Nicht nur unsere freien Abende, sondern unser ganzes Leben

Welche Organisierung brauchen wir?

Peter Schaber plädiert mit diesem Beitrag, den G20-Protest – und die damit verbundene Zusammenkunft von Genoss*innen aus vielen Ländern – auch für eine Diskussion um die eigene Organisierung zu nutzen. Denn für ihn ist sie zentral für eine revolutionäre Praxis.

Was wollen wir eigentlich mit den G20-Protesten? Sicher, der G20 wird dufte. Zehntausende, vielleicht hunderttausende Menschen werden sich die Straßen Hamburgs aneignen, der Protest wird laut, sichtbar und höchstwahrscheinlich wird es Riots in einem für deutsche Verhältnisse galaktischen Ausmaß geben. Das alles ist erfreulich und für sich genommen eine fluffige Sache, weil wir als Bewegung Selbstvertrauen gewinnen können.

Aber ist das schon alles?

Wir haben andere Ziele als die Entladung unserer Wut in einem symbolischen Event. Das Treffen der G20 muss verschwinden und viel mehr noch: Die Welt, die es hervorgebracht hat. Kapitalismus und Nationalstaaten müssen einer entwickelteren, vernünftigeren Organisationsweise menschlicher Gesellschaften weichen. Das sind große Ziele. Und manchmal erscheinen sie uns, gefangen in den Frustrationserlebnissen oft scheiternder politischer Aufbrüche, zu groß für uns. Wenn wir sie aus den Augen verlieren, uns mit Kleinerem zufrieden geben, haben wir aber schon verloren.

Wenn wir aber an ihnen festhalten, dann kann das nicht nur ein Lippenbekenntnis sein. Es fordert Dinge von uns, die uns schwerfallen mögen. Drei davon sind meiner Auffassung nach diese hier:

(1) Kader-Organisation und »militante Persönlichkeit«

Wir, die wir in verschiedensten politischen Gruppen organisiert sind, haben die Pflicht, im Kollektiv an uns selbst zu arbeiten. Was wir schaffen müssen, sind Kader*innen-Organisationen. Was das ist, beschrieb Lenin 1902 so:

»1. Keine einzige revolutionäre Bewegung kann ohne eine stabile und die Kontinuität wahrende Führungsorganisation Bestand haben; 2. je breiter die Masse ist, die spontan in den Kampf hineingezogen wird, die die Grundlage der Bewegung bildet und an ihr teilnimmt, um so dringender ist die Notwendigkeit einer solchen Organisation und um so fester muß diese Organisation sein (denn um so leichter wird es für allerhand Demagogen sein, die unentwickelten Schichten der Masse mitzureißen); 3. eine solche Organisation muß hauptsächlich aus Leuten bestehen, die sich berufsmäßig mit revolutionärer Tätigkeit befassen; 4. je mehr wir die Mitgliedschaft einer solchen Organisation einengen, und zwar so weit, daß sich an der Organisation nur diejenigen Mitglieder beteiligen, die sich berufsmäßig mit revolutionärer Tätigkeit befassen und in der Kunst des Kampfes gegen die politische Polizei berufsmäßig geschult sind, um so schwieriger wird es in einem autokratischen Lande sein, eine solche Organisation »zu schnappen«, und 5. um so breiter wird der Kreis der Personen aus der Arbeiterklasse wie aus den übrigen Gesellschaftsklassen sein, die die Möglichkeit haben werden, an der Bewegung teilzunehmen und sich in ihr aktiv zu betätigen.«

Man mag sich darüber aufregen, dass hier Lenin zitiert wird, aber das macht diese Überlegungen weder falsch, noch unnütz. Man könnte – von den Bauernaufständen über die sich dieses Jahr zum hundertsten Mal jährende Oktoberrevolution bis zu den diversen antikolonialen Befreiungsbewegungen des 20. Jahrhunderts – zahlreiche Beispiele der Richtigkeit dieser Thesen anführen. Weil ein Teil von unserer Redaktion aber gerade in Kurdistan ist und über den dortigen Aufbau des Demokratischen Konföderalismus sowieso viele Missverständnisse bestehen, fokussieren wir uns auf die Entstehung der PKK.

