»Gegenmacht aufbauen« – aber wie?


Eine Antwort des Bund der Kommunist:innen auf das 2. Zwischenstandpapie der Interventionistischen Linken

Im Juli 2024 reagierte der Bund der Kommunst*innen in einem Statement auf das IL-Zwischenstandspapier. Der Beitrag erscheint nun hier in zweiter Veröffentlichung.

Wir versuchen uns an einem neuen Format: Wir nehmen das neue Zwischenstandspapier einer der größten linksradikalen Strukturen der BRD, der Interventionistischen Linken (IL), zum Anlass, mit einer schöpferischen Kritik in die Debatte zu gehen.

Die Interventionistische Linke (IL), eine der größten linksradikalen Vereinigungen der Bundesrepublik, hat ein »Zwischenstandspapier« ihres Organisationsprozesses veröffentlicht. Die Bilanz ihres Aufbauprozesses fällt dabei sehr selbstkritisch aus. Sie attestiert sich selbst »vor allem diskursive Erfolge erzielt« (Interventionistische Linke: Zwischenstandspapier #2 - Gegenmacht aufbauen, Gelegenheiten ergreifen, S. 21) zu haben, beklagt ein Wegbrechen vieler früheren Partner der von der IL maßgeblich vorangetriebenen »zivilgesellschaftlichen« Bündnisstrategie und konstatiert, dass sie nun einen Aufbau von »Gegenmacht« verstärkt in den Fokus nehmen wolle, um aus der Krise zu kommen. Dementsprechend trägt das Papier den Titel »Gegenmacht aufbauen, Gelegenheiten ergreifen«.

Nun gehören wir zu jenen Gruppen, die den Begriff Gegenmacht im Rahmen ihrer Strategie nutzen. Wir richten unsere Nachbarschaftsarbeit in unseren Stadtteilläden, die Arbeit in unserer Jugendorganisation und unsere neu begonnene Arbeit in Betrieben zu einem nicht geringen Teil an einem Konzept von Gegenmacht aus, das wir für uns in den vergangenen Jahren entwickelt haben. Dass diese Strategie immer breiter Anklang findet, sehen wir positiv. Zugleich bemängelt die IL in ihrem Zwischenstandspapier, rote Gruppen würden »der Suche nach dem Gemeinsamen eine Absage erteilen« (IL #2, S. 14) – uns soll das als Einladung gelten, das scheinbar geteilte: Revolutionärer Anspruch, strategische Orientierung auf Gegenmacht und die Organisierung, auf Gemeinsamkeiten und Differenzen abzuklopfen und in einen gemeinsamen Austausch über Strategie und Taktik zu treten.

I »Klarheit« und »Orientierung« nicht als Mangel ansehen

Das allerdings erweist sich als gar nicht so einfach. Das Papier der IL ist lang und misst man es an Standards akademischer Redegewandtheit sicher auch vortrefflich geschrieben. Aber es ist alles andere als klar, nirgendwo sagt da jemand: »Das ist das, wofür wir einstehen und da können wir jetzt drüber streiten«.

Das Papier trägt so die typischen Züge postautonomer Selbstverständigungspapiere: Da steht keineswegs nur Falsches drin, vieles ist in Einzelaspekten durchaus treffend beschrieben. Aber es sagt eigentlich nichts Spannendes und wenn dann nur zwischen den Zeilen. Die Analyse der Gegenwart bleibt ein Mosaik: Hier ein bisschen Gramsci, dort ein bisschen Harvey, gelegentlich eine Prise Foucault. Alles wird irgendwie benannt, aber die Themen, die kontrovers sein könnten – NATO, Ukraine, Palästina – erfahren keine tiefere Behandlung. Allenfalls erklärt man noch, zu diesen Themen habe auch »die IL viel gestritten und zu wenige Antworten gefunden« (IL #2, S. 13). Die Arbeiterklasse kommt nicht vor – außer als »migrantisierte« (IL #2, S. 10), da existiert sie dann doch noch, wenn auch nur beiläufig. Irgendeinen besonderen Subjektcharakter neben allen anderen Gruppen, die es so gibt, hat sie für die IL jedenfalls nicht.

