von Flaschenpost tags Feminismus (Anti-)Faschismus Populismus Datum Oct 2022
zuWas der Wahlsieg Giorgia Melonis und ihrer postfaschistischen Partei Fratelli d'Italia für die italienische Linke bedeutet und warum sich soziale, ökologische und feministische Kräfte gegen die neue rechte Hegemonie verbünden müssen, argumentiert Giansandro Merli in diesem Text.
Die Wahl
Die erste weibliche Ministerpräsidentin in der Geschichte Italiens wird Giorgia Meloni heißen. Noch steht die offizielle Amtseinführung aus, aber die Wahlergebnisse sprechen für sich: Die Rechtskoalition hat eine Mehrheit in der Abgeordnetenkammer und im Senat. Die Fratelli d'Italia (FdI) erhielten 26 Prozent und setzten sich von den beiden anderen Bündnispartnern deutlich ab: der Lega von Matteo Salvini (8,9 Prozent) und der Forza Italia des unsterblichen Silvio Berlusconi (8,3 Prozent). Die beiden Spitzenpolitiker müssen einen Schritt hinter Meloni treten, aber ihre Stimmen werden für die Aufrechterhaltung der Regierung in beiden Kammern des Parlaments notwendig sein.
Im Vergleich zu den vorangegangenen Wahlen im Jahr 2018 hat die FdI ihren Stimmenanteil versechsfacht, dies vor allem auf Kosten der anderen rechtsgerichteten politischen Kräfte. Einer der Gründe dafür ist sicherlich, dass sie in allen drei Regierungen der letzten Legislaturperiode in der Opposition war: Erste Regierung Conte (Movimento 5 Stelle - Lega); Zweite Regierung Conte (Movimento 5 Stelle - Partito democratico); Regierung Draghi (technokratische Regierung bestehend aus allen Parteien außer der FdI).
Zwei weitere Faktoren begünstigten den Sieg der Rechten: ein sehr kompliziertes Wahlgesetz, das ein Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht kombiniert und Koalitionsbildungen belohnt. Und die Entscheidung des Sekretärs der Demokratischen Partei (PD), Enrico Letta, die Koalition mit dem Movimento 5 Stelle (M5S) zu sprengen, nachdem dieser der Regierung Draghi das Vertrauen entzogen hatte. Lettas Wahlkampf, der 19 % der Stimmen brachte, scheiterte an allen Fronten. Er wollte in der Auseinandersetzung zwischen ihm und Meloni polarisieren und dann im Angesicht einer faschistischen Gefahr die voti utili (1) einsammeln. Beides ist ihm nicht gelungen.
Vor allem in den letzten Wochen und insbesondere im Süden hat der M5S, der noch vor wenigen Wochen für tot gehalten wurde, schnell wieder an Zustimmung gewonnen. Im Süden wurde er stärkste Partei, mit sehr hohen Prozentsätzen in den Armenvierteln der Städte. Landesweit lag der M5S mit 15,6 % hinter der PD. Im Vergleich zu den Wahlen 2018 ist er die politische Kraft, die in absoluten Zahlen die meisten Stimmen verloren hat, nämlich rund 6 Millionen. Und dennoch kann er mit dem Ergebnis zufrieden sein. Während der Legislaturperiode hat der M5S unter der Führung von Giuseppe Conte, einem bis dato unbekannten Rechtsanwalt aus der Provinz Foggia, der vor vier Jahren aus dem Nichts ins Rampenlicht der nationalen Politik getreten ist, sein Gesicht gewechselt. Aus einer Mischung von populistischen Forderungen, die weder rechts noch links waren und dem M5S erst zu einer Regierung mit der Lega und unmittelbar danach mit der Demokratischen Partei verhalfen, hat er sich neu aufgestellt. In sozialen und ökologischen Fragen gilt er als linker als Lettas Partei. Nicht weil der M5S besonders radikale Positionen vertritt, sondern weil die PD sich weiter in die Mitte bewegt hat. Wie die geografische Verteilung der Stimmen und die Verteilung nach Einkommensklassen zeigen, wurde der M5S bei diesen Wahlen überwiegend von den ärmeren Bevölkerungsschichten gewählt. Die Partei von Conte, die einige für eine populistische Bewegung typische Widersprüche aufweist, hat es geschafft, eine Wähler*innenschaft aufzufangen, die der linken Mitte und ihrer neoliberalen Politik seit Jahren den Rücken gekehrt hat.