Als Abdullah Öcalan zusammen mit einer Hand voll Gefährtinnen und Gefährten während der 1970er-Jahre begann, eine neue Organisation zu schaffen, hatten die zunächst gar nichts: Es waren kaum zwei Dutzend StudentInnen aus ärmsten Verhältnissen, manche türkisch, manche kurdisch, manche Lazen. Womit sie begannen, war die Schaffung einer Kaderorganisation, deren Mitglieder einerseits durch ein tiefes Verständnis von Genossenschaftlichkeit (Hevaltî) zusammengehalten wurden, andererseits durch andauernde kollektive Bildung. Um diese Vollzeittätigkeit zu ermöglichen, wechselten sich die Mitglieder in ihren Rollen ab: Einige arbeitenden im Bausektor, damit die anderen in einer Wohnung, in der rund ein Dutzend Militante zusammenlebten, an ihrer Bildung und der Entwicklung einer gemeinsamen Theorie arbeiten konnten. Es waren Leute, »die der Revolution nicht nur ihre freien Abende, sondern ihr ganzes Leben widmen«. Kader haben keinen persönlichen Besitz über das für ihre Aufgaben notwendige. Sie leben ausschließlich durch und im Kollektiv. Sie überprüfen durch Kritik und Selbstkritik permanent ihre eigene Entwicklung zu militanten Persönlichkeiten.

Die Existenz einer Kader*innen-Organisation ist nicht der Tod der Beteiligung der Massen, sondern ihre Ermöglichung. Das deutet Lenin in der fünften oben zitierten These an und die Praxis der kurdischen Bewegung zeigt es uns auch heute anschaulich: Der demokratische Aufbruch in der Zivilgesellschaft Rojavas und Bakurs wurde permanent gestützt, begleitet und geschützt von den Berufsrevolutionär*innen – zivil wie militärisch.

(2) Massenbewegung und gesellschaftliche Arbeit der Kader*innen

Wer nun sagt: Ohne Kader*innen-Organisation bleibt jede Massenbewegung ein chaotisches Aufbegehren, muss zugleich sagen: Ohne Massenbewegung – und die lässt sich niemals einfach »herbeiführen« – kann auch keine noch so gut geformte Kader*innenorganisation irgendeine Revolution machen. Wer das Element der Spontanität leugnet, degradiert die Kader*innen-Organisation zu einem Zirkel von Verschwörer*innen, die letztlich mit der Gesellschaft nichts mehr zu tun haben.

Im Gegenteil ist es die bedeutendste Aufgabe der revolutionären Organisation, die Bedürfnisse der Bevölkerung, den Kern ihrer Kämpfe, ihrer Unzufriedenheit, ihres Aufbegehrens zu verstehen, kennenzulernen, und ihn zum antagonistischen Widerspruch gegen Staat und Kapital zu entwickeln.

Dafür muss man allerdings eines lernen: Geduld, die Fähigkeit zuzuhören und Widersprüche auszuhalten. Wer jedes Mal den Kontaktabbruch zu allen möglichen Menschen fordert, die nicht den eigenen Ansprüchen entsprechen, kann diese Aufgabe nicht verwirklichen. Wer sich selbst moralisch überlegen, »zivilisierter« und überhaupt besser dünkt, als die Massen der Unterdrückten, kann niemals die Gesellschaft gewinnen. Die permanente Publikumsbeschimpfung mag als Selbstvergewisserung taugen, als politische Strategie ist sie nicht nur nutzlos, sondern schädlich. Sie ändert Menschen nicht, sondern entfremdet sie von der Linken.

Die eigentlich vorhandene Einsicht, dass falsche Bewusstseinsformen aus der Gesellschaft erwachsen, in der wir leben, muss für uns selbst wie für die Arbeit in der Gesellschaft tragend werden. »Das, was wir heute hier analysieren, ist nicht der jetzige Moment, sondern die Geschichte. Und wir analysieren nicht den einzelnen Menschen, sondern die Klasse, die Gesellschaft«, verlautete die PKK auf ihrem III. Parteikongress 1986.

