Das Abtreibungsverbot abschaffen


Plädoyer für eine erweiterte Perspektive

Nach 150 Jahre Abtreibungsverbot ist es Zeit, den Paragraph 218 in den Ruhestand zu schicken. Warum der Kampf für einen legalen und kostenlosen Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen nicht ausreicht, sondern Feminist*innen auch für das Recht auf Elternschaft und das Recht auf die Möglichkeit, Kinder abgesichert großzuziehen streiten müssen, diskutiert die Berliner Frauen*streik-AG in diesem Text.

2021 wird das deutsche Strafgesetzbuch 150 Jahre alt – das ist kein Grund zum Feiern. Denn das heißt auch, dass der Staat indem er mit den §§218, 219 StGB Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe stellt, seit 150 Jahren darüber entscheidet, ob Schwangere ein Kind auf die Welt bringen oder nicht. Das ist vor allem auch für diejenigen bitter, die zum Beispiel in der DDR einen viel selbstbestimmteren Umgang gelebt haben. Die fortwährende Geltung des Abtreibungsverbot ist ein unzumutbarer Zustand, denn das Gesetz bedeutet, dass Schwangere das grundlegende Recht auf körperliche Selbstbestimmung mit der Schwangerschaft verlieren. Auch der Einwand, dass es mittlerweile eine sogenannte Fristenregelung (1) gibt, schmälert den Fakt nicht, dass der Staat Schwangeren eine Austragungspflicht vorschreibt. Schwangerschaftsabbrüche werden gesetzlich im gleichen Abschnitt geregelt, in dem auch Mord und Totschlag verhandelt werden. Es ist wichtig, dies in aller Deutlichkeit zu betonen. Auch eine eingeschränkte Straffreiheit in der Praxis verhindert nicht, dass hier etwas gewaltig schief läuft: Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbrüche gehören nicht ins Strafgesetzbuch, sondern müssen als Teil der Gesundheitsfürsorge behandelt werden.

150 Jahre und keinen Tag länger

Trotz jahrzehntelanger feministischer Kämpfe für die Abschaffung des Abtreibungsverbots in §218 StGB, scheint dieser nicht ins Wanken zu geraten. Heute befinden wir uns gesellschaftlich in einer ambivalenten Situation: Während von rechtskonservativer Seite jeder kleinste Schritt in Richtung emanzipatorischer Entwicklung mit medialer Empörung über die Ausbreitung des »Gender-Gagas« aufgebauscht wird, gibt es in linken bis linksliberalen Kreisen eine breite Zustimmung zu Pro-Choice-Positionen.

Regelmäßig gehen tausende Menschen weltweit, aber auch in Deutschland auf die Straße und kämpfen für reproduktive Rechte. Beispielsweise sorgte der Prozess gegen die Ärztin Kristina Hänel regelmäßig für Empörung und löste breite Solidarisierungskampagnen mit ihr aus. Ihr drohen seit 2009 juristische Konsequenzen, da sie vermeintliche »Werbung« für Schwangerschaftsabbrüche machte, die im §219a StGB verboten ist.

Seit 2008 wird jährlich in großem Maße gegen den »Marsch für das Leben« von christlichen Fundamentalist*innen mobilisiert. Immer wieder gibt es Kampagnen, Petitionen und Aktionstage gegen das Abtreibungsverbot - der jährliche »Safe Abortion Day« am 28.09., die Petition »Weg mit § 218« oder der feministische Kampftag am 8. März, an dem reproduktive Rechte jedes Jahr lautstark gefordert werden, sind hier nur einige Beispiele. So scheint es, als herrsche doch eine relativ breite gesellschaftliche Zustimmung darüber, dass das Abtreibungsverbot mittelalterlichen Zeiten angehört.

Parteipolitisch wiederum kommt das nicht zum Ausdruck: Während DIE LINKE Anfang 2021 einen Antrag im Bundestag für die Abschaffung des Paragrafen eingebracht hat, opferte die SPD die Forderung, um eine Regierungskoalition mit der CDU eingehen zu können. Ähnliches wiederholt sich jetzt bei den Grünen: Im neuen Grundsatzprogramm der Partei ist noch die Forderung enthalten, Schwangerschaftsabbrüche aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Im aktuellen Wahlprogramm findet sich allerdings nur noch die aufgeweichte Forderung nach der Abschaffung von §219a, also dem Werbungsverbot für Schwangerschaftsabbrüche. Das ist natürlich wenig überraschend, macht aber erneut deutlich, dass sich ohne Druck von der Straße und durch eine kämpferische feministische Bewegung nichts verändern wird.

Vorbilder für einen solchen Druck »von unten« gibt es viele: Der weltweite Kampf für sexuelle und reproduktive Rechte ist nicht zu übersehen. Auf allen Kontinenten der Welt fordern FLINT (Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre und trans Personen) Selbstbestimmung über ihre Körper. Während in Polen das Abtreibungsrecht trotz massiver feministischer Proteste verschärft wurde, ist in Argentinien möglich geworden, wovon viele träumen: Ende 2020 wurden Abtreibungen dort legalisiert. Wir sollten dieses Jahr zum Anlass nehmen, um auch in Deutschland Erfolge feiern zu können und den Druck zu erhöhen. 150 Jahre §218 StGB sind 150 Jahre zu viel.

Die Rufe nach Pro Choice sind nicht genug - No justice, no choice !

Mit der Forderung nach einer Abschaffung von §§218, 219a StGB alleine ist es noch nicht getan. Lange haben sich die Kämpfe für die Abschaffung der Paragrafen in Deutschland auf den Slogan »Mein Bauch gehört mir«, also auf die Selbstbestimmung und individuelle Entscheidungsfreiheit, konzentriert. Das ist weiterhin richtig - aus unserer Sicht müssen wir diese Perspektive aber um radikalere Forderungen erweitern.

Denn es geht um viel mehr: Reproduktive Gerechtigkