von Systemkrise Corona!? tags Solidarität soziale Kämpfe Krise(n) Datum Mar 2020
zuAus dem Herzen der Bestie. Die Genos*innen vom Laboratorio Occupato Morion in Venedig sagen: Sozial handeln statt social distancing – Kollektivität statt Isolation! Erstveröffentlicht am 12. März 2020 bei www.globalproject.info.
Vorbemerkung d.Ü.: 1630 wütete im damals unter spanischer Herrschaft stehenden Mailand die Pest. 60.000 Menschen starben, etwa die Hälfte der Stadtbevölkerung. In einem von Misstrauen und Aberglauben dominierten Klima denunzierte eine Mailänderin den Gesundheitskommissar Guglielmo Piazza. Er habe sich von dem Barbier Gian Giacomo Mora eine Salbe herstellen lassen, die er auf Türen auftrage, um absichtlich die Pest zu verbreiten. Piazza und Mora wurden als »untori« bezeichnet, als Giftsalber. Sie gestanden ihre angebliche Schuld unter Folter und wurden grausam hingerichtet. Der Laden des Barbiers Mora wurde zerstört, am selben Ort wurde stattdessen ein Mahnmal als Warnung an andere Giftsalber errichtet, eine „colonna infame“, eine »Schandsäule«. Der italienische Schriftsteller Alessandro Manzoni erinnerte 200 Jahre später an die unschuldigen Opfer der Hetzstimmung und Justizwillkür in einer von der Epidemie befallenen Stadt. Er verarbeitete die historischen Geschehnisse in einem Roman unter dem Titel »La storia della colonna infame« (dt.: »Die Geschichte der Schandsäule«) und in seinem Hauptwerk »I Promessi Sposi«, dem in Italien bekanntesten Roman der Literaturgeschichte. Hier wird an einer Stelle der zu Unrecht beschuldigte Protagonist mit den Worten angeschrien: »Dagli all‘untore!« »Packt den Giftsalber!«
»Dalli all‘untore!« – »Packt den Giftsalber!« Oder: Die Rückkehr der Schandsäule in Zeiten der digitalen Quarantäne.
Erste Prämisse. Wir sind keine Verschwörungstheoretiker*innen. Zweite Prämisse, nur um Missverständnisse zu vermeiden. Wir sind uns der gegenwärtigen medizinischen Notlage bewusst und davon überzeugt, unsere Gewohnheiten ändern zu müssen. In diesem Sinne haben wir entschieden, Veranstaltungen und Konzerte abzusagen, unseren Teil beizusteuern um zu verhindern, dass sich die Lage angesichts eines ohnehin angeschlagenen Gesundheitssystems verschlimmert. Weiterhin stellen wir eine Hilfsaktion auf die Beine für die am schwersten Betroffenen in der Stadt, das heißt insbesondere die älteren Menschen. All das ist ok, wir wissen es, und wir tun es. Und dennoch... Und dennoch sind wir ein Kollektiv, eine Gemeinschaft bestehend aus Männern und Frauen, Jungen und weniger Jungen, Arbeiter*innen und Wissenschaftler*innen, Student*innen und prekären Selbstständigen, Heteros, Schwulen und Lesben, Cisgender und Queeren. Wir sind verschieden, aber alle sind wir es gewohnt zusammen zu leben, nicht nur viel zu telefonieren, viel zu chatten, viel zu schreiben. Unser Leben ist geprägt von Versammlungen, Treffen, Demos, Aktionen, Reisen, Besetzungen, von gemeinsamen Frühstücken, Mittag- und Abendessen. Wir studieren (oft zusammen) und arbeiten (manchmal zusammen, um unsere Jobs erträglicher zu machen). Wir lieben uns, wir hassen uns, wir vertragen uns, wir streiten uns, zusammen haben wir großartige Sachen gemacht, zusammen haben wir Scheiße gebaut.
Ihr werdet also unsere Verwirrung nachvollziehen, angesichts eines Dispositivs, in dem das Gemeinwohl mit einer zunehmenden Begrenzung vieler Formen des gemeinschaftlichen Lebens gleichgesetzt wird, insbesondere derjenigen, die auf einer autonomen sozialen Kooperation basieren. Wir denken hier an die – mit Ausnahme einiger Orte von Arbeit und Konsum – abrupte Unterbrechung jedes gesellschaftlichen Lebens, das nicht durch digitale Technologie vermittelt wird.
