Für eine lebendige und leidenschaftliche Klassenpolitik

Der Kapitalismus greift zuletzt mit der Eroberung des Geistes erbarmungslos auf unsere Körper zu und trennt sie von unseren Leibern. Im Effekt machen wir uns selbst kaputt. Unsere Geschichten und Körper sind Kampffeld und wir sollten sie nutzen, um unsere eigene Verortung und Rolle in der gegenwärtigen Klassenzusammensetzung zu begreifen und zu politisieren. Sexualität, Liebe und wie wir soziale Beziehungen führen sind keine Nebenschauplätze, sondern können konkrete revolutionäre Praxis sein, um einen lebendigen Organismus zu schaffen, der von der Idee getragen ist, sich mit Menschen und Natur zu verfangen – um uns zuhause zu fühlen, um eine lebendige Klassenpolitik zu entfachen und uns die Zukunft zu erobern.

Für eine lebendige und leidenschaftliche Klassenpolitik

Connie, wenn wir auf die Welt kommen, schreien wir alle ach! Und ich! Die Fähigkeit, die wir erwerben müssen, ist für den anderen da zu sein, Beziehungen aufzubauen, zusammenzuarbeiten. Alles, was wir lernen, hat zum Ziel, daß wir ein starkes Selbstgefühl entwickeln und uns allem Lebendigen verbunden fühlen. Daß wir auf der Welt zu Hause sind.

Marge Piercy 1976: Die Frau am Abgrund der Zeit

Fragen wir nach aktueller Klassenpolitik, sollte nicht einer der zentralsten Fehler linker Organisierungen des letzten Jahrhunderts wiederholt werden, indem materielle Interessen der Arbeiterklasse (was sind überhaupt solche und wer definiert sie?) den vielfältigen Erfahrungen sozialer Ungleichheit gegenübergestellt werden, als seien sie nicht miteinander verwoben. Eine solche Gegenüberstellung schließt potenzielle Kompliz*innen aus und degradiert sie sogar zur Minderheit, indem noch immer an dieser »Arbeiterklasse« (zugespitzt weiß und männlich positioniert) festgehalten wird, die es nicht mehr gibt oder vielleicht sogar nie so gegeben hat. Schon der Begriff »Arbeiterklasse« greift zu kurz. Um dennoch klassenanalytisch Theorie und Praxis zu betreiben, kann uns der von Gramsci geprägte Begriff der Subalterne weiterhelfen. Denn die Widersprüche eines auf Antagonismen beruhenden Systems sind komplexer und lassen sich nicht allein auf Formen der Lohnarbeit beschränken. Nicht zuletzt, da die Grenzen zwischen Leben und Lohnarbeit längst verschwimmen. Ich greife Eribons Roman auf, der eine wunderbare Grundlage für eine Diskussion um Klasse im 21. Jahrhundert geliefert hat.

Danke Eribon!

