Die Klassenfrage ist (heute wieder) die Organisierungsfrage!

Der folgende Beitrag möchte sich nicht einreihen in das analytisch-theoretische Ping-Pong Spiel über die Frage nach der richtigen Klassenzusammensetzung oder dem richtigen Klassenbegriff. Stattdessen argumentiert Hannah Eberle, dass Klassenauseinandersetzungen für die Formulierung eines linken Projekts notwendiger sind denn je – und die (radikale) Linke wieder mal bei der Organisierungsfrage angegkommen ist.

Warum wir einen Klassenstandpunkt brauchen

Mario Neumann und Sandro Mezzadra argumentieren, dass die Klassenfrage aktuell als »Wiederbelebung des nationalen Wohlfahrtsstaates« diskutiert wird und damit nichts anderes ist, als eine Politik, die letztlich zurück zu einem nationalen Sozialstaat will. Dies werfen sie der Partei DIE LINKE ebenso wie der radikalen Linken vor. Natürlich kann es nicht Aufgabe der radikalen Linken sein, eine andere Sozialpolitik im Bestehenden einzufordern. Es wirkt jedoch arrogant, die alltäglichen realen Sorgen derjenigen zu negieren, die am härtesten von den Ausbeutungs- und Erniedrigungsmechanismen des Kapitalismus betroffen sind – und die neuen Klassenüberlegungen auf das »nostalgische Gerede vom Wohlfahrtstaat« zu reduzieren. Aus Sicht der Betroffenen lässt sich die Frage, was eigentlich falsch ist am Bedürfnis nach einem Staat, der sich kümmert, durchaus nachvollziehen.

Völlig richtig dagegen analysieren Mario und Sandro, dass spätestens seit dem Sommer der Migration die globale soziale Frage in das Innere Europas eingetreten ist. Leider ohne große Beachtung der radikalen Linken, aber deswegen nicht weniger wichtig, tut sie das auch beispielsweise bei der erpresserischen Afrikapolitik der G20, die erst im Juni in Berlin wieder verhandelt wurde. Die soziale Frage stellt sich ebenso bei der europäischen Migration, wenn besonders Frauen* aus ost- und südeuropäischen Ländern in den Pflege- und Betreuungsberufen ausgebeutet werden. Sebastian Friedrich dekliniert in seinem Beitrag die einzelnen Auseinandersetzungen durch. Ich stimme zu; wer die soziale Frage noch immer weiß, männlich und abgehängt diskutiert, hat nicht aus dem Fenster geschaut. Das sollte kein Konfliktpunkt der radikalen Linken sein – vielleicht ist es leider manchmal einer bei der LINKEN.

Einen weiteren, aus meiner Sicht unnötigen Konfliktpunk, konstruieren Mario und Sandro bei der Feststellung, dass die Linke einen Handschlag mit den Neoliberalen gewagt hat. Auch Sebastian betont: Ein notwendiges Eingeständnis dessen wird die Linke nicht mehr oder weniger glaubhaft machen. Glaubhaft wäre es, wenn wir versuchen, endlich einen eigenen, sichtbaren Standpunkt in der politischen Gemengelage einzunehmen und uns so tatsächlich an die Seite all derer zu stellen, die von politisch gewollten sozialen Verteilungskämpfen und dem künstlich hervorgerufenen, aber realen »Wettkampf um die Ressourcen« (Keenga.Yamahtta Taylor, ak 627) betroffen sind.

Was wir (nicht) tun

Es gibt genügend Abscheulichkeiten, die uns auf die dringliche Aufgabe hinweisen, als eine starke und polarisierende Linke auf die ungebrochene Inwertsetzung und den Klassenkampf von oben zu reagieren. Ein Blick auf den erschreckenden Ausbau der Armutsverwaltung in Form von Hartz IV, den Normalzustand von Massenunterkünften für Geflüchtete oder der ungebrochen menschenunwürdigen Sparpolitik (Austerität), ausgehend von Deutschland und der EU, genügt. Seit 1917 und dann seit 1968 hat sich viel verändert. Übrig bleibt, dass international trotz Krisen (die Hegemoniekrisen sein können) und trotz aktuellen Neuordnungen in den elitären Klassen, die Linke selbst derzeit eher Elendsverwaltung betreibt. Als 2016 Andrea Nahles harte Gesetzesverschärfungen im Besonderen für Alleinerziehende, für Migrant*innen, Geflüchtete, aber auch Langzeitarbeitslose durchsetzte und als sozial verkaufte, blieb die Linke einmal mehr stumm. Sie hatte es wieder einmal verpasst, hier eine Gemeinsamkeit herzustellen und Aktionen so umzusetzen, dass sich Menschen überhaupt darauf beziehen konnten. Kurzum, sie ist weder an der Seite der von Perspektivlosigkeit geprägten Menschen wahrnehmbar, noch hat sie eine Vision. Manchmal hat man das Gefühl, sie will es gar nicht.

Um beides zu verändern müsste der Hauptkonflikt der radikalen Linken sein, das Motiv der »materiellen Interessen« anzuerkennen und es eben nicht als Sozialpolitik abzustempeln oder wahlweise als Hirngespinst der alten Linken abzutun. Das Problem der mangelnden Politisierung der sozialen Frage – auch als globale Frage – und das Fehlen einer Artikulation dieser, lässt sich nicht durch Bewegungen für ein verändertes Wahlrecht oder eine Gesetzesgrundlage für die Gleichheit von Frauen* und Männern lösen. Fehlende Mitsprache und Teilhabe hat etwas mit den Verhältnissen zu tun, aus denen wir kommen. Es ist eben eine Klassenfrage und ausgerechnet diese sollen wir nach Mario und Sandro der Sozialpolitik der Linkspartei überlassen?

Was heißt es, heute die materiellen Interessen anzuerkennen und zu politisieren?

Das materielle Interesse ernst zu nehmen und zu politisieren, stellt die Linke vor eine Herausforderung. So muss sie auf der einen Seite reale Kämpfe mit führen. Alle, die dies schon einmal versucht haben, kennen die Zwickmühlen. Wie schnell trägt dann die radikale Linke die Forderungen nach einem günstigen Mietpreis oder nach einfach ein bisschen mehr Geld für Hilfskräfte mit. Auf der anderen Seite wiederholt die radikale Linke die Fehler der alten Linken, indem sie sich Sozialrevolution auf die Fahnen schreibt und darauf wartet, dass genügend mitmachen. Es reicht jedoch ebenso wenig aus, anstelle der Arbeiter*innenklasse auf Solidaritätsbewegungen wie die Willkommenskultur zu verweisen. Abstrakt mag es stimmen, dass gerade diese Solidaritätsbewegungen zeigen, dass es Polarisierungen und Anknüpfungspunkte von Kämpfen gibt. Doch die Linke muss sich und ihre Solidarität so organisieren, dass sie die systemischen Widersprüche in der Gesellschaft sichtbar und diskutierbar macht. Allein solidarische Praxen werden nicht die Grundfesten des Systems angreifen, das haben schon die kritischen Tafelbewegungen des letzten Jahrzehnts gezeigt. Der Markt und der Staat wissen sehr gut, wie sie Armut zu verwalten und zu organisieren haben – so werden neue Ausbeutungsmechanismen in Form eines dritten und vierten Arbeitsmarktes entstehen und das Dogma von »Fördern und Fordern« wird soweit umgesetzt, bis auch noch der letzte Langzeitarbeitslose sich den ganzen Tag bei irgendeiner Arbeit für 1 Euro die Beine in den Bauch steht. Das soll nicht das Motiv des einzelnen Subjekts in der »Armenhilfe« kritisieren, sondern die Linke, die dies jetzt heroisiert und auf die Solidaritätsbewegungen setzt, statt die materiellen Interesse der Vielen zum Ausgangspunkt ihrer Politik zu machen.

All das bedeutet meiner Ansicht nach, die Linke müsste eine deutliche Idee dessen entwickeln, was denn das »sozialistische Gesellschaftskonzept« heute heißen kann, von dem Sebastian schreibt, ohne es dann eben zu bestimmen. Dabei geht es nicht um die Formulierung eines fertigen Masterplans – was eine avantgardistische, selbstgefällige Haltung mit sich bringen würde – und erst Recht nicht an Parteikonstellationen oder an eingehegte Gewerkschafter anzuknüpfen. Aber es bedeutet ehrlich und konfliktfähig an der Seite derer zu stehen, die abgefuckt sind von den Verhältnissen. Es ist die Aufgabe der Linken, in den Klassenauseinandersetzungen den Anstoß zu geben, dass radikalere Aussagen oder eben Wut auf der Straße real möglich sind. Die Linke kann und sollte Mut geben. Diese Erfahrungen, dass tatsächlich zusammen gestanden wird und die radikale Linke sichtbar da ist, sind Legitimität und Baustein für alles, was danach angegriffen wird. Es ist dementsprechend nicht die relevante Aussage, dass Arbeiter*innenkinder in der Linken keinen Platz finden, wie es uns Sebastianmit erhobenem Zeigefinger weist. Es ist vielmehr die Feststellung dass die Linke nicht interessant, sondern langweilig ist – sie erstickt teilweise an ihrer eigenen Korrektheit und macht wenig Mut. Die Angst vor der eigenen Macht auf der Straße, die möglich wäre, die Angst vor der antagonistischen Stellung, ist letztlich auch eine bourgeoise Haltung.