Jetzt werdet ihr sagen, übertreibt doch nicht mit eurer Scheiße. Es geht um einen Monat, macht euch doch nicht zu totalen Idioten. Ok, haben wir verstanden, und wir verweisen euch auf die zweite Prämisse oben.
Ihr werdet aber verstehen, dass wir nicht stehen bleiben können auf der Ebene des medizinisch Offenkundigen, angesichts einer Epidemie, in der der Ausnahmezustand nicht in erster Linie (zumindest noch nicht) über repressive Durchsetzung funktioniert, sondern vor allem durch die Selbstauferlegung eines Lebens in Isolation und die Produktion eines weit verbreiteten Gefühls von Schuldzuweisung und Selbstschuldzuweisung im Sozialen. Ein Gefühl, das sich vor allem auf die »Giftsalber« bezieht und allzu oft die systemischen Ursachen vergisst, die auf die aktuelle Krise unglaublich stark einwirken. Natürlich haben junge Menschen die Pflicht, sich ihres Privilegs im Vergleich zu den Älteren bewusst zu sein, nichts ist dagegen zu sagen, aber Privilegien sind eine komplexe Angelegenheit. Zuhause zu bleiben beispielsweise, impliziert das Privileg ein Zuhause zu haben. Etwas, das die Migrant*innen an der türkisch-griechischen Grenze nicht haben, die vom Militär und faschistischen Banden mit Push-Backs zurückgewiesen und umgebracht werden. Ein Zuhause ist etwas, dass weder die Migrant*innen in den Abschiebelagern haben (über die aktuellen Zustände dort erfährt man nichts) noch die einheimischen Wohnungslosen. Und auch nicht die Gefangenen in den Knästen, die zurecht revoltieren, die aber von der digitalen öffentlichen Meinung verurteilt werden, von Leuten, die von ihren gemütlichen Sofas aus sich einen Scheiß für diese Schwachen und Subalternen interessieren. Die Wut auf diejenigen, die nicht zu Hause bleiben, scheint uns unverhältnismäßig im Vergleich zu der Wut auf diejenigen, die unser öffentliches Gesundheitssystem seit Jahrzehnten demontiert haben. Und es erscheint uns bedeutsam, mit welcher Schwierigkeit jeder Versuch der Kontextualisierung verbunden ist. Warum sind wir zum Beispiel nicht so verärgert über die zehntausenden Todesfälle, die jedes Jahr durch Luftverschmutzung verursacht werden? Sie sind nicht weniger tot als die Anderen, sie sind keine virtuellen Toten.
Es ist daher nicht ein mangelndes Bewusstsein oder noch schlimmer das Privileg der Jugend, das uns zu weiteren Überlegungen drängt, zu der Notwendigkeit, nicht bei der ersten und einfachsten Ebene der Verantwortung, der Isolation, stehen zu bleiben. Es geht um eine Herausforderung die vorübergehen wird und wir passen uns an (wir sind nicht hypnotisiert von der Ideologie). Aber diese Zeit des Coronavirus ist aus unserer Sicht wie eine erschreckende präfigurative Übung. Sie nimmt eine Zukunft vorweg, in die wir wie durch ein Fenster hineinschauen können. Eine Zukunft in der die Gesellschaft noch mehr atomisiert, individualisiert, entmaterialisiert, diszipliniert und selbstdisziplinierend ist.
Das bedeutet nicht, dass die Herrschenden das Corona-Virus gewollt hätten, dass sie nicht versucht hätten seine Ausbreitung zu verhindern. Es bedeutet auch nicht, dass man sich im Angesicht der Krankheit frei von Verantwortung fühlen sollte. Aber, für jeden, der mit Entsetzen am Horizont eine selbstdisziplinierte, sozial atomisierte und hyperproduktive, denunzierende und verarmte Gesellschaft erblickt, ist jetzt die Zeit zum Handeln und Denken gekommen. Wir müssen schnellstens unsere sozialen Antikörper finden, um zu verhindern, dass zu viele Elemente dieses dystopischen Bildes nach dem Notstand in die Realität umgesetzt werden.
Wer in den heutigen Zeiten die sozialen Netzwerke frequentiert, hat nicht wenig Anlass zur Sorge. Shitstorms in den sozialen Medien greifen jede Form einer kollektiven Antwort auf die Corona-Krise an. Alles, was nicht mit dem Hashtag #iorestoacasa (#ichbleibezuhause) kompatibel ist, ruft öffentlich zur Schau gestellte Bestürzung hervor, die verächtlichsten Urteile werden gefällt, begleitet von Beleidigungen und offen geäußerten Wünsche nach einem schmerzhaften Tod. Man kritisiert vor allem die Verantwortungslosigkeit und Arroganz einer privilegierten Jugend, die die Schwächsten und Ältesten nicht berücksichtigen würde.
Es ist für uns nicht einfach die Posts und Kommentare zu lesen, es ist als würde man eintauchen in die digitale Melasse unserer Zeit, ein soziales Amalgam, das aus den Anhänger*innen eines souveränistischen Italien Sexisten, den Moralaposteln (von links und rechts) des radical chic, und, verschweigen wir es nicht, auch Aktivist*innen, Militanten und Ex-Militanten besteht, die (offensichtlich) zu Waisenkindern ihrer einstigen politischen Gemeinschaft wurden, und jetzt allein mit sich selbst auf Facebook sind. Das Coronavirus hat ein Wunder bewirkt, in dieser digitalen Sphäre finden sie alle endlich zusammen: der gebildete Progressive und der Souveränist, der Fahnenträger der Wissenschaft und der männliche Chauvinist, der junge »Verantwortungsbewusste« und diejenigen, die fragwürdige meritokratische Kriterien für die Heilung anwenden.
Das Coronavirus produziert aus sozialer Sicht zwei scheinbar gegensätzliche,vergiftete Früchte. Die erste Frucht ist die weithin gefürchtete Psychose, die zweite (aus anthropologischer Sicht besorgniserregendere) ist eine allgemein um sich greifende Selbstdisziplinierung innerhalb einer bereits stark atomisierten und individualisierten Gesellschaft. Es gibt heute eine subtile Grenze zwischen der Aufforderung, Verantwortungsbewusstsein für die kollektive Gesundheit zu zeigen, und der freiwilligen Reduktion jede*r Einzelnen von uns auf eine* individualisierte* Verteidiger*in (auch unbewusst) von Staatsräson und nationaler Einigkeit. Tatsächlich erleben wir eine entmutigende Überlappung dieser spannungsreichen Pole und der beste Ort dies zu beobachten sind die sozialen Medien.
Man könnte sagen, dass es in Wirklichkeit keinen Gegensatz gibt zwischen den Paradigmen der Biomacht und des Ausnahmezustands. Aus einer politischen Perspektive betrachtet können wir nicht übersehen, wie die Aufforderung, die kollektive Verantwortung für die Verlangsamung der Infektionsrate durch Isolation zu übernehmen, tatsächlich als selbstdisziplinierende Biomacht fungiert, in perfekter Harmonie mit dem Ausnahmezustand, der uns vor ein paar Tagen im Stil einer italienischen Farce auferlegt wurde. Es ist jedoch eine Farce, die uns ein Stück weit weniger frei zurücklässt als zuvor.
Während zu Zeiten der Schandsäule, der Pest noch mit organisierten religiösen Prozessionen zum Zweck der Erlösung begegnet wurde, wissen wir heute, dass öffentliche Versammlungen gefährlich sind. Eine Sache hat sich jedoch nicht geändert, die hässliche Gewohnheit der Multitude auf die Giftsalber zu zeigen. Im 17. Jahrhundert übernahm mit Unterstützung der Herrschenden die Gemeinschaft der Prozessionsteilnehmer*innen diese Aufgabe, heute wird sie auf die digitale Sphäre übertragen. Und die digitale Community ist ein nicht so bedeutungsleerer Ausdruck, wie wir manchmal geneigt sind anzunehmen. Also auf geht‘s! “Packt den Giftsalber!“ Packt diejenigen, die sich treffen, die diskutieren, die sich zusammen mit anderen nicht paralysieren lassen vom Terror. In dieser Erzählung wird der voraussichtliche Zusammenbruch des öffentlichen Gesundheitssystems in Italien vollständig der Figur des Deserteurs zugeschrieben. In Zeiten, in denen sich die institutionelle Sprache militarisiert, ist der Verräter nicht derjenige, der die Bevölkerung entwaffnet, die Luft jahrzehntelang verschmutzt, die öffentliche Gesundheit geschwächt hat, sondern derjenige, der die politischen Tatsachen hinter dem medizinischen Dispositiv beleuchtet, und der versucht andere Formen gemeinschaftlichen Lebens inmitten der Krise zu finden.