Es geht uns im Folgenden nicht nur um ihre Analyse der Gegenwart, sondern um die strategischen Schlüsse der IL, die für die Veränderung der Gegenwart notwendig sind. Die Passagen zu der politischen Strategie, also dazu, was die IL denn nun so fundamental anders machen will, sind recht schwammig formuliert. Immerhin teilt man klar und deutlich mit, was man nicht will, nämlich rot oder identitär werden, denn: »Der Identitätspolitik und den roten Gruppen gemeinsam ist, dass sie Orientierung und vermeintliche Klarheit für die diffusen Herausforderungen der Gegenwart anbieten. Beide Richtungen erteilen – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – der Suche nach dem Gemeinsamen eine Absage, was die gleichwohl notwendigen Bündnisse oft schwierig macht.« (IL #2, S. 14)

In Sachen Identitätspolitik haben wir keine Aktien, also wollen wir versuchen, den Genoss*innen verständlich zu machen, warum wir Klarheit und Orientierung nicht als Mangel ansehen, sondern als Notwendigkeit beim Aufbau von Gegenmacht und dem Erkämpfen des Gemeinsamen.

II Was versteht die IL denn unter den Begriffen, die sie verwendet?

Was ist Gegenmacht? Die IL definiert sie so: »Unter Gegenmacht verstehen wir, Entscheidungen und Politiken der Herrschenden unterbrechen, aber auch eigene Lösungen durchzusetzen zu können.« Da sind wir nicht weit auseinander. In unserem Konzept zur »Revolutionären Nachbarschaftsarbeit« heißt es:

»Gegenmacht bedeutet für uns: Zum einen die Fähigkeit, Dinge, die uns nicht passen, verhindern zu können. Wenn ein Nazi-Aufmarsch nicht durch den Kiez läuft, wenn ein Hotelbau nicht umgesetzt werden kann, wenn ein Betrieb eine Kündigung zurücknehmen muss, das alles sind Ansätze konkreter Gegenmacht. Zum anderen besteht Gegenmacht aber nicht nur im Verhindern, sondern auch im Aufbauen und Entwickeln. Wenn wir unser eigenes Zusammenleben organisieren können, wenn im Kiez nicht die Bullen, sondern die Stadtteilkomitees gerufen werden, um Konflikte zu regeln; wenn wir unsere Reproduktionsarbeit kollektiv gewährleisten können, ist das Gegenmacht.«

Das klingt erst einmal sehr ähnlich – und ist es auch. Das hat seinen Grund darin, dass Gegenmacht kein Ziel in sich selbst ist, sondern ein strategisches Mittel, um Ziele zu erreichen. Der Unterschied liegt dann in dem Rahmen, in dem Gegenmacht eingebettet ist. Da sie eine Art und Weise ist, etwas zu erreichen, stellen sich logischerweise die Fragen: Wer will hier was erreichen? Was überhaupt? Und wie?

Wir benennen folgendermaßen, was dieser Rahmen bei uns ist:

»Die Voraussetzung der Überwindung des Kapitalismus ist die organisierte, politisierte Masse, die über die Konjunkturen spontaner Proteste hinweg einem Ziel entgegengeht. Die politische Aufgabe zur Förderung dieses Prozess ist die Herstellung und Verteidigung proletarischer Gegenmacht. In allen gesellschaftlichen Bereichen – Betriebe, Stadtteile, im kulturellen und Bildungsbereich – sind Institutionen und Netzwerke zu schaffen, in denen sich die Gesellschaft zusammenschließt und ihre Interessen durchsetzt. In der Arbeiterbewegung trugen diese Institutionen den Namen Räte/Sowjets oder Kommunen. Sie sind Kampforganisationen sowie Keimformen einer künftigen Demokratie.« (Bund der Kommunist:innen: Programm, Punkt 12: Proletarische Gegenmacht)

Anders gesagt: Das revolutionäre Subjekt ist für uns die Arbeiterklasse, deshalb proletarische Gegenmacht. Der Aufbau von Kampforganen, die zugleich Keimformen zukünftiger kollektiver Selbstorganisierung der Gesellschaft sind, hat stets das Ziel des Sozialismus/Kommunismus vor Augen.

Und die IL? Es gibt eine Stelle, an der gesagt wird, »Sozialismus oder Barbarei« sei zwar eine Parole des 20. Jahrhunderts, aber heute so dringlich wie noch nie (IL #2, S. 15). Da sind wir für einen Moment auch wieder sehr ähnlich aufgestellt. Es gibt Stellen, an denen wird ein »revolutionärer Bruch« gefordert. Und es gibt die Formulierung, man wolle »die Orientierung auf den revolutionären Bruch, das Verhältnis von langfristiger Transformation und kurzfristigen Gelegenheiten sowie den Aufbau von Gegenmacht für ein linkes Hegemonieprojekt mit Vergesellschaftung als zentraler Achse.« Wenn wir uns nur angucken welche Schlagwörter hier benutzt werden, scheint erst einmal nicht der große Unterschied in der Zielsetzung zu existieren.

Die entscheidende Frage wäre aber: Was versteht die IL denn unter den Begriffen, die sie verwendet? Nehmen wir beispielsweise die Broschüre »Das rote Berlin – Strategien für eine sozialistische Stadt«, mit der die IL sich in den Wohnungskämpfen Berlins positioniert. Vorgestellt wird ein dreischrittiger Plan, wie eine sozialistische Stadt erkämpft werden kann:

»Die Veränderungsperspektive besteht aus weitertreibenden Reformen, die schrittweise den Handlungsspielraum des Immobilienkapitals einschränken, die Spielräume für kollektives und öffentliches Eigentum erweitern und durch Demokratisierung unsere Kampfbedingungen verbessern. Auch wenn wir dabei Forderungen an den Staat stellen, wissen wir, dass ein Mehr an Demokratie in der Geschichte immer von unten erkämpft wurde.«

Die »sozialistische Stadt« wird als ein Projekt verstanden, welches durch eine Ansammlung von Reformen verwirklicht werden kann, jedoch in keiner Hinsicht im Zusammenhang mit einer sozialistischen Revolution steht. Eben jene Vorstellung von Gegenmacht als »schrittweises Überwinden« des bürgerlichen Staates, halten wir für falsch. Uns ist klar, dass man dem offenen Zusammenstoß mit dem bürgerlichen Staat nicht aus dem Wege gehen kann, dass er Teil eines jeden revolutionären Prozesses ist. Schaffung und Stärkung proletarischer Gegenmacht hat für uns eben den Zweck, für solch eine revolutionäre Situation die Kräfte zu sammeln und breite Teile der Bevölkerung in den Stand zu versetzen, in solch einem Moment handlungsfähig zu sein und die eigenen Belange selbst in die Hand zu nehmen. So benennen wir in dem Konzept »Revolutionäre Nachbarschaftsarbeit« in der III. Phase die Rolle der Gegenmachtstrukturen im Prozesse einer revolutionären Situation: »Selbstverwaltung der Nachbarschaft und Schaffung kommunaler Selbstverwaltung«. Nimmt man der proletarischen Gegenmacht jedoch diese notwendige Orientierung auf den offenen Zusammenstoß, verkommen Projekte die sich diesem Zweck verschreiben, zu harmlosen Initiativen die versuchen »Inseln der Freiheit« im Kapitalismus zu schaffen. Wir schreiben diesbezüglich: »Unser Verständnis von Gegenmacht und der damit verbundenen politischen Praxis hat nichts damit zu tun, sich das Hier und Jetzt bequemer einzurichten. Es geht nicht darum, sich Inseln der Freiheit zu schaffen und sich damit zufrieden zu geben« (Bund der Kommunist:innen: Konzept Revolutionäre Nachbarschaftsarbeit, S.5).

III Fetischisierung von Bewegung und Vernachlässigung einer Klassenorientierung

Trotz der inhaltlichen Unklarheit verwendet die IL ja trotzdem Begriffe wie Sozialismus, revolutionärer Bruch und spricht auch von Klassen und Ausbeutung. Das sind ja schon mal beträchtliche Gemeinsamkeiten zwischen den roten Gruppen und der IL – und das ist ja erfreulich! Durchaus grundlegende Unterschiede zu den roten Gruppen ergeben sich aber noch in der Frage des Subjekts der Gegenmacht.

Salopp formuliert: Für die IL gibt es keine gesellschaftliche Gruppe, die aufgrund ihrer objektiven Lage im Kapitalismus zumindest potentiell revolutionäres Subjekt wird – deswegen reden sie auch an den meisten Stellen von gesellschaftlicher Gegenmacht. Der Begriff »Klasse« und genauso der Begriff »Sozialismus« wird zwar, wie bereits dargestellt, verwendet, aber es werden keine Schlüsse gezogen, wie die auf Ausbeutung basierende Klassengesellschaft durch die unterdrückte Klasse überwunden werden kann. Statt Orientierung auf die objektiven Interessen der arbeitenden Klasse (die Überwindung ihrer Ausbeutung), wird sich auf das Subjektive bezogen.

Daraus entsteht ein maßgeblicher Unterschied: Kommunist*innen sind dazu verdammt, ihre Klasse, die Arbeiterklasse zu organisieren, ob sie sich bewegt oder nicht, ob sie gerade reaktionär verblendet oder schon halb auf dem Weg zur Revolution ist. Der Interventionismus dagegen schaut, was sich zufällig gerade abspielt und wenn sich irgendwo eine Bewegung abzeichnet, interveniert er, um sie zuzuspitzen. Von Fridays For Future über Black Lives Matter und Migrantifa bis zu Kämpfen um den Wohnungsmarkt. Auch das ist kein irgendwie verwerflicher Ansatz, aber man könnte nach einigen Jahrzehnten überprüfen, ob er sich bewährt hat. In der Strategie werden Organisation, verschiedene Kampffelder und das Subjekt der Veränderung nicht konkret benannt. Daraus folgend werden sie auch nicht als verschiedene Sphären eines einheitlichen Kampfes betrachtet. So bleibt unbeantwortet, ob da die langfristigen und auf den revolutionären Bruch orientierten Strukturen bleiben, die sich ja auch die IL wünscht, oder eben nicht? Muss jede Generation wieder quasi bei Null anfangen oder formiert sich in den Kämpfen ein Zentrum, das sie über die Zeit hinweg und auf ein Ziel ausgerichtet trägt?

Die Probleme, die aus einer Fetischisierung von Bewegung und der Vernachlässigung einer Klassenorientierung, die man irgendwie »nostalgisch« findet, entstehen, nennt die IL selbst. Sie erinnert sich im Vergleich zu heute:

»Im globalen Bewegungszyklus Anfang der 2010er Jahre konnten wir einen gemeinsamen Rahmen erkennen: Die Aufstände und Bewegungen des Arabischen Frühlings, der spanischen Indignados, von Occupy oder Gezi bezogen sich in ihren Forderungen nach wirklicher Demokratie, ihrer Praxis der Platzbesetzungen und ständigen Versammlungen aufeinander. (…) Auch die aktuellen Bewegungen haben einen gemeinsamen Nenner, auch wenn dieser vielleicht schwieriger auszumachen ist: Überall geht es um Fragen des Lebens und Überlebens.« (IL #2, S.4).

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Auch Kommunist*innen sollen und müssen in Bewegungen mit diffusem Klassencharakter oder kleinbürgerlicher Art aktiv sein, wenn diese sich tendenziell in die richtige Richtung bewegen. Aber das passiert dann auf der Grundlage, dass sie versuchen, die Interessen der Arbeiterklasse mit denen der betreffenden Bewegung zu vermitteln, statt diese als quasi Selbstzweck zu begreifen.

Die Methode von Kommunist*innen in Bewegungen ist die: Man legt sich als Teil der Arbeiterklasse selbst Rechenschaft darüber ab, woher Ausbeutung und Unterdrückung kommen und bestimmt den Gegner. Die Organisation, die das tut, schickt ihre Kader*innen dann in Bewegungen und versucht, diese eigene Analyse >>hegemonial<< zu machen, um ein Lieblingswort der IL zu verwenden.

Die IL, wie alle Postautonomen, lehnen solche Organisationen und ein solches Vorgehen einfach als autoritär und dogmatisch ab. Daher fehlt hier auch jede Analyse dessen, warum denn der >>Bewegungszyklus der 2010er-Jahre<< so derbe Niederlagen erlitt. Und bei der Frage, was denn in einer Zeit neoliberaler Subjektivierung überhaupt noch als Gemeinsames herausgestellt werden könne, kommt man nicht über die Feststellung hinaus, dass es lediglich um »Fragen des Lebens und Überlebens geht« (IL #2, S.22).

IV Breite, basisnahe Strukturen der Gegenmacht bilden

Hätte man sich die Frage nach den Gründen der Niederlage diverser genannter Bewegungen oder der Integration anderer in den »progressiv-neoliberalen« Machtapparat ergebnisoffen gestellt, wäre man vielleicht zur Frage der Organisation gekommen. Richtige Ansätze in diese Richtung gibt es durchaus. Die unscharfe bzw. fehlende Unterscheidung zwischen Kernorganisation und Bewegung, führt dazu, dass »Positionen dann nicht mehr gemeinsam innerhalb unserer Organisation ausgearbeitet, sondern eher zur Kenntnis zurückgetragen werden. Dadurch verschiebt sich der Ort der politischen Bestimmung und Praxis zu den Plattformen.« (IL #2, S.23). Die IL benennt selbst auch, dass sie »in Bündnissen aus etablierten Akteur*innen zu häufig eine Projektmanager*innen-Rolle eingenommen haben: Wir sind oft mehr damit beschäftigt, die Bündnisse am Laufen zu halten, anstatt sinnvoll politisch zu intervenieren«.