Bevor wir im Klassenkampf einen relevanten Schritt nach vorne machen, wäre es doch ein Anfang, Ideen auszugraben, die wir uns schon längst nicht mehr anzufassen trauen: Warum nicht einmal in eines der sogenannten Villenviertel gehen und die Adressen der Ausbeutenden besuchen – aber nicht mit 50, sondern mit 400 Leuten? Warum beantworten wir die Frage nach Mieterhöhungen und Massenunterkünften nicht doch noch einmal mit massenhaften Besetzungsaktionen? Warum trauen wir uns nicht mal zu, eine Kulturveranstaltung zu organisieren, in der nicht alle »unsere Sprache« sprechen? Bei Problemen anzusetzen, heißt für mich immer, sich an Utopien zu orientieren und diese zu artikulieren: Wohnraum enteignen, damit niemand etwas zahlen oder in Massenunterkünften wohnen muss. Die Macht der deutschen Regierung und der G20 selbstbewusst aufdecken, weil da der Imperialismus in aller Schärfe umgesetzt und Fluchtursachen und Elend organisiert wird.

… und so landen wir bei der Organisierungsfrage

Mario und Sandro analysieren an einer Stelle zurecht, dass die Linke genau in die Falle tappt, sich lieber über die Abgrenzung untereinander zu definieren, als gemeinsam »die Interessen zu kollektivieren«. In aller Unterschiedlichkeit scheinen sich alle drei Autoren darin einig zu sein, dass Klasse nicht eine technische Frage ist. Während Sebastian sich auf E.P. Thompsen bezieht, machen Mario und Sandro klar, dass es nicht um ein »making of« geht, sondern die Zusammensetzung politisch bestimmbar sein muss. Um es tatsächlich zu schaffen, als Linke eine orientierende, selbstbewusste und nach außen wahrnehmbare Position darzustellen, wird sie sich zuerst zusammen reißen und an einen Tisch setzen müssen. Die gerade im Moment wieder zunehmende Abgrenzung von einander ist nichts anderes als identitär.

Bei aller Klarheit, die notwendig wäre, müsste es aber gerade um Einheit gehen. Um eine Einheit, die sich nicht in besonders breiten Bündnissen zeigt, sondern um eine Einheit aller radikalen Linken, die einen realen Umbruch erhoffen. Es gilt zu überlegen, wie die Kräfte an manchen Stellen gebündelt werden und eine hörbare Sprache in die Gesellschaft hinein entwickelt werden kann. Zusätzlich muss sich die Linke in ihren Organisationen (zumindest betrifft das uns selbst) gemäß der aktuellen Situation mit sozialrevolutionären/radikalen/kommunistischen Ideen auseinandersetzen, diese diskutieren und daraus ihre praktischen Schlüsse ziehen. Dazu gehört auch, sich zu fokussieren – alles ein bisschen nebenher zu machen und überall auf den fahrenden Zug aufzuspringen wird nicht die Orientierung geben, die wir organisieren müssen. Das Ziel muss es sein, eine Vision (oder doch mindestens den Hoffnungspunkt) zu entwickeln, ohne die auch wir gerade einfach nur in eine Mühle des Protests geraten (wie bei G20). Drittens – und das geht tatsächlich nur mit dem Bild einer neuen internationalen Vision: wir müssen die globale Auseinandersetzung führen und das bedeutet, die (Neu-)Ausrichtung der EU in der politischen Gemengelage viel massiver unter Druck setzen. Das Aufgeben von Blockupy als einem Akteur, der dies wahrnehmbar versucht hat, war ein Fehler – unabhängig davon, ob Blockupy noch mobilisieren konnte oder nicht.

Zum Abschluss bleibt ein düsteres Bild. Wenn die Linke sich nicht zu einem Akteur oder mindestens einem Projekt zusammenschließt (und damit meine ich wirklich nicht »alle in die IL«) wird sie nicht polarisierend bei denen wirken, die tatsächlich in Bewegung geraten sind – und sie bleibt bei denen irrelevant, die unabhängig ob mit oder ohne Papiere, mit oder ohne prekäre Arbeit, desillusioniert mit ihren materiellen Bedürfnissen alleine gelassen sind. Wenn wir nicht beginnen, die materiellen Sorgen von ALLEN ernst zu nehmen, sie zu thematisieren und unsere Projekte daran auszurichten, dann gewinnen falsche Alternativen rassistischer und chauvinistischer Kräfte und es wird sich in Angst und Hoffnungslosigkeit verloren werden. Kurz: die Möglichkeit politischer Veränderung wird unerreichbar. Die Sorge, dass es den eigenen Kindern in Europa heute schlechter gehen wird als einem selbst, ist unabhängig des Bruttoinlandprodukts real.

Hannah Eberle ist in der Krisen AG der Interventionistischen Linken Berlin, war lange bei Blockupy aktiv und hat sich in letzter Zeit viel mit der AfD beschäftigt. Gerade schreibt sie ihre Masterarbeit im Feld der Neuen Mitleidsökonomie.

Bild: »Ich kämpfe also bin ich« – Paris, Place de la Republique, während der Nuit debout-Bewegung, von Tessi