Gewisse Unvorsichtigkeiten in unserer Art zu leben (die wir heute bereit sind zu ändern) und gewisse Unvorsichtigkeiten in unserem Denken, sind nicht das Ergebnis einer unbekümmerten ignoranten Dummheit, im Gegenteil, sie konstituieren die politischen Spannungen zur Verteidigung einer Dimension des Kollektiven, eines Zusammenkommens, das ein Dispositiv der Freude bekräftigt.
Das der Freude ist ein altes spinozistisches Werkzeug, mit dem wir die Intensivierung der Fähigkeit zu handeln und zu denken beschreiben. Eine Intensivierung, die nur in der Begegnung, in der Zuneigung zu Körpern, zwischen Körpern stattfindet. Ja, denn im Gegensatz zum schlechten Gewissen der sozialen Netzwerke (die eine digitale Agglomeration mit gewichtigen anthropologischen Auswirkungen sind), eingeschlossen in ihrer verurteilenden und trägen Modalität, ein Echo der öffentlichen Parole, des Ausnahmezustands, der Staatsräson, finden wir gemeinsam denkend die Kraft zu handeln. Die Kraft, die uns die anhaltende Epidemie der Isolation gestohlen hat.
Wie soll man die Reduzierung der Komplexität des Diskurses auf den medizinischen Diskurs alleine akzeptieren? Eine solche Reduktion bedeutet in diesem Moment den Verzicht auf eine libertäre und kollektive Position. Sich einer solchen Reduktion zu widersetzen, ist keine leichtfertige Wahl (noch bedeutet sie eine mangelnde Anerkennung der großartigen Arbeit des Personals im medizinischen Sektor), sie ist aber aus unserer Sicht eine notwendige Wahl.
Im Übrigen zeigt uns die Stimmung in den sozialen Netzwerken, dass die Verantwortung, die öffentliche Parole, die Verflechtung von Wissenschaft und konstituierter Macht zu überwinden, von den digitalen Individuen nicht übernommen werden kann. Sie sind zu informiert, zu ängstlich, zu durchsichtig, zu sehr gefangen in der Falle der Selbstgefälligkeit sich ständig auszudrücken.
Im Jahr 2003, in der Zeit von Bushs »unendlicher Gerechtigkeit«, beklagte Jacques Rancière, dass wir in die Zeit einer »ethischen Wende der Politik« eingetreten seien. Mit dieser Formel meinte er das Ende der Politik als eines Bereichs, in dem sich unterschiedliche Moral, unterschiedliche Rechte und sogar unterschiedliche Gewalten gegenüberstanden. Das Ende dieser Ära ließ Raum für eine Phase der Unterschiedslosigkeit, in der die neoliberale Weltordnung die Herrschaft übernahm und abstrakt Gut und Böse, Gerechtigkeit und Terror gegenüberstellte. Dem Dissens, dem Salz in der Politik, folgte eine monolithische Gesellschaft, die auf Konsens beruhte. Heutzutage sind die Umstände sehr unterschiedlich, aber die gesellschaftlichen Wirkungen teils ähnlich. Die mit der Krankheit konfrontierte Gesellschaft besteht nicht mehr aus Differenzen und Gegensätzen, sondern aus einer Summe von Individuen, in der die Asymmetrien annulliert werden, unter dem Gewicht des Terrors der Pandemie verschwinden. Natürlich will die populäre Meinung, dass unsere Ältesten gegen die Disziplinlosigkeit unserer jungen Leute verteidigt werden, aber diejenigen, die »nicht unsere« sind, die Migrant*innen, Gefangenen, die Armen, leiden unter der vollständigsten Ausgrenzung, der vollständigsten Unsichtbarkeit.
In der Zeit seit Rancières Text hat der Ausnahmezustand seine globale Dimension nicht eingebüßt, aber wir stimmen mit dem französischen Philosophen darin überein, dass der Horizont von Agamben einer messianischen Erlösung am Ende einer unendlichen Katastrophe, unzureichend ist. Wir bemühen uns weiterhin um eine mögliche Praxis radikaler Politik und Dissens, auch jetzt noch, selbst hier, aus dem Zentrum einer der roten Zonen. Unsere Unvorsichtigkeit ist nicht die Frucht der Verantwortungslosigkeit, wenn überhaupt das Gegenteil.