Konkrete Schlussfolgerungen werden davon aber weder in Bezug auf die Organisationsfrage, noch den Inhalt der eigenen Praxis abgeleitet. Die hätte man auch über ein anderes Projekt angehen können, das ebenfalls im Umbruch-Papier genannt, dann aber wiederum kaum konsequent bedacht wird. Am Ende heißt es nämlich: »Zudem werden wir die Lern- und Austauschprozesse mit unseren Genoss*innen der kurdischen Befreiungsbewegung, die bereits transnational agiert, verstetigen und intensivieren.« (IL #2, S.29).

Das könnte im nächsten Umbruch-Papier dann wirklich spannend werden. Denn die kurdische Bewegung hat sich zwar im Rahmen ihrer inhaltlichen Neuausrichtung am Anfang der 2000er-Jahre ein neues Paradigma gegeben, nie aber von einem Punkt abgelassen: der Notwendigkeit einer Partei neuen Typs auf Grundlage des demokratischen Zentralismus mit einer der gemeinsamen Weltanschauung ergebenen Kadern. Auch in den Schriften des »neuen Paradigmas« betont Öcalan das immer wieder:

»Durch die gesamte Geschichte hindurch ist kein parteiähnlicher Zusammenschluss ohne Kader mit fester Überzeugung und Entschlossenheit ausgekommen. Viele Gruppen, die keine Kader besitzen, verschwinden unweigerlich in den Tiefen der Geschichte und geraten in Vergessenheit.« (Abdullah Öcalan: Jenseits von Staat, Macht und Gewalt, S. 472)

Der Unterschied zwischen anderen Kräften des arabischen Frühlings, die dann entweder zerschlagen wurden oder in reaktionär-dschihadistischen Milizen aufgingen, zu Rojava besteht darin, dass dort Jahrzehnte lang Kader der Guerilla den Boden für die Selbstverwaltung mühsam bereitet hatten und in der Lage waren, sie zu verteidigen und auszubauen. Ohne Spontaneität des Volkes – also Bewegung - wäre das natürlich nichts geworden. Aber ohne Kader aus einer Partei mit Weltanschauung, Strategie, Taktik und Disziplin eben auch nicht.

Der kleine Ausschnitt, den wir aus unserer eigenen Erfahrung als Organisation berichten können, weist in eine ähnliche Richtung. Als wir den Bund der Kommunist:innen gründeten, mussten wir eine zeitökonomische Abwägung treffen. Wir hatten einerseits die Einschätzung, dass wir eine zu geringe Verankerung in der eigenen Klasse hatten (und haben); und wir hatten zum zweiten die Einschätzung, dass wir die nicht primär durch Demonstrationen und Kampagnen herstellen können, sondern durch kleinteilige und nachhaltig konzipierte Aufbauprozesse in den Vierteln, in denen wir leben, und in Betrieben, in denen wir arbeiten oder zu denen wir Kontakt haben. Für uns hat sich diese Strategie bislang als einigermaßen erfolgreich erwiesen – vor allem aus einem Grund: Durch die Abstufung zwischen einer auf dem demokratischen Zentralismus gegründeten Kernorganisation und halboffenen bis offenen Vorfeldstrukturen bleibt eine Kontinuität und Einheit in der Arbeit gewährleistet.

Breite, basisnahe Strukturen der Gegenmacht bilden hierbei das Fundament, sie sind offene Räume mit Partizipationsmöglichkeiten für alle Menschen, die interessiert sind. Das politische Klima ist und soll hier divers bleiben. Sich für die Interessen des Stadtteils oder des Betriebs einzusetzen ist hier das konkrete und verbindende Moment der politischen Arbeit. Wir brauchen diese kleinteilige Basisarbeit als Fundament, auf dem Kämpfe geführt werden. Innerhalb der Basisarbeit bauen wir ein kollektives Bewusstsein über die kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse auf und vermitteln dabei das klare Bestreben, diese aufzuheben. Dabei steht nicht der einzelne Kampf im Vordergrund, sondern die Schaffung von offenen Strukturen, in denen man die Probleme, welche uns als Klasse umtreiben, kollektiv aufgreift, politisiert und Keimformen eigener Alternativen entwickelt. Diese Form der Basisarbeit kommt im Papier der IL auch vor und zwar auf einer Seite. Dort heißt es auf dann aber: »Bislang ist unsere Praxis dazu stark unterbestimmt« (IL #2, S.45).

