Jenseits von Interesse und Identität

»Alle reden von Klasse«. Auch die deutsche Linke beißt sich an ihr die Zähne aus – und meint damit allzu oft nicht mehr als die Wiederbelebung des nationalen Wohlfahrtsstaates. Statt sich jedoch nostalgisch an überholte und schon damals ausschließende politische Koordinaten zu klammern, gilt es heute Klassenpolitik anders zu denken: Als eine bewegte Politik der Solidarität und des Gemeinsamen.

Jenseits von Interesse und Identität

Frankreich, Eribon, Mélenchon. In Deutschland kommt man kaum noch runter von der französischen Projektionsfläche. Mehr noch: Die deutsche Linke scheint mittlerweile mehr über Frankreich zu reden als über sich selbst. Es geht dabei fast immer um die, die früher Arbeiter*innen waren und heute Rechtspopulismus wählen – und um die Frage, was die Politiken, die der Mai 68 hervorgebracht hat, damit zu tun haben. Hüben wie drüben scheint festzustehen, dass fast alle Probleme der Linken in einer mangelnden Politisierung der »sozialen Frage« liegen. Es geht dann um die Komplizenschaft der Neuen Linken mit dem »progressiven Neoliberalismus«. Und immer geht es um Wahlen in einem doppelten Sinne: Es geht vor allem um Wahlverhalten – und es geht eigentlich nur um diejenigen, die wählen dürfen.

Die soziale Frage: Sie war in der Tat nie weg. Ausbeutung und die Produktion von Armut sind strukturelle Merkmale des Kapitalismus. Allerdings gab es ein Zeitalter – das Zeitalter des demokratischen Wohlfahrtstaates –, in dem diese strukturellen Merkmale durch Arbeiterkämpfe und Sozialpolitik hier, in Frankreich und anderswo »gezähmt« wurden. Gleichzeitig wurden und werden die globalen Bedingungen dieser »Klassenkompromisse« oftmals verdrängt.

Wer ist eigentlich Klasse?

Dieses Zeitalter aber ist vorbei – und das nicht erst seit heute. Im Zeichen der Krise ist das in Europa und sogar in Deutschland eindeutig geworden. Und spätestens seit dem »Sommer der Migration« ist die globale »soziale Frage« auf eine radikale Weise durch die Bewegung der Migrant*innen erneut in das Innere Europas eingetreten. Wer fragt eigentlich was – könnte man daher sagen –, wenn es um die soziale Frage geht? War sie vielleicht nur für diejenigen weg, die sie in ihrem methodischen Nationalismus oder ihrer Verstrickung in den nationalen Wohlfahrtsstaat vergessen haben? Ist der Kampf der Frauenbewegung um gleiche Löhne etwa weniger eine Frage der Klasse als der Kampf um höhere Löhne bei der Deutschen Bahn? Ist die Bewegung der Geflüchteten, ihr Kampf um soziale Rechte und Teilhabe weniger Arbeiterklasse als die Sozialproteste gegen die Agenda 2010? Wo ist unten und wo ist die Klasse in einer Welt, in der die Brutalitäten der Agenda 2010 und des deutschen Niedriglohnmodells für unzählige Menschen Grund genug ist, auf dem Mittelmeer ihr Leben zu riskieren, um daran teilzuhaben?

Der lange Schatten des Wohlfahrtsstaates...

Das könnte ein Zentrum der gegenwärtigen Debatte sein. Ist es aber nicht. Vielmehr scheint etwas Altes zurückzukehren: Der Hauptwiderspruch – oder zumindest ein nostalgischer Reflex, der die Geschichte linker Politiken als Zerfallsprozess der »Arbeitereinheitsfront« beschreibt.

Einige behaupten gar, dass die gegenwärtige Krise der Linken einfach nur darin liege, dass linke Politik nicht mehr so wie früher sei; dass die »Identitätspolitik« das Ruder übernommen und indirekt die Fragmentierung der »Arbeiterklasse« zu verantworten habe. Eine zeitgemäße Politik der sozialen Frage soll also nicht bei einer Selbstkritik der institutionalisierten Arbeiter*innen-Bewegung, der Gewerkschaften oder der linken Parteien beginnen, sondern auf dem Rücken »liberaler Gleichstellungspolitik« ihre Orthodoxie erneuern, um sich endlich von den Politiken der Neuen Linken zu befreien. Es ist erstaunlich: Viele, die seit Jahrzehnten nichts anderes tun, als eine (oftmals hauptamtliche) Politik der sozialen Frage zu betreiben, reden heute so, als hätte es in den letzten Jahren ihre eigenen Politiken gar nicht gegeben.

