem allgemeineren Feld stärker geführt werden kann, unabhängig von Unterschieden zwischen den Methoden und zwischen den Interventionsformen. Sicher, der Coronavirus stößt mit einer Unabwendbarkeit auf uns, die fürchterlich ist. Wenn ich von Paris aus verfolge, was in Italien passiert ist, sehe ich nun hier eine Situation, die es so vor ein paar Tagen in Italien gab. Es sind beeindruckende Zustände.

Europa hat kein gemeinsames Gesundheitssystem, aber teilt ähnliche Probleme. Wir haben alle gelernt, wie viele Atemgeräte es in Italien, Frankreich und Deutschland gibt. Italien hat z.B. mehr Atemgeräte als Frankreich. Hier in Frankreich hat z.B. keiner damit gerechnet, dass das italienische Gesundheitssystem im Vergleich zum französischen weiterentwickelt wäre. Das ist neu. Genauso neu ist es, dass Europa ausgezeichnete Mittel hat, um ähnliche Situationen zu bewältigen.

Wir fragen uns jetzt, was passieren wird, wenn diese Pest vorbei sein wird. Die EU wird sich wieder neu sortieren. Wenn ich ehrlich sein darf, hoffe ich aber, dass sich die EU auf Basis ihres effektiven Kerns einheitlich fortbewegen wird, womit ich Zentraleuropa meine - Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien. Also, ich hoffe, dass es entlang der Anerkennung und Weiterentwicklung all dieser Merkmalen passieren wird, die sich in dieser Phase profiliert haben.

Wir beobachten, wie sich die Situation von Anfang an entwickelt hat und wie sich weltweit die Bewältigungsmethoden hinsichtlich der Pandemie unterschieden haben: Einerseits diese Malthusianische bzw. Darwinistische Methode - die am Beispiel Johnson und Trump zu beobachten ist; andererseits die europäische Methode, die sich auf dem Zusammenhalten des Gemeinwesens, auf der Achtsamkeit und auf der Prävention basiert. Falls die europäische Methode durchhält, könnte sie zu einem Modell werden. Das ist auch die Methode, die in China angewendet wurde.

An dieser Stelle wird es sehr interessant. Insbesondere wenn wir berücksichtigen, wie in der letzten Zeit die atlantischen Beziehungen durch Trumps Politiken beschädigt und geschwächt wurden. In dieser Hinsicht stellt sich in der jetzigen Situation eine von vielen Möglichkeiten ein, die diese Krise geschaffen hat und die wir mit besonderer Aufmerksamkeit beobachten müssen. Es gibt einen großen Teil der Weltbevölkerung, der die Fehler der Vergangenheit nicht wieder machen, sondern diese Unterbrechung nutzen will, um erneuert daraus hervorzugehen.

Was wir jetzt dringend brauchen, ist die Ausarbeitung eines breiten Massendiskurses, der keineswegs extreme Katastrophenszenarien - wie »Wir sind alle hier am Anfang einer Katastrophe, schau wohin der Kapitalismus uns gebracht hat usw.« - wiederholt. Stopp mit diesen Diskursen! Im Gegenteil, lasst uns gemeinsam verstehen, dass diese Krise eine innere und notwendige Krise des Kapitals ist, in die wir intervenieren müssen.

Um diesen Aspekt zu vertiefen: oft verweilen wir bei einer Analyse des Kapitals, die die Boshaftigkeit des Systems betont, anstatt Momente des kollektiven Kampfes zu organisieren und zu reproduzieren. Im Zusammenhang mit dem, was Du vorher sagtest, könnte sodann die europäische Ebene - zusammen mit den lokalen Kämpfen - , diejenige Ebene sein, auf der wir einen Diskurs über das Gesundheitswesen, über die Wohlfahrt und über die Umverteilung des Reichtums artikulieren, um zu vermeiden, dass diese Krise genauso wie die 2008 ausgeht?

An dieser Stelle glaube ich, dass ein Ausgang aus der Krise wie 2008 gar nicht möglich ist. Die 2008er-Krise war eine finanzielle Krise, diese hier ist eine reale Krise. 2008 haben die Betriebe und die Fabriken die Produktion nicht reduziert. Sie wurden vielleicht an manchen Stellen dazu gezwungen, weil das Finanzwesen nicht reaktionsfähig war. Die Finanzmechanismen wurden unterbrochen, während die Nachfrage nach Konsumartikeln konstant geblieben ist. Mit der heutigen Krise befinde wir uns in einer Situation, in der die Fabriken nicht in der Lage sein werden, die Nachfrage zu erfüllen. Das ist das größte Problem, mit dem wir konfrontiert sein werden.

Hier öffnet sich aber auch die Möglichkeit, die Produktion anders zu gestalten und daher einen Diskurs über die soziale Reproduktion einzuführen. Wir müssen uns die soziale Reproduktion des Gemeinwesens aneignen. Das ist unser Imperativ in dieser Krise! Die Aneignung der Reproduktion. An dieser Stelle müssen wir von den feministischen und von den - sorry, wenn ich diesen Begriff nutze - avantgardistischen Kämpfen lernen, die – wie jene von den gilet jeunes in Frankreich – eher Förderkämpfe sind. Diese Kämpfen gehen vom Gemeinwesen aus und stellen neben sehr starken demokratischen auch starke antikapitalistische Inhalten vor. In diesen Kämpfen sind wir heute in der Lage kollektiv zu sprechen und Massendiskurse einzubringen.

Wir richten uns dabei nicht an einzelne Fabrikbesitzer, um sie zu bitten an der einen oder anderen Stelle uns entgegen zu kommen. Wir bewegen uns nicht mehr auf einer keynesianischen Ebene, sondern auf der Ebene des Wiederaufbaus des gemeinsamen sozialen Gewebes der Reproduktion.