Unter den Hauptthemen des Wahlkampfs muss dem »Bürgergeld« (RdC) besondere Aufmerksamkeit gelten. Es handelt sich um eine von der ersten Regierung Conte beschlossene Unterstützung, um die 600 Euro, die im Juli 2022 1 Million Familien und 2,5 Millionen Menschen betraf. Die Forderung nach einem allgemeinen und bedingungslosen Einkommen ist seit Jahrzehnten Bestandteil des Kampfes der italienischen sozialen Bewegungen. Insbesondere der außerparlamentarischen Bewegungen, welche ihre Wurzeln in der Autonomia Operaia der 1970er Jahre und der Ablehnung der Lohnarbeit haben. Aus deren Sicht dient das »Einkommen für alle« als Instrument der Emanzipation von Arbeitserpressung und Armut. In jüngerer Vergangenheit hat auch die feministische Bewegung Non Una Di Meno mit der Forderung nach einem »selbstbestimmtes Einkommen« diese Thematik aufgegriffen.
Die von der Regierung Conte eingeführte Maßnahme bewegt sich freilich auf einer ganz anderen Ebene: Sie ist weder universell noch bedingungslos, sondern birgt im Gegenteil viele Hürden. Am abscheulichsten ist die Voraussetzung eines mindestens zehnjährigen Aufenthalts im Inland, von dem Zugewanderte, die in wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen leben, ausgeschlossen sind.
Während des Wahlkampfs befeuerte der rechte Flügel die rassistische Rhetorik gegen süditalienische Regionen, wo diese Form der finanziellen Unterstützung weiter verbreitet ist, und nährte das Stereotyp eines schmarotzenden und bedürftigen Südens, der dank des »Bürgergelds« auf Kosten des produktiven Nordens leben würde. Auch diese Dynamik hat dazu geführt, dass das »Bürgergeld« der M5S, insbesondere von Rom ab südwärts, starken Auftrieb gegeben hat. Damit verhinderte der M5S, dass der rechte Flügel die parlamentarische Zweidrittelmehrheit erhält, mit der er Verfassungsreformen verabschieden könnte, ohne sie einem Referendum unterziehen zu müssen (in der italienischen Geschichte wurden Verfassungsänderungen im Rahmen von Volksbefragungen fast so gut wie immer abgelehnt). Zu den Punkten in Melonis Programm gehört neben der Abschaffung des »Bürgergeldes« auch die Umgestaltung des politischen Systems im präsidialen Sinne mit dem Ziel, der Premierministerin mehr Entscheidungsbefugnisse zu geben und diese wiederum dem Parlament zu entziehen.
Ist Giorgia Meloni eine Faschistin?
Die Frage, die Millionen von Italiener*innen dieser Tage von ihren im Ausland lebenden Freund*innen und Verwandten gestellt wird, lautet immer wieder: Werdet ihr in Zukunft eine faschistische Regierung haben? Die Antwort lautet nein, zumindest für den Moment nicht. Wir werden jedoch eine rechtsextreme Regierung erhalten, die das gesamte politische Koordinatensystem in Europa noch weiter nach rechts verschieben wird. Aber schauen wir uns das der Reihe nach an: Fratelli d'Italia steht in direkter Verbindung mit dem Movimento sociale italiano (MSI), dessen Symbol eine Flamme in den Farben der Tricolore ist. Letztere ist jene Partei, die 1946 von Veteranen der Repubblica sociale di Salò gegründet wurde – dem Regime, das mit den deutschen Nazis kollaborierte und das von 1943 bis 1945 an der Macht war. Bis Anfang der 1950er Jahre charakterisierten den MSI ausgedehnte klandestine Aktivitäten im Untergrund. Diese reichten von körperlichen Übergriffen bis zu Bombenanschlägen. Danach folgte eine Phase der Normalisierung, die ihren Höhepunkt in der Unterstützung der Regierung des Christdemokraten Fernando Tambroni im Jahr 1960 fand (was zu Unruhen im ganzen Land und zum Sturz der Regierung selbst führte). In den 1970er Jahren durchschritt der MSI eine Phase der engen Verbindung mit Gewaltaktionen und Rechtsterrorismus. Ab dem folgenden Jahrzehnt versuchte er sich eine institutionelle Fassade zu geben. Die Gründung der neuen Partei FdI im Jahr 2012, angefährt unter anderem von Meloni, beruht jedoch nicht auf einer ausdrücklichen Ablehnung des Faschismus oder der MSI-Tradition.