Eribons Roman »Rückkehr nach Reims« ist ein Aufruf, die Frage nach sozialen Klassen aus den Tempeln abstrakter Strategiediskussionen zu befreien und eine offene Einladung, uns untereinander selbst zu befragen. Mit diesem Genuss habe ich zumindest die Lektüre erlebt. Selten erfuhr ich eine so ehrliche Einladung an die Linke. Eine Grundlage, die es möglich macht über Scham zu reden; eine Grundlage, die mutig erfahrene Beschädigungen in eigener Sozialgeschichte anspricht, die ein so grausames System wie Kapitalismus eben mit sich bringt. Mut, den Eribon zu einem Teil aus der Sicherheit ziehen kann, gehört zu werden und über Beschädigungen sprechen zu können, ohne dass sie als Gefühlsduselei und Befindlichkeit abgetan werden. Schade jedoch, dass nach einigen Veranstaltungen mit dem Autor in Deutschland mehr über die unerfüllten Erwartungen geredet wurde, als darüber, andere Salons zu schaffen, um seine Einladung anzunehmen. Da wurde Bedauern geäußert, einen Soziologievortrag gehört zu haben und dass man sich seine Person, »politischer gewünscht« hätte. Kann und muss ein Mensch, der es schafft über Scham, Klasse und Politik so anregend zu schreiben, dies dann unbedingt auch performen? Ist das nicht der eigene sehnsüchtige Wunsch, politisch ins Rollen zu kommen? Ein Wunsch, den man, der Einfachheit halber, gerne auf andere Personen projizieren mag? Haben wir uns gewünscht, dass da endlich jemand mit einem Masterplan zur Frage »Was tun?« daher kommen würde, wo wir doch eigentlich das undogmatische Verständnis vor uns her tragen, dass nur wir selbst, kollektiv einen solchen Plan entwickeln können? Es liegt (auch) an uns. Ich empfand die politischen Diskussionen um seinen Roman, die sich fast ausschließlich um das III. Kapitel seines Buches drehten, als sei es das Fetischcharakterkapitel im blauen, ersten Band des Kapitals von Marx und Engels, als sehr ernüchternd. Hat er doch das Scheitern linker Parteien und Organisationen nicht nur in diesem Kapitel behandelt, sondern eingebettet in eine Erzählung, die deutlich macht, was passiert, wenn eine Linke die subalternen Lebenswelten jenseits der Lohnarbeit nicht als politische Räume begreift.

Klassenpolitik ist Liebe

Eribon beschreibt die komplexen Familienspannungen und Brüche im Arbeiter*innenmilieu. Er schreibt von Abtreibungen als Konsequenz von Arbeiterinnen* , sich einer bürgerlichen Moral und damit einhergehenden Sexualvorstellungen zu entziehen. Sie nahmen sich ein kleines Stück Freiheit, indem sie sooft und (zum Teil) mit wem sie wollten vögelten, wie es Männer des selben Milieus im Übrigen ebenso taten, ohne die Risiken tragen zu müssen. Die Geschichten von Eribons Mutter und Großmutter sind kein biographisches Geplänkel, sondern klassenpolitische Erfahrungen, Entscheidungen, Kämpfe. Sexualität als ein Aspekt von Klassenpolitik ist nicht neu, er wurde hervorgebracht von der russischen Revolution und ihren Vorboten. Alexandra Kollontai, als erste Ministerin der modernen Welt (Ministerium für soziale Fürsorge), befasste sich mit diesen Themen, die die russischen Arbeiter*innen und Bäuer*innen beim Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft konkret betrafen. Sexualität und Liebe sind keine Nebenschauplätze, sondern konkrete revolutionäre Praxis, der Potenziale innewohnen, nationale und familiale Begrenzungen aufzubrechen und einen lebendigen Organismus zu schaffen, der von der Idee getragen ist, sich mit Menschen und Natur zu verfangen und zu verheddern. Das häufige gegeneinander Diskutieren von eigener Interessenpolitik gegen Politiken im Interesse anderer blockiert uns gegenwärtig. Leidenschaftliche Klassenpolitik »oppositionell, utopisch und ohne jede Unschuld« (Donna Harraway 1985: Ein Manifest für Cyborgs), könnte sich hingegen dadurch auszeichnen, dass es zum eigenen Interesse wird, die Bedürfnisse der anderen zu berücksichtigen und daran mit zu wirken, dass diese erfüllt werden. Alte Polaritäten ließen sich so auflösen.