(3) Nicht irgendwann, jetzt

Damit hängt etwas anderes zusammen, was nun tatsächlich eine Abweichung der kurdischen Bewegung von klassischen Versuchen, den Sozialismus zu erkämpfen, darstellt: »Der Sozialismus war für uns nie irgendetwas ganz weit Entferntes«, schrieb die PKK-Revolutionärin Sakine Cansiz. »Wir haben eher geschaut, wie sich Freiheit, Gleichheit und Sozialismus verwirklichen lassen. Wie können wir anfangen, diese Prinzipien in unserem Leben umzusetzen? Wir haben immer Hoffnungen und Utopien gehabt, die wir nicht auf zukünftige Generationen projizieren wollten. Stattdessen haben wir angefangen, unsere Hoffnungen und Utopien im Hier und Jetzt umzusetzen.«

Man kann die Veränderung der eigenen Persönlichkeiten, des eigenen Zusammenlebens nicht auf einen Tag X nach der Revolution verschieben. Diese deterministische Auffassung des Verhältnisses von Basis und Überbau ist nicht einfach nur falsch, sie ist auch ein wirkliches Hindernis für eine gelingende Praxis.

Wenn wir nämlich eine Kader*innen-Organisation wollen, dann müssen wir zugleich auch nachdenken, wie sich deren »Führungsanspruch« durchsetzt. Die schlechte Variante ist die: Durch Belehrung und sobald möglich durch das Dekret und den Druck. Die bessere Variante wäre: Durch das eigene Vorbild. Durch das aktive Aufbauen alternativer Strukturen, einen solidarischen Umgang untereinander und das reale Vor-Augen-Führen der Möglichkeit einer auf Kollektivität beruhenden Form gesellschaftlicher Produktion und politischer Willensbildung.

Und G20?

Mit den G20-Protesten hat das nicht nur äußerlich zu tun. Die meisten Aufrufe sind sich in dem Punkt einig, dass der G20 nur ein Moment in einem größeren Prozess sein kann. Die wirklich wichtigen Dinge geschehen in den Konferenzen vor, den Zusammenkünften vor und während der Aktionstage und in der gemeinsamen Nachbearbeitung und Bewältigung von Repression.

Dass wir »in die Kieze«, »in die Betriebe«, »an die Basis« müssen, das schreiben seit einigen Jahren unisono alle möglichen Gruppen. Es gibt erste Schritte in diese Richtung. Wollen wir das aber konsequent angehen, müssen wir auch darüber nachdenken, wie wir selbst organisiert sind. An »freien Abenden« ist die Aufgabe nicht zu bewältigen. Und sie ist auch nicht durch Menschen zu bewältigen, die politische Arbeit als Freizeithobby verstehen.

Zum anderen gibt uns der G20-Gipfel die Möglichkeit, uns auf nationaler wie internationaler Ebene besser kennenzulernen, zu diskutieren und abzustecken, wer mit wem enger zusammenarbeiten kann. Jenseits von (mancherorts wieder »modernem«) Sektierertum, aber auch jenseits von ideologischer Beliebigkeit müssen wir vor allem das: diskutieren, kritisieren, gemeinsame Positionen entwickeln und – wo es geht – näher zusammenrücken. Gerade für die deutsche Linke, die in vielerlei Hinsicht schwächer aufgestellt ist als die Spaniens, Griechenlands oder der Türkei/Kurdistans, ist das bedeutend. Vielleicht kann man sogar sagen: Wenn die deutsche revolutionäre Linke überhaupt wieder eine geschichtlich relevante Kraft werden wird, dann wird die Bewältigung dieses Kraftakts aus dem Internationalismus geboren werden.

Und da spielt der G20-Protest sicher eine wichtige Rolle.

Peter Schaber ist Autor beim Lower Class Magazine. Seit kurzem lässt er jedoch seine Schreibtätigkeit ruhen, um die Genoss*innen der kurdischen Bewegung in Rojava zu unterstützen.

Bild: Von Marxsite.org, »Kurdish women's battle against the state and patriarchy«, 16. August 2016