Am Sonntagabend widmete Meloni in ihrer ersten Rede nach der Wahl den Sieg »denen, die nicht mehr da sind« und all jenen, die unter der Ausgrenzung aus dem politischen und sozialen Leben zu leiden hatten. Das heißt, die gefallenen Kameraden und Neofaschist*innen, die, wie man in Italien sagt, »in der Kanalisation gelebt haben«. Wie Ratten. Verschmäht vom Rest des Landes. Ausgeschlossen. Trotz der Tatsache, dass die explizit neofaschistischen Kräfte bei den letzten Wahlen alle in einer anderen Partei namens Italexit angetreten sind, ist es offensichtlich, dass der Sieg der FdI für die Sphäre der extremen Rechten und für ihre symbolischen und kulturellen Bezüge ein historisches Ereignis darstellt. Bis vor wenigen Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass eine postfaschistische Ministerpräsidentin Italien führt.
Doch genau das wird wohl bald geschehen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass dies, zumindest kurzfristig, zu einer autoritären Wende führt. Während des gesamten Wahlkampfs hat Meloni sich in ihrem Ton zurückgehalten, um die Märkte und andere europäische Führungsfiguren, sowie jene der NATO zu beruhigen. Sie kündigte an, einige Minister*innen, insbesondere jene für Wirtschaft und Außenpolitik, gemeinsam mit dem Staatspräsidenten Sergio Mattarella auszuwählen. Dies bedeutet, dass diese von der Europäischen Union (EU) und der Atlantischen Allianz akzeptiert werden. Einige Vorgänge und der erste Haushaltsentwurf der neuen Regierung werden unter der Aufsicht von Mario Draghi bearbeitet, dem ehemaligen Präsidenten der Europäischen Zentralbank, der der noch bestehenden Regierung der nationalen Einheit vorsteht. Paradoxerweise war die Partei Melonis die einzige, die Draghi Opposition leistete, wenn auch nicht besonders heftig. Aber jetzt, da sie die Wahlen gewonnen hat, wird sie eben dieses Programm fortsetzen. Zumindest für den Anfang und mit Blick auf einige wirtschaftliche Schlüsselfragen.
Kurzum, angesichts eines Herbstes, der aufgrund die Höhe schießender Energiepreise, eines angekündigten wirtschaftlichen Bebens, der nuklearen Bedrohung und des Krieges vor den Toren des Landes explosiv sein dürfte, scheint die FdI-Chefin Unruhe vermeiden zu wollen. Insbesondere in den zwischenstaatlichen Beziehungen. Dies wird sie nicht daran hindern, bestimmte identitäre Wahlinhalte, die ihr am Herzen liegen, umzusetzen. Sowohl mit Blick auf Sozialleistungen und Ressourcenverteilung als auch hinsichtlich der Bürgerrechte und der Einwanderung. Während die Minister*innen noch benannt werden müssen, diskutiert Meloni bereits über die Streichung oder Beschränkung des »Bürgergeldes«. Sie kündigt die Unterstützung zum Erhalt der Anti-Abtreibungsverbände von »pro vita« in Krankenhäusern an, in denen freiwillige Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden, sowie eine Verschärfung der Einwanderungspolitik. Während des Wahlkampfs sprach Meloni sogar von einer »Seeblockade« italienischer Militäreinheiten vor der libyschen Küste, um dort die Ausreise zu verhindern. Eine nicht durchführbare Maßnahme. In jedem Fall hängt für die FDI-Chefin ein Großteil der Möglichkeiten die staatlichen Strukturen tiefgreifenden umzugestalten von der europäischen Ebene und einer möglichen Akzeptanz durch die USA ab. Prominente Mitglieder ihrer Partei haben bereits den, schwer umsetzbaren, Wunsch bekundet, dem nationalen Recht Vorrang vor dem europäischen Recht einzuräumen. Dies wäre für die EU eine Katastrophe, die weitaus größere Auswirkungen hätte, als die Einführung ähnlicher Maßnahmen in den osteuropäischen Ländern. Die italienische Rechte blickt mit großem Interesse auf die »illiberalen Demokratien« Polen und Ungarn (auch wenn die Haltung letzterer zu Krieg und Sanktionen Spaltungen hinterlassen hat). Mehr als der historische Faschismus ist dies das Modell der FdI.
Meloni hat sich öffentlich gewünscht, dass die Neofaschist*innen von Vox, mit denen sie ein Bündnis eingegangen ist, Teil der nächsten spanischen Regierung werden. Eine solche Achse der Regierungen mit rechtsextremer Beteiligung in Europa könnte in der Lage sein, den politischen Systemen sowohl der EU als auch der Mitgliedstaaten tiefgreifende reaktionäre Veränderungen aufzuzwingen. Die Tatsache, dass die Mauer zum Postfaschismus in einem Land wie Italien, der drittgrößten Volkswirtschaft Europas, durchbrochen wurde, ist ein sehr schlechtes Signal für den Rest Europas.