Wir haben die Verantwortung übernommen, diesen Diskurs zu brechen, der, im Bewusstsein einer Ausnahmesituation, am Ende nicht nur die kollektive Gesundheit schützt, sondern auch den Konsens und die Vereinigung unter das Kommando und das Wissen der Experten bekräftigt. Wir sehen in diesen Tagen, wie sich alle diese Elemente mit großer Klarheit entfalten.
Wir sprechen also diejenigen an, die noch nicht durch Angst gelähmt sind: Was sollen wir tun? Diejenigen fertig machen, die sich organisieren, die noch ausgehen? Oder sollen wir uns vielleicht zusammen organisieren, um in Venedig, Mailand oder Rom zu protestieren (womöglich mit einer Maske und in sicherer Entfernung zueinander), um zu fordern, dass Schluss gemacht wird mit der zehnjährigen Desinvestition im Gesundheitssektor?
Die Region Veneto, von der Lega Nord regiert, hat seit vielen Jahren dazu beigetragen, die Situation zu verschärfen. Während es gemäß den Ministerialbestimmungen einen Anspruch auf 3,7 Betten pro 1000 Einwohner gibt, hat der Regierungspräsident Luca Zaia von der Lega zur Einhaltung dieser Richtlinie proportional viel mehr Betten für gesetzlich als für privat versicherte gestrichen. Theoretisch sind die Ressourcen des privaten Sektors für die öffentliche Gesundheit im Notfall verfügbar, aber nutzen wir diese Ressourcen voll aus? Zu wenig ist bekannt. Nehmen wir das Ministerialdekret Nr. 70 von 2015, es ordnet unter anderem an, dass die Anzahl der Krankenhausbetten im Verhältnis zur Einwohnerzahl festgesetzt wird. Dieses Kriterium ist völlig unzureichend. Betten und Dienstleistungen müssen auch nach anderen Faktoren wie dem Alter (Venedig ist beispielsweise eine im Durchschnitt »ältere« Stadt) und den häufigsten Krankheiten definiert werden. Während es stimmt, dass die Quarantäne historisch in der venezianischen Lagune erfunden wurde, gibt es heute kein epidemiologisches Zentrum in der Stadt.
Warum versteckte sich der Bürgermeister von Venedig und richtete keine Task Force ein, um auf den Notfall zu reagieren? Warum gibt es keine Menschen, die den berühmten »Schwächeren« helfen, die vor allem Ältere sind? Natürlich organisieren wir uns, um Menschen in Schwierigkeiten (zumindest denen unseres Viertels) beim Kauf von Lebensmitteln oder Medikamenten zu helfen, wobei wir darauf achten, immer sicher mit ihnen in Kontakt zu treten, d.h. eine Maske und Handschuhe zu tragen. In dieser Hinsicht bleibt jedoch ein beschämendes institutionelles Vakuum bestehen. Sollten wir nicht zusätzlich zu dem, was die Regierung bereits getan hat, noch viel mehr Investitionen und unverzügliche Neueinstellungen im Bereich der öffentlichen Gesundheit fordern?
Sind wir daher sozial in der Lage, neben der Forderung nach Isolation, mit Blick auf die nächste Epidemie einen notwendigen Kurswechsel in der Gesundheitspolitik durchzusetzen? Sollten wir uns dann nicht dem Problem stellen, einen politischen Raum auf dem Gebiet der Biotechnologie zu öffnen (oder wieder zu öffnen), einem globalen Markt, auf dem es normal ist, im Namen der Kommerzialisierung des Lebens mit Viren und Genvektoren zu experimentieren?
Sollten wir schlussendlich nicht in der Lage sein, wie von der ADL (einer Basisgewerkschaft) vorgeschlagen, ein Quarantäneeinkommen zu erkämpfen für alle prekären Beschäftigten aller Sektoren, die von der Blockade der öffentlichen Aktivitäten betroffen sind? Und wenn alles aufhört, müssen die Arbeiterinnen und Arbeiter wieder dafür bezahlen? Alles, um den Unternehmerverband Confindustria glücklich zu machen?
Wir haben die Antwort auf diese Fragen gegeben. Das eigentliche Problem scheint uns, dass sich zu viele diese Fragen nicht einmal gestellt haben.
Autorin: Das venezianische Kollektiv Laboratorio Occupato Morion ist soziales Zentrum inmitten einer der ersten roten Isolationszonen Italiens.
Übersetzung: Alex, IL Düsseldorf [see red!]
Bild:»La caccia all'untore« (1984) von Nina Lupica // »Die Jagd nach dem Giftsalber«, aus der Erstveröffentlichung übernommen