Was heute auf der Ebene der digitalen Kommunikation - z.B. Skype - passiert, ist sehr interessant. Wir beobachten radikale Veränderungen in der interindividuellen und in der kollektiven Kommunikation: wir lernen, was es bedeutet, Gefühle, Affektivität, Lebensfreude, Produktionsbedürfnisse von einer individuellen auf eine kollektive Ebene zu bringen. Diese Prozesse sind extrem relevant und finden trotz der Misere der Situation statt. Diese Aspekte müssen wir in die sozialen Kämpfe mitnehmen.

Nach Deiner Meinung, diese seltsame Situation, die du beschreibst, mit anderen Technologien kommunizieren zu müssen, die Unmöglichkeit sich zu sehen und die Notwendigkeit Interventions- und Organisierungsprozesse einzuleiten, könnte eine Chance darstellen, um Kampfformen zu artikulieren, die mit der Vergangenheit brechen?

Ich hoffe ja. Ich sage dir, ich bin alt, ich bin inzwischen 87. Ich kann mich an Kämpfe erinnern, die dicht nebeneinander geführt wurden. Das war nicht, um sich zu grüßen, sonder um sich gegenseitig Kraft zu geben. Das war die Körperlichkeit der Kämpfe. Dieses Element war damals so grundlegend, dass es mir heute sehr schwer fällt, mir etwas anderes vorzustellen. Ich bin aber überzeugt, dass die marxistische Abstraktion der Arbeit und die marxistische Abstraktion der Gemeinschaft zu einem zentralen Element in den Kämpfen um den general intellect werden können, d.h. in den Kämpfen die im Feld der Kommunikation entwickelt werden.

Ich bin aus einer theoretischen Perspektive sicher, dass es funktionieren könnte. Angesichts meines Alters erlaube ich mir dabei eine Fehlergrenze. Ich kann diesen Punkt nicht für selbstverständlich halten, wie vielleicht viele junge Genossen, die mir sagen, man führe heute die Kämpfe anders. Naja, ich werde dabei vielleicht nicht in der ersten Reihe, sondern am Ende stehen – aber ich werde sicherlich da sein.

Eine letzte Frage noch. In Italien haben wir gesehen, wie die Regierung einerseits von der Idee besessen ist, die Pandemie einzudämmen und andererseits den Willen zeigt, die Fabriken, die Logistik - wie die Riders in den Städten - und die Finanzmärkte am Laufen zu halten. Dieses Modell wurde stark von den wilden Streiks infrage gestellt, die in vielen Betrieben stattgefunden haben und die die Aktionsform des Streiks auch in diesem Notstand, in dieser Krise wieder aktuell gemacht haben.

Ist das eine Frage? Was möchtest Du genau wissen?

Ja, die Frage ist, ob Du dieser Deutung zustimmt und ob das auch ein Bruchelement mit der Vergangenheit darstellt.

Ich glaube es stimmt. Ich bin davon überzeugt. Ich habe es auch am Anfang gesagt. Ich glaube, es ist eine Tatsache, dass diese Kämpfe um die Produktion geführt werden. Und damit meine ich natürlich nicht nur die Fabriken, sondern auch die produktive Gesellschaft als Ganzes; nicht nur ihre Zirkulation, sondern auch ihre Reproduktion. Diese Aspekte fangen erst jetzt an, auch statistisch erfasst zu werden. In diesem Feld sind die sozialen Kämpfe und damit auch die Aktionsform des Streiks zentral.

Es war eigentlich immer so, wenn wir es zurückverfolgen. Der Streik erzielt nicht nur die Destrukturierung und die Destabilisierung. Neben diesen zwei Elementen steht auch das Konzept von Entwicklung und Aufbau, das zum Teil bereits in der Struktur der Produktion beinhaltet ist: Das ist die Kommunikation, das gemeinschaftliche Teilen. Die Aneignung der Produktionsströme wie die der Reproduktionsströme ist nicht genug. Wir müssen sie vergesellschaften.

Die Frauen wissen es genau, dass es nicht nur um die Selbstbefreiung oder darum geht, Kinder frei auf die Welt bringen zu können, sondern um den Aufbau von Gemeinschaften, in denen die Erziehung und das Aufwachsen von Kindern möglich ist und in den die Frauen sich befreien können. Selbstbefreiung und Aufbau haben hier die gleiche Bedeutung: das stellt die Aktualität des Themas dar.

Was ist ein Streik? Der Streik ist die Unterbrechung der Produktionsverhältnisse. Eine Unterbrechung, die über die Verhinderung der Verhältnisse verhandelt. Die neokapitalistischen Maschinen sind Scheißmaschinen, die auch die Strömungen des Begehrens blockieren. Wenn wir diese Maschinen unterbrechen, müssen wir dann gemeinsam das Begehren um die Produktion und um das Zusammensein wieder finden. Nach der Krise kommt nicht der degrowth, sondern eine andere Form des Wachstums. Es ist das Gleiche wie mit der Ökologie: wir kehren nicht zurück in ein Leben im Wald, sondern wir schaffen die Möglichkeiten, mit dem Wald zu leben.

Toni, danke für deine Zeit!

Quelle: Die italienische Originalfassung könnt ihr auf der Seite von Radio Onda D´Urto nachhören.

Die Übersetzung stammt von einer iL-Genossin.

Autor: Toni Negri ist ein bekannter italienischer postoperaistischer Marxist. Spätestens mit seinen Werken Empire, Multitude und Commonwealth, die er zusammen mit dem Literaturtheoretiker Michael Hardt verfasste, wurde er auch außerhalb Italiens und Europas bekannt.