Wem gehört der 8. Mai?


Eine Replik auf den Aufruf »Ihr seid keine Sicherheit!«

In den vergangenen beiden Jahren wurde der 8. Mai nicht nur als Tag der Befreiung vom deutschen Faschismus begangen, sondern auch als Tag gegen Rassismus und für die Entnazifizierung der Sicherheitsbehörden neu angeeignet. In diesem Text fordert David Kowalski mehr Geschichtsbewusstsein von diesen Aufrufen sowieso ein übergreifenderes Verständnis des 8. Mai als ein Tag des Antifaschismus.

Den 8. Mai 1945 erlebten meine Großeltern an unterschiedlichen Orten. Die einen waren in Lublin, bis wohin sie als Teil der Roten Armee im Kampf gegen die Wehrmacht vorgestoßen sind. Die anderen verbrachten das Kriegsende in Paris. Als Teil der Resistance hatten sie aus dem Untergrund heraus gegen die deutsche Besatzung gekämpft. Der 8. bzw. 9. Mai 1945 war ein bedeutender Tag in ihren Leben. Der Faschismus war besiegt, die Zukunft stand wieder offen. Ob sie am Tag der deutschen Kapitulation feierten, ist mir nicht bekannt. Angesichts des Ausmaßes der Zerstörung, der Ermordung zahlreicher Angehörigen im Holocaust und dem Verlust der eigenen Kinder war ihnen vielleicht nicht danach zumute. In jeden Fall war es ein denkwürdiger Tag.

Staatstragendes Gedenken

Inzwischen ist das Gedenken an das Kriegsende und die Millionen von Opfern des Nationalsozialismus zur deutschen Staatsräson geworden. Der 8. Mai wird in großen Teilen der Gesellschaft als »Tag der Befreiung« verstanden. Bis hierhin war es ein langer Weg. An ihm lässt sich beispielhaft die Entwicklung der bundesrepublikanischen Erinnerungspolitik und des nationalen Selbstverständnisses nachzeichnen.

Denn zumindest in der alten Bundesrepublik galt die Kapitulation lange Zeit als Niederlage und Demütigung. Die nationalsozialistische Ideologie verschwand schließlich nicht von einem auf den anderen Tag und personelle Kontinuitäten zogen sich durch alle Gesellschaftsbereiche. Daher musste die heute vorherrschende Gedenkkultur gegen diese Kontinuitäten erkämpft werden. Als Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede am 8. Mai 1985 vom »Tag der Befreiung« sprach, war dies auch ein Ergebnis verschiedener politischer und juristischer Kämpfe von Holocaust Überlebenden, Exilant*innen oder auch den 68er*innen.

Ein solches Verständnis von der deutschen Kapitulation muss gegen rechte Umdeutungen vehement verteidigt werden. Denn die deutsche Kapitulation als Befreiung zu feiern, den Tag beispielsweise zu einem Feiertag zu ernennen, wie in Berlin 2020, deutet auf eine tatsächliche Verschiebung des gesellschaftlichen Bewusstseins hin – freilich eine ambivalente. Es gehört zur »Wiedergutwerdung der Deutschen« (Eike Geisel), sich der historischen Schuld bewusst zu sein, Rassismus und Antisemitismus abzulehnen. Daraus speist sich der neue Nationalstolz. Staatliches Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus verkommt zur deutschen Selbstvergewisserung. »(…) wer einen Schlussstrich fordert,« mahnt Bundespräsident Steinmeier etwa 2020 anlässlich des 8. Mai, »der verdrängt nicht nur die Katastrophe von Krieg und NS-Diktatur. Der entwertet auch all das Gute, das wir seither errungen haben – der verleugnet sogar den Wesenskern unserer Demokratie.« Es geht beim staatstragenden Gedenken – und der 8. Mai steht hier nur beispielhaft für die allgemeine deutsche Erinnerungskultur an die nationalsozialistischen Verbrechen – also stets auch um die Inszenierung eines geläuterten Deutschlands. Bedeutete der 8. Mai 1945 noch die Öffnung eines Zukunftshorizonts, zementieren heutige Gedenkfeiern seine Schließung: Das seit 1990 wiedervereinigte Deutschland hat aus seiner Geschichte gelernt und steht jetzt für Antisemitismuskritik und Demokratie. Happy End.