Diese Linie führt im Wahljahr 2017 den Bundestagswahlkampf der LINKEN an. Sie ist eine direkte Fortsetzung traditioneller Hauptwiderspruchs-Schemata und des selektiven Ausschlusses eines Teils der Klasse aus der sozialen Frage: Frauen und Migrant*innen etwa spielten und spielen in ihr nur eine untergeordnete Rolle. Das gleich gilt für die Jugend. Das nostalgische Gerede vom demokratischen Wohlfahrtsstaat vergisst diejenigen, die sich heute auf dem Arbeitsmarkt mit ganz anderen Verhältnissen konfrontiert sehen, als dem was gemeinhin als »Normalarbeitsverhältnis« bezeichnet wird.

...und die unzureichenden Versuche seiner Erneuerung

Andere machen es sich immerhin nicht ganz so einfach. Sie bestehen auf der politischen Bedeutung der Neuen Sozialen Bewegungen und lehnen eine Politik des Hauptwiderspruchs entschieden ab. Gleichzeitig aber herrscht bei ihnen eine unübersehbare Ambivalenz: Während man politisch und normativ die »Identitätspolitiken« verteidigt, zeigt man sich gleichzeitig relativ unfähig, sie methodisch und theoretisch fruchtbar zu machen. So mischen sich nicht selten Bekenntnisse zu Antirassismus und Feminismus mit einem traditionsmarxistischen Register, das die Ursachen und Lösungen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Probleme letztlich doch in nationalstaatlichen Sozialpolitiken erblickt – und als Motiv politischer Bewegung eigentlich nur »materielle Interessen« kennt.

Fast durchweg findet sich hier auch ein Missverhältnis zwischen der Problematisierung identitätspolitischer Bewegungen einerseits und dem Verzicht auf fast jede Kritik der Gewerkschaftsbewegung und des Wohlfahrtsstaates andererseits. Nicht selten scheint es sich um Versuche einer erweiterten Hauptwiderspruchspolitik zu handeln: einer Politik also, die sich gegenüber den Neuen Sozialen Bewegungen zwar öffnet, das eigene weltanschauliche Fundament aber nicht systematisch weiterentwickelt. Sprachlich bildet sich dies dann in der Attribution der Klassenpolitik als einer »feministischen, antirassistischen und ökologischen Klassenpolitik« ab. Konstant bleibt jedoch die Vorstellung eines politischen Zentrums – Partei, Gewerkschaft, soziale Frage –, das sich an seinen Rändern dann gegenüber dem vermeintlich Neuen öffnen soll. Dem entspricht die ungebrochene Zentralität bestimmter Subjektivitäten, die in einer nicht weiter ausgeführten Vorstellung von der »Klasse« wurzeln, ohne diese konkret zu bestimmen und in ihren globalen Kontext einzuordnen.

Eribons Eltern

Stets geht es stattdessen fast ausschließlich um diejenigen, die teilweise auf eine fast schon schrille Weise die Arbeiter*innenklasse des Wohlfahrtstaates verkörpern. Das Zentrum der Diskussion sind Menschen, die so wie die Eltern von Didier Eribon sind. Unausgesprochen verbindet sich damit die Idee, was das wiederzuentdeckende Kerngeschäft der Linken sein sollte: Sozialpolitik, weitestgehend verstanden als Wiederauferstehung des nationalen Wohlfahrtsstaates. Darin scheinen sich die unterschiedlichsten Strömungen einig zu sein. Sie verbindet die idealisierte Vorstellung einer Vergangenheit, die es so niemals gegeben hat, mit der Fixierung auf jene Subjekte, die die Sehnsucht nach dieser Vergangenheit zu verkörpern scheinen. Und diese Fixierung ist allgegenwärtig. Wir haben zumindest keinen Zeitungsartikel gefunden, in dem beispielsweise erklärt würde, warum viele (wahlberechtigte) Migrant*innen oder Frauen die LINKE nicht wählen und was daraus für Konsequenzen zu ziehen sind.

Klasse, Soziale Frage und die Neue Linke

Trotz aller Unterschiede: Was »die soziale Frage« und was die »Klasse« ist, scheinen alle irgendwie für selbstverständlich und für besonders wichtig zu halten. Im gleichen Zug werden die beiden Begriffe synonym gesetzt. Wir allerdings möchten entschieden bestreiten, dass die in dieser Form gestellte Frage der Klasse, in deren Zentrum die Idealisierung des »Normalarbeitsverhältnisses«, des Wohlfahrtsstaates und der fordistischen Lebens- und Produktionsweise steht, heute tatsächlich automatisch auf eine Politik der sozialen Frage hinausläuft. Um es pointiert auszudrücken: Die ursprüngliche »soziale Frage« registriert zunächst in den 1830er Jahren das Auftauchen einer neuen Form der Massenarmut im Zuge der Industrialisierung. »Klasse« gilt dann (theoretisch mit Marx, politisch mit den Arbeiter*innenaufständen von 1848 und später mit der Pariser Kommune) als Inbegriff der antagonistischen Subjektivierung dieser Massenarmut in der Gestalt des Proletariats. Im ausgehenden 19. Jahrhundert wird die »soziale Frage« dann als Reaktion gegen diese aufständische Subjektivierung in eine Kategorie umgewandelt, die sie zum Gegenstand von Regierungspolitiken macht und den Raum für staatliche Sozialpolitiken eröffnet. Diese Geschichte der konflikthaften Einordnung der Arbeiter*innenbewegung gilt es zu rekonstruieren.