Diese Offenheit stellt die Stärke dieser Strukturen dar, gibt ihr aber auch klare Grenzen. So kann die politische Diversität und Flexibilität dieser Strukturen nur produktiv bestehen, wenn es ein verbindendes Element und eine geteilte Strategie gibt – für das Entwickeln einer solchen Strategie sowie dem sicherstellen von dessen Umsetzung in der Praxis, ist eine übergeordnete und disziplinierte Organisation von Nöten. Die von uns gesammelten Erfahrungen im Aufbau unserer Organisation bestätigen, dass die Erkämpfung von Gegenmacht nicht alleinig von relativ losen Zusammenhängen bewerkstelligt werden kann. Ein Zusammenhang von Genoss*innen die nicht aus einer plötzlichen Laune heraus, sondern nach reiflicher Überlegung, ob sie genau das eben in den Mittelpunkt ihres Lebens stellen wollen, gemeinsam politische Arbeiten entwickeln und hierbei ihre individuellen Bedürfnisse hinter die kollektiven Notwendigkeiten zurückstellen, ist notwendig – ohne ihn wird ein jeder politischer Prozess scheitern.

V Gescheiterte Strategie »zivilgesellschaftlicher« Bündnisse

Wie die Genoss*innen der IL völlig richtig beschreiben, befindet sich die Linke in der Bundesrepublik heute in einer tiefen Krise. Wir sind nicht so verblendet, um das eigene Wachstum oder das anderer roter Gruppen - so froh wir darüber sind - als gesellschaftliche Trendwende zu missverstehen. Wir alle drohen, in den Auseinandersetzungen zwischen einem neoliberal-progressiven und einem mehr oder weniger offen faschistischen Block zerrieben zu werden, ob postautonom oder kommunistisch. Anders als in früheren Zeiten gibt es in den Teilen der Gesellschaft, die unzufrieden sind, keine spontane Hinwendung zu linken Theorien, eher das Gegenteil ist der Fall.

Was ist darauf aber die Antwort? Die IL schreibt:

»Neue Politisierungs- und Organisierungsangebote verfolgen häufig eine andere Bündnispolitik [als die IL selbst]. So ist es für die erstarkenden ‚roten Gruppen‘ wichtiger, Kämpfe anzuführen, als verschiedene Akteur*innen in ihrer Gesamtheit zu stärken. Sie konzentrieren sich auf die Selbstvergewisserung als radikale Kraft, indem sie sich von moderateren linken Kräften abgrenzen und sich vermeintlich zur Klasse hinwenden.« (IL #2, S.22)

Jedes Wort dieser wohl ablehnend gemeinten Beschreibung (bis auf das »vermeintlich«) würden wir unterschreiben. Natürlich ist es uns wichtig, »Kämpfe anzuführen«, das will ja letztlich auch die IL und nennt es »Hegemonie«. Wir können ohnehin nicht anders führen als durch Überzeugung, welche sonstigen Mittel hätten wir denn zur Verfügung? Die erste Kritik ist also: Rote Gruppen wollen Menschen von ihrer Weltanschauung überzeugen. Ja, klar.

Die Kritik, dass man sich »zur Klasse hinwenden« wolle, kann man auch nicht richtig verstehen. Ja, was soll man denn sonst wollen als Kommunist*in? Das dritte Element dieses Satzes ist ein wirklicher Punkt: Nein, wir wollen nicht alle Akteur*innen stärken, mit denen wir Bündnisse eingehen. Wir wollen unser eigenes Profil stärken, unsere eigene Kraft entwickeln und die Interessen der Gesamtbewegung vorantreiben. Wir haben - als Kommunist*innen, aber auch als Arbeiter*innen, Studierende und Arbeitslose - keinen Nutzen von irgendeinem Erstarken einer diffusen Linken von den Grünen bis zu NGOs und Think Tanks. Bündnisse bestehen darin, dass man an einem Punkt gemeinsam handelt, den alle Beteiligten wichtig finden. Nicht, dass man seine eigene politische Identität in einer Beliebigkeit auflöst.

Die IL selbst könnte sich das aus ihrer Geschichte ganz gut vergegenwärtigen, ist sie doch recht häufig in Bündnisse mit Akteur*innen getreten, die später auf der einen oder anderen Ebene Regierungsmacht innehatten. Zu wessen Nutzen das war, lässt sich heute leicht sehen. Nebenbei bemerkt: Diskursiv hat das auch dazu geführt, dass in der Wahrnehmung weiter Teile der Gesellschaft alles, was sich als irgendwie links bezeichnet, den Hass auszulöffeln hat, der zurecht SPD, Grünen und Co. entgegengebracht wird.