8. Mai als antirassistischer Aktionstag

Angesichts der vielen Opfer der rechtsterroristischen Angriffe der letzten Jahre, der langen Untätigkeit des Staates gegenüber rechten Strukturen im Militär und den Sicherheitsbehörden wie auch der rassistischen Migrationspolitik mit tausenden Todesopfern erscheint diese Erzählung wie eine Farce. »Ihr seid keine Sicherheit!« entgegnete daher der von einem breiten antirassistischen Berliner Bündnis getragene Aufruf zum diesjährigen 8. Mai den Sicherheitsbehörden. Es kritisiert das Rassismusproblem der Polizei und fordert die sofortige Entnazifizierung der Sicherheitsbehörden. Bereits im letzten Jahr hatten antirassistische Gruppen den 8. Mai umgedeutet und zum bundesweiten Aktionstag gegen Rassismus deklariert, u.a. getragen von Migrantifa oder auch dem »We’ll come United«-Bündnis. Zurecht wurde die Selbstinszenierung des geläuterten Deutschlands kritisiert und die Erzählung von der erfolgreichen Aufarbeitung des Nationalsozialismus hinterfragt. Der mörderische rassistische und antisemitische Alltag in Deutschland gibt hierfür genügend Gründe.

Fehlendes historisches Bewusstsein

So treffend die Kritik an den gegenwärtigen Zuständen auch ist, weisen diese Aufrufe erinnerungspolitisch dennoch in eine falsche Richtung. Der diesjährige Aufruf, der von über 60 Berliner Initiativen und Gruppen unterschrieben wurde, darunter Migrantifa, Fridays for Future, IL, Ende Gelände, TOP Berlin, EOTO oder auch VVN-BdA, benennt lediglich im ersten Satz noch den 8. Mai 1945 und den Nationalsozialismus, stellt im weiteren Verlauf aber keinerlei historischen Bezug mehr her. Weder werden die Millionen Todesopfer deutscher Gewaltherrschaft erinnert noch auf die Kämpfe gegen Kontinuitäten und um Erinnerung der Nachkriegszeit verwiesen. Der Aufruf interessiert sich nicht für Geschichte und nicht für das Gewordensein der heutigen Situation. Warum wurde dann ausgerechnet der 8. Mai, ein solch historischer Tag, als Datum für den Aktionstag gewählt?

Die Geschichtslosigkeit des Aufrufs zeigt sich auch in der thematischen Engführung auf das Thema Rassismus. Der Rassenwahn war zwar eine tragende Säule des Nationalsozialismus, der Antisemitismus aber ebenso. Letzteren nur nebensächlich in den Aufrufen zu behandeln, deutet auf ein fehlendes Problembewusstsein hin. Eine jüdische Perspektive ist aus den Aufrufen ohnehin nicht herauszulesen. Hier wird wieder einmal ein blinder Fleck antirassistischer Bewegungen sichtbar.

Gemeinsam Erinnern, gemeinsam Kämpfen

Doch die nationalsozialistische Ideologie war auch mehr als Antisemitismus und Rassismus. Die Vorstellung einer gesunden, exklusiven und auch politisch homogenen »Volksgemeinschaft« machte viele Personen und Gruppen zu »Feinden«. Auf dieser Grundlage verfolgten und ermordeten die Nazis Millionen von Menschen in Deutschland und Europa – beginnend mit Kommunist*innen und Sozialdemokrat*innen. Für all die Überlebenden war der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung. Sich ihrer zu erinnern, ihre Perspektiven einzubeziehen und angesichts der Monstrosität der deutschen Verbrechen für einen Moment inne zu halten, sollte Ausgangspunkt jeder politischen Bezugnahme auf den 8. Mai sein. Erst dann kann die politische Aktualisierung folgen. Angesichts der Vielzahl an unterschiedlichen gesellschaftlichen wie auch politischen Gruppen, für die der 8. Mai eine Befreiung oder ein Tag des Sieges darstellte, eignet sich das Datum besonders, um eine identitätspolitische Spaltung innerhalb der Linken aufzubrechen, fragmentierte Kämpfe zusammenzubringen und sich der gemeinsam politischen Ziele bewusst zu werden.

Der 8. Mai sollte nicht nur ein Aktionstag gegen Rassismus und auch nicht allein gegen Antisemitismus sein. Er sollte vielmehr wieder als das verstanden werden, was er 1945 war: Ein Tag des Antifaschismus.

Autor*in: David Kowalski lebt in Berlin und bedankt sich bei Franzi, Anna und Doris für die vielen erkenntnisreichen Diskussionen zum Thema und wichtigen Anregungen zum Text.

Bild: El Lissitzky (1890-1941) - Proun. Via Antonio Marín Segovia.