Von der Konstitutionalisierung der Arbeit…

Wir wollen jedoch darauf hinweisen, dass im Rahmen dieser Prozesse – die im 20. Jahrhundert nur vor dem Hintergrund der Sowjetrevolution verstehbar sind – ein Prozess der Konstitutionalisierung der Arbeit stattfand. Diese Konstitutionalisierung fand ihre politische Gestalt im Westeuropa der Nachkriegszeit in der Entstehung des demokratischen Wohlfahrtsstaates. Innerhalb dieses Prozesses und in dieser politischen Gestalt waren Arbeiter*innenkämpfe ein wichtiges dynamisches Moment und errangen bedeutende Siege. Gleichzeitig aber unterlag die Arbeiter*innenbewegung – ihre Gewerkschaften wie ihre Parteien – einem Prozess der wachsenden Verstaatlichung. Dabei wurde diejenige »Klasse«, deren Interessen es zu vertreten und durchzusetzen galt, auf eine objektivistische Weise eng mit den Interessen eines bestimmten Teils der industriellen Arbeiter*innenschaft identifiziert.

Für uns aber bleibt »Klasse« durch ein aufständisches Moment und durch die Erneuerung des Politischen geprägt, die ursprünglich dem Begriff innewohnten – und sich auch im Laufe der Konstitutionalisierung der Arbeit manifestiert haben. Deshalb sind das making of und die Zusammensetzung der Arbeiter*innenklasse für uns wesentliche Fragen. Und wie die history from below und der Operaismus uns lehren, ist dieses making of nicht technisch und auch nicht soziologisch, sondern wesentlich politisch bestimmbar. In dieser Hinsicht ist der Mai 68 – verstanden als globale Konjunktur der Revolte – eine entscheidende historische Schwelle für jede »Klassenpolitik«.

…zum Mai '68

Der Aufstand von Frauen und migrantischen Arbeiter*innen, die radikale Kritik der fordistischen Gesellschaft und Arbeitswelt (vor allem seitens der Jugend) haben einen neuen Erfahrungsraum eröffnet, innerhalb dessen eine neue Artikulation von Klassenpolitik möglich gemacht wurde. Mehr noch: Klasse wurde in diesen und durch diese Aufstände und Kritiken wieder zu einem Spannungsfeld, in dem die spezifischen Formen der selektiven Exklusion und Inklusion sichtbar werden, die die Politik der traditionellen Arbeiter*innenbewegung geprägt hatten.

Unbestritten: nach der Niederlage des Mai 68 wurde diese Klassenzusammensetzung auch zur Grundlage von neuen Regimen der kapitalistischen Akkumulation. Aber statt eine imaginäre Komplizenschaft des Mai 68 (oder seines mutmaßlichen Erbes, der »Identitätspolitik«) mit dem progressiven Neoliberalismus zu beklagen, gilt es, die stetige Veränderung dieser Klassenzusammensetzung zu untersuchen und praktisch an ihrer antagonistischen Politisierung zu arbeiten.

Identität und Interessen

Wir verkennen nicht, dass »Identitätspolitik« ihre ganz eigenen Probleme hat. Die Entwicklung von gesellschaftspolitischen Forderungen und Bewegungen, die zum Teil ausschließlich um spezifische »Identitäten« kreisen, ist für uns problematisch. Sie trennen jene Bewegungen von einer Klassenpolitik, in der sie oft eine ihrer wichtigsten Wurzeln haben (man denke nur an die Kämpfe der Fabrikarbeiter*innen bei General Motors oder der migrantischen Arbeiter*innen bei Ford). Aber abgesehen davon, dass auf dem Gebiet der »Identitätspolitik« – analog zu dem, was wir über die Arbeiter*innenbewegung zur Zeit des demokratischen Wohlfahrtsstaat geschrieben haben – wichtige Gewinne erkämpft worden sind, denken wir nicht, dass die Lösung der Probleme der »Identitätspolitik« auf dem Gebiet einer reinen »Interessenpolitik« liegt.