Kurz gesagt: Diese gescheiterte Strategie »zivilgesellschaftlicher« Bündnisse bis in den engeren Umkreis der Hauptfraktionen der Regierung sollte auch die IL ad acta legen. Sie führt zu kaum etwas, außer dass man nach ein paar Jahren dieser Praxis auch personell gelegentlich die Demarkationslinie zwischen einem selber und den bürgerlichen Parteien mit der Lupe suchen muss.

Das heißt im Umkehrschluss jedoch nicht, das wir das entwickeln einer gemeinsamen Praxis mit »moderaten linken Kräften«, kategorisch und auf jeder Ebene ausschließen, wie es die IL pauschal behauptet. Die IL macht selbst keinen Unterschied zwischen Kernorganisation, ihr zugehörigen Vorfeldern und Bewegungen, in die man interveniert. Deshalb existiert für sie auch nicht die Möglichkeit, auf jeder dieser Ebenen strategische und/oder taktische Bündnisse mit durchaus sehr unterschiedlichen Akteur*innen einzugehen.

Unsere Stadtteilkomitees können und müssen auf lokaler Ebene mit Nachbarschaftsinitiativen, Vereinen und anderen Gruppen kooperieren, die nicht linksradikal oder gar kommunistisch sind – denn auf dieser Ebene geht es um die Zusammenarbeit im Kiez, anhand ganz konkreter alltäglicher Probleme. Auf der Ebene der Kernorganisation engt sich der Kreis der potentiellen Bündnispartner*innen natürlich ein, aber auch hier gibt es je nach Anlass und Thema sehr breite Möglichkeiten. Beim 1.Mai kooperieren wir bewegungsübergreifend innerhalb der radikalen Linken, bei bspw. anti-militaristischen Kampagnen müssen pazifistische und sozialdemokratische Kräfte taktisch eingebunden werden. Und potentielle Bündnisse zum Zwecke einer bundesweiten »Partei neuen Typs« werden wir per Definition nur mit Kommunist*innen eingehen können, die auch die Notwendigkeit ihres Aufbaus sehen – alle anderen werden da sowieso nicht mit machen wollen.

VI Bedürfnisses nach wirklicher Organisierung

In einem der früheren Papiere der IL hat sie die Strömungen beschrieben, aus der sie hervorgegangen ist. Die IL war sicherlich ein beachtenswerter Versuch der Neuformulierung linksradikaler Politik am Ende der Hegemonie eines vormals recht starken autonomen Politikmodells. Letzteres hat bereits seit längerem die Bühne der Geschichte verlassen, seine postautonome Fortsetzung besteht noch, aber sie wirkt heute etwas aus der Zeit gefallen.

Die Linke mag insgesamt historisch schwach sein, das, was allerdings heute neu entsteht und wächst – insbesondere in der Jugend -, wächst wieder auf Grundlage eines Bedürfnisses nach wirklicher Organisierung. Auch die IL entstand aus einem Bedürfnis nach Organisierung – im Kontext der vorherigen autonomen Phase, aus heutiger Perspektive erscheint sie nur noch als der Mangel eines jeden Organisierungsansatzes.

Denn die IL ist – zumindest wirkt das von außen sehr stark so - in keinem irgendwie bedeutsamen Sinne wie eine »Organisation«. Sie verfügt über keine kollektive Willensbildung als Organisation, noch viel weniger über eine geteilte Weltanschauung. Was die IL will und vertritt, hängt im realen Kontakt mit der IL davon ab, mit wem man gerade spricht.

Man kann fast sagen, dass das die große Konstante der IL ist – eine Art Dogma des Antidogmatismus: Man braucht keine klare Theorie, sie ist irrelevant, ja schädlich, denn sie reduziert die nicht reduzierbare diffuse Wirklichkeit. Man kann sich Einheit nicht als Resultat einer informierten Diskussion unter Genoss*innen denken, sondern nur als Beschränkung der individuellen Vielfalt. Wie es ein früheres Zwischenstandspapier formulierte: Die IL »wählt aus der Vielfalt linker und revolutionärer Geschichte keine Traditionslinie aus und erklärt sie für richtig oder verbindlich« und sie »folgt keiner eindeutig abgrenzbaren theoretischen Lehre«.