Unsere Biographien sind politische Geschichten

Trotz männlicher Position bestärkt Eribon eine Klassendiskussion, welche die meist wegradierten, unsichtbaren Aspekte von Klasse und Geschichte hervorholt. Er beißt sich nicht am Fließband und den Produktionsverhältnissen fest, sondern gibt seiner Einladung folgendes mit auf den Weg: »Nur ein epistemologischer Bruch mit den spontanen Denk- und Selbstwahrnehmungsweisen der Individuen ermöglicht es, die Systematik der sozialen Reproduktion und freiwilligen Selbstexklusion, mit der die Beherrschten ihr Beherrschtwerden sanktionieren, zu verstehen« (2014: 45). Ist das nicht ein deutlicher Appell, unsere Denk- und Einsortierungsmuster mal zu aktualisieren? Erstaunt frage ich mich, warum sich hingegen in den meisten öffentlichen, gegenwärtigen Diskussionen um Klasse oder auch um die Fragen rund um rot-rot-grüne Regierungsoptionen die alten Fragestellungen wiederholen? Die Diskussion um Klasse ist in meinem Miterleben in der Linken ins Stocken geraten. Man wurde als orthodox einsortiert, sobald man die Diskussion um eigene Klassenpositionen einforderte. Das liegt möglicherweise zu einem großen Teil daran, dass wir unsere Sozialgeschichten gar nicht kennen, uns nicht gemeinsam erinnern und somit unsere eigene Rolle in der aktuellen Klassenzusammensetzung nicht begreifen. Wir betreiben vielmehr eine kollektive Verdrängung dessen, wo wir herkommen, anstatt uns ehrlich auszutauschen und damit eine solidarische Verbundenheit herzustellen. Indem wir daran verzweifeln (und uns selbst schämen), größtenteils ein Verein von Bürgerkindern und Akademiker*innen zu sein, reproduzieren wir genau die Grundlagen bürgerlicher Anstandsweisen und Moral. Daraus folgt individuelles Jammern anstatt zu rebellieren und beispielsweise mal einem blöden Chef, Vermieter, Menschen auf dem Amt oder Macker gemeinsam für einen Genossin ans Bein zu pinkeln. Es gibt kaum ein politisches Sprechen über unsere individuell geführten Kämpfe: um die zermürbenden Fragen nach Klassenaufstieg oder die Hoffnung, die manchmal durch Unsicherheit erschüttert wird, die Klassenlage der Eltern halten zu müssen, oder sich bewusst gegen den Klassenaufstieg zu entscheiden. Welche politischen Geschichten sind in unsere Familienbiographien eingeschrieben, denen wir kaum Bedeutung beimessen? Wie veränderten sich Berufsbiographien mit '89/'90? Welche Bedeutungen haben beispielsweise Abtreibungen der eigenen Mütter im Zuge des Mauerfalls, wenn man sich Fragen zum eigenen Leben und Zukunft stellt? Gegen die Privatisierung und Deckelungen unserer eigenen Geschichten, die uns in diese Welt hinein verorteten, können wir versuchen bei Rotwein, Cafe oder Tee anzureden.

Klassenkampf muss ein Kampf um unsere Körper sein

Die vergangene Debatte um »Die Rückkehr nach Reims« war außerdem getragen von Frustration. Es toben Klassenkämpfe um uns herum und wir suchen und suchen nach der Schnur, die uns zu ihnen führt, anstatt uns selbst zu verbinden. Wieso verstehen wir die derzeitigen Kämpfe um das körperliche Selbstbestimmungsrecht für Frauen* und nicht männlich genormte Menschen, für ein Recht auf Abtreibung nicht als globale antifaschistische Klassenkämpfe? Wir erleben weltweit die Infragestellung westlichen Denkens bei gleichzeitigem digitaltechnologischen Umbruch. Während regenerative Reproduktionstechnologien beispielsweise auch ein Produkt des Ringens um die Befreiung vom heteronormativen Fortpflanzungszwang waren und sind, stellen sie gegenwärtig einen riesigen, neuen Markt und damit eine kapitalistische Eroberung eines sozialen Bedürfnis dar. Gleichzeitig erleben wir die Prekarisierung sozialer Infrastruktur und in sämtlichen rechtspopulistischen und/oder fundamentalistischen Bewegungen und Regimen eine Attacke auf selbstbestimmte Reproduktion. Doch dagegen regt sich Widerstand. Insbesondere jene Körper, die den Herrschaften nicht in ihre oberflächliche Schublade ›Mann‹ passen, sind unübersehbar Kampffeld. Silvia Federici brachte diesen Gedanken vor einigen Jahren mit der Neuauflage ihrer Arbeit zur ursprünglichen Akkumulation des Kapitalismus und der Hexenverfolgung glücklicherweise wieder auf die Agenda (2012: Caliban und die Hexe). Unsere Körper, und historisch gesehen insbesondere Frauen*körper, sind Orte von Klassenkämpfen. Hier finden brutale kapitalistische Ausweitungs- und Extraktionsprozesse statt. Mit Digitalisierung und neoliberalen Reproduktionstechnologien erfolgen permanente Spielarten ursprünglicher Akkumulation. Nicht zuletzt, indem sich mit der Eroberung des Geistes der kognitiven Welt eine Zerfleischung, eine Trennung unserer Körper von unseren Leibern vertieft und wir uns erbarmungslos selbst disziplinieren und kaputt machen.