Außerhalb des Parlaments
Achtundvierzig Stunden bevor zwei Drittel der Italiener*innen ihre Stimme abgaben, füllten sich in ganz Italien insgesamt 80 Plätze mit zehntausenden von jungen Leuten von Fridays for Future. Seit vier Jahren fordern sie die radikale Umstellung des Produktionskreislaufs, um eine Umweltkatastrophe zu vermeiden. In Italien besteht diese »grüne Generation«, insbesondere der gut organisierte Teil, auf der Notwendigkeit, Klima- und soziale Gerechtigkeit zusammen zu denken. Ziel ist es den ökologischen Wandel durchzusetzen und die Reichen dafür zahlen zu lassen. Der Dialog mit Teilen der Gewerkschaften und kämpfenden Arbeiter*innen – wie in der von Arbeiter*innen besetzten Gkn-Fabrik, die zu einem Zentrum der politischen Neufindung der Bewegungen geworden ist – geht weiter. Er könnte gar beschleunigt werden, im Angesicht einer Regierung von Klimaleugner*innen, die bereit ist, der neoliberalen Agenda ökonomische Kontinuität zu verleihen.
Weniger als 12 Stunden nach der Bekanntgabe des Sieges der FdI öffneten Schüler*innen eines Gymnasiums im Zentrum von Mailand das Schultor und besetzten die Schule. Zufälligerweise handelt es sich um jene Schule, die Salvini als junger Mann besuchte. Es war ein kleiner Protest mit einem starken Signal: Schüler*innen sind bereit, sich gegen den Vormarsch der Rechten zu organisieren. In diesen Stunden diskutieren die Schulkollektive in Rom und vielen anderen Städten darüber, ob sie vor oder nach der Bildung der neuen Regierung ihre Schulen besetzen sollen. Dieser Herbst verspricht ein heißer Herbst für die Bildungslandschaft zu werden. Mehr noch als der Herbst 2021, in dem die Mobilisierung bereits wieder wuchs.
Die erste große Mobilisierung gegen die nächste Regierung war jedoch feministisch. Das lag auf der Hand. Seit 2016 werden italienische Plätze, Schulen und centri sociali von einer pinkfarbenen Welle namens Non Una Di Meno erfasst. Drei Tage nach der Abstimmung, am internationalen Tag für das Recht auf legale, sichere und kostenlose Abtreibung, dem 28. September, füllten sich die Straßen von Verona bis Palermo, von Turin bis Neapel, von Mailand bis Rom mit der Bewegung, die einen feministischen Widerstand gegen die erste Premierministerin ins Leben gerufen hat. Eine politische, aber auch ethische Opposition, insbesondere der jüngeren Menschen. Für sie ist das Gesellschaftsprojekt der Rechten, das vom Slogan »Gott, Vaterland und Familie« getragen wird, nicht mehr als ein seltsames archäologisches Relikt, das plötzlich in den Fokus rückt.
Eine weitere Ebene auf der eine gewisse Unruhe wahrzunehmen ist, ist die Verteidigung des »Bürgergeldes« und der Kampf für den Mindestlohn (den es in Italien nicht gibt). Derzeit stehen einige Vorschläge zur Debatte, und es finden die ersten Diskussionen auf großen Versammlungen statt. Insbesondere zwischen den sozialen Bewegungen und kämpfenden Gewerkschaften. Der Wille der Rechten, das »Bürgergeld« zu bekämpfen, könnte neue Konflikträume eröffnen. Verbunden etwa mit den Folgen der Inflation für die Arbeitnehmer*innen und dem Risiko, dass Fabriken und Arbeitsplätze geschlossen werden.
Es steht ein langer Winter bevor und nur die intersektionale Verbindung von sozialen, ökologischen und feministischen Kräften, kann uns einem neuen Frühling näherbringen.
Fußnoten (1): »Voto utile«: Im Mehrheitswahlsystem die Stimme die eine*r Kandidat*in gegeben wird von der die Wähler*in annimmt, dass er*sie gute Chancen hat zu gewinnen, anstelle des*der Kandidati*in, die tatsächlich bevorzugt wird. Das Argument der »voto utile« wird von aussichtsreichen Kandidat*innen im Wahlkampf häufig ideologisch eingesetzt, indem die Wähler*innen aufgefordert werden ihre Stimme nicht zu »verschwenden« und politische Gegner*innen zu »verhindern«.
Autor: Giansandro Merli ist einer der Gründer*innen von DinamoPress und arbeitet als Journalist für die italienische Zeitung il manifesto.
Der Text ist im Original auf italienisch erschienen.
Bild: Gris (1931) von Wassily Kandinsky