Seit 30 Jahren, seit der Heinz-Schenk-Debatte klingen deshalb alle Papiere aus dieser Traditionslinie der hiesigen Linken wie ein absoluter Minimalkompromiss. Die Heinz-Schenk-Debatte fand in den 1990er Jahren statt und entwickelte sich aus der Kritik an autonomen Ansätzen der Linken. Hauptpunkte waren, wieder gesellschaftsfähiger zu werden und sich anders zu organisieren als in einem »losen Zusammenschluss als Szene« (mehr dazu in einer Broschüre, veröffentlicht auf der Website der Zeitschrift arranca!). Als wäre beim Schreiben jedes mal einzig der Gedanke leitend, es sich mit keiner der absolut verschiedenen Strömungen innerhalb der eigenen Organisation, sowie außerhalb in den begehrten Bewegungen zu verscherzen. Wo man Festlegungen erwartet, stehen abstrakte Floskeln, die alles und nichts bedeuten. Sätze wie der, dass der »Kampf für eine solidarische Zukunft gemeinsam geführt werden muss, auf vielfältige Art und Weise« (IL #2, S. 21) sind wenig dazu geeignet, aus einer tiefen Krise der Linken herauszuführen. Oder: »Sich zu organisieren bedeutet für uns, tragende Netze der Solidarität und Kollektivität zu knüpfen, eine gemeinsame Haltung und Kultur der Genoss*innenschaft zu entwickeln« (IL #2, S. 28) – das ist nicht schlecht, aber reicht das?

VII Zu den »erstarkenden« roten Gruppen

Wir wollen abschließen mit den »erstarkenden« roten Gruppen. Dazu: wir sind ja nicht größenwahnsinnig. Uns ist völlig klar, dass das, was wir tun, ein Tropfen auf dem heißen Stein ist. Wir sehen mit Zuversicht, dass auch andere kommunistische Gruppen in ihrem Umkreis dasselbe tun, aber auch das ist in dem gesellschaftlichen Gesamtklima, in dem wir derzeit agieren, keine Trendwende. Auch nur Keime einer realen Gegenmacht aufzubauen, in einer Zeit, in der jede auch nur halbwegs progressive Idee weitestgehend außer Mode geraten ist, wird keine Kleingruppe alleine wuchten, egal welche.

Es werden sich alle, die in den kommenden Kämpfen bestehen wollen, auf einer einheitlichen Grundlage zusammentun müssen. Dann kann man mit allen anderen immer noch punktuell und solidarisch Bündnisse eingehen. Aber ohne dieses Ziel wird man gegen viel stärkere Gegner nichts reißen.

Diese einheitliche weltanschauliche Grundlage ist keine, die irgendjemand per Dekret verkündet. Wie auch? Sie entsteht in (internen) Debatten, die aber dann auch damit enden, dass man sich kollektiv auf etwas einigt und das nach außen vertritt – bis es sich als falsch herausstellt und/oder mehrheitlich gekippt wird. Aus dem Zustand der Schwäche entsteht eine Angst vor Differenzen und klarer Haltung, was in der Vermeidung von Diskussionen und einer Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gipfelt. Daraus entsteht zwar eine scheinbare Einigkeit und Stärke, welche aber im Endeffekt keine Strategie und Perspektive bietet.

Unsere Perspektive – eine einheitliche bundesweite Organisation »neuen Typs« auf Grundlage des Demokratischen Zentralismus und auf der Höhe unserer Zeit – ist zumindest aus unserer Sicht die zwar nicht ausreichende, aber notwendige Antwort auf die Krise der Linken in diesem Land. Diese Organisation entsteht nicht durch das bloße Ausrufen dieser, sondern aus Strukturen, die sich durch tatsächliche, kleinteilige Arbeit in der Klasse verankert haben und nur in diesem Zusammenspiel entsteht erst das Potential für eine tatsächliche Gegenmacht unserer Klasse.

Wir wollen der Suche nach dem Gemeinsamen, mit denjenigen aus der IL, die nicht aufgegeben und den Verlockungen des Karrierismus widerstanden haben, keine Absage erteilen. Die Hinwendung zum strategischen Aufbau von Gegenmacht kann eine Gelegenheit eröffnen, wenn man diesen Begriff mit adäquatem Inhalt füllt – und diese Gelegenheit wollen wir ergreifen.

Der Text erschien im Original hier. *Autor/inneninfo: Bund der Kommunist:innen, Juli 2024 Bildinfo:**