Mit Eribon könnten wir mit der solidarischen Befragung unserer Geschichten beginnen und nach heutigen Orten von Klassenkämpfen fragen. Vielleicht sind es unsere Städte,vielleicht unsere Körper. Diese Frage ist schwer, weil wir es bisher noch nicht schafften uns analogdigital nicht als Einzelne, sondern als Schwarm zu verorten.

Die Revolution ist kein rasender Zug

Ängste und persönliche Kämpfe des Alltags sind reale Schauplätze der Kämpfe. Während rechte Bewegungen Ängste und Alltagssorgen aufgreifen, Vereine der Volkstümelei gründen, um sich in ihrem Hass zu suhlen, gibt es großflächig keine linken Arbeiter*innensport- oder Gesangsvereine mehr. Weit vor dem ersten Weltkrieg bauten sich Anarchist*innen und Sozialist*innen selbst Theater im italienischen Hinterland, weil sie es satt hatten, dass Kultur nur den Reichen zustand. Es bräuchte auch heute breitere sozial-kulturelle Räume, in denen Subalterne sich organisieren und Menschen Resonanz erfahren. Solch ein sozial-kulturelles Milieu wird keine linke Partei erschaffen.

Die Geschichte ist keine Lokomotive, die geradlinig einem Gleis folgt, wie Marx es prophezeite. Die Revolution muss mühselig, wie ein Stein ins Rollen gebracht werden. Doch wie in Bewegung sein, wenn wir nicht selbst wissen, worum zu kämpfen und uns zu organisieren wichtig ist? Weshalb wir solidarische Allianzen, in denen Raum für Fehlerfreundlichkeit und Kritik sein sollte, brauchen? Wir sollten aufhören, Klasse als etwas uns Äußerliches zu begreifen, sondern auch anhand unserer eigenen Geschichten und Lebenswelten eine Erforschung aktueller Klassenzusammensetzung betreiben. Es ist Zeit, dass wir konsequenter von unseren Genossen* solidarisch, liebevoll und zusammen widerspenstig unterstützt werden für die kommenden Rebellionen und Klassenkämpfe. Denn vielleicht ist etwas an Redeckers These dran: »Frauen sind die wahren Proletarier« der Gegenwart.

Anna Stiede fragt sich insbesondere nach den Erschütterungen der Krise, wie wir uns solidarisch in düsteren Zeiten unsere Zukunft erobern können. Anna lohnarbeitet und ist als politische Bildnerin und Übersetzerin prekär tätig. Nach der Entscheidung gegen eine akademische Laufbahn schreibt sie - wenn es die Zeit zulässt - als freie Autorin.

Annas Lesetipp: Kollontais Geschichten aus dem Alltag der Frauen: Wege der Liebe. Außerdem Bini Adamczaks Vorträge und Texte zum Thema des queerfeministischen Gehalts der russischen Revolution; bspw.: Die Versammlung. Geschichte Einheit, Vielheit und die Drag Kings der Oktoberrevolution oder das Interview Kein Sex ohne Liebe.

Bild: Marcha das Vadias, Recife (Brasilien) – von Flora Negri