Das hängt einerseits damit zusammen, dass das Bild der »Interessenpolitik« zu tief durch die Erfahrungen einer vergangenen Zeit geprägt ist. Andererseits hat es aber auch damit zu tun, dass der unbedingt notwendige Kampf um materielle »Interessen« durch Hoffnungen und Erwartungen, durch Leidenschaften und Affekte – kurz, durch Subjektivierungsprozesse – durchkreuzt und gekennzeichnet ist. Und diese Subjektivierungsprozesse sind heute ein grundlegendes Kampffeld für eine Politik, die der gegenwärtigen Welt der Arbeit und des Lebens gewachsen sein möchte.

Politik der Solidarität: Klasse wird gemacht

Der Begriff der Subjektivität erfreut sich in weiten Teilen der deutschen Linken einer nur geringen Beliebtheit. Als Zentrum politischer Strategien wird weithin die Zugehörigkeit zu politischen Organisationen, die Wahlentscheidung, das nackte »Interesse« oder die Fähigkeit zum Aufsagen theoriepolitischer Wahrheiten angesehen. Gleichzeitig scheinen viele die Bedeutung kollektiver Subjektivitäten neuerdings anzuerkennen, wenn strategische Überlegungen zunehmend um die »urbanen Mittelschichten« oder die »Abgehängten« sowie ihre Verhaltens- und Denkweisen kreisen. Die ökonomistischen Zuschreibungen – hier die Unterklasse, da die privilegierten Bildungsbürger*innen – gehen indes nicht auf. Sie verkürzen das Ensemble der Subjektivität auf einen Effekt der ökonomischen Lage – mit teils verheerenden Kurzschlüssen. So wird nicht selten alles, was nicht unmittelbar zur Verfolgung eigener ökonomischer Interessen dient, als Mittelschichtspolitik oder Philanthropie diffamiert.

In Zeiten wachsender Individualisierung und inmitten der Kultur des Eigensinns und des Egoismus wird Klassenpolitik aber ganz sicher nicht nur eine Politik der »Interessen« sein können – und ebenso wenig der »Identität«. Ein linker Populismus à la Wagenknecht, der auf einen autoritären politischen Prozess hofft – neuerdings mit einer aggressiven Wendung hin zur Klassenpolitik, obwohl doch deren Zurückweisung der Ursprung des linkspopulistischen Diskurses war – ist zum Scheitern verurteilt, selbst wenn er kurzfristige Siege an der Wahlurne erzielen würde. »Klassenpolitik« ist heute demgegenüber nur denkbar als eine bewegte Politik der Solidarität und des Gemeinsamen, in der sich eigene Interessen kollektivieren und mit dem Verständnis für die Lage und Identität der Anderen mischen: als ein Prozess der Solidarisierung. Die Massivität der »Willkommensbewegung« verdeutlicht, dass es sich dabei nicht um einen linken Traum handelt, sondern um eine soziale Wirklichkeit. In ihr drückte sich eine Haltung der Solidarität aus, die mindestens ein kontinentales Phänomen ist und im Übrigen kein Phänomen des »Mittelstands«, wie z.B. die griechischen Erfahrungen zeigen.

Wir sind uns ganz sicher: Der Wunsch nach Gemeinsinn, die hohe Partizipation von Migrant*innen und Frauen, die Ausdehnung in Stadt und Land, die in den Praktiken der Willkommensbewegung augenscheinlich sind: All das sind massive Zeichen einer neuen solidarischen Subjektivität, die Ausgangspunkt einer Klassenpolitik auf der Höhe der Zeit sein sollte. Sie hat die sozialen Unterschiede zwischen den Subalternen produktiv gemacht, sie hat die Kollektivierung sozialer Schicksale ermöglicht, sie hat neue Kollektivität, nicht-staatliche Institutionen und auch politische Erfolge geschaffen. In diesen lebendigen Erfahrungen der Solidarität begründet sich die Klasse auf ihre eigene, zeitgemäße und kreative Weise – nicht auf den Schreibtischen der linken Programmwerkstätten. Deswegen muss, so glauben wir, Klassenpolitik von hier aus gedacht werden. Sie sollte bis zu Eribons Eltern durchdringen – dort beginnen kann sie nicht. The Times They Are A Changin’.

Mario Neumann lebt in Berlin, ist in der IL organisiert und war u.a. im Blockupy-Netzwerk aktiv.

Sandro Mezzadra ist Professor in Bologna und aktiv im Euro-Nomade-Kollektiv.

Der Text ist ein erster inhaltlicher Einblick in eine Flugschrift, die in Kürze im laika-Verlag erscheinen wird.

Bild "Desmanteladxs" CC BY-NC-ND 3.0 - M.A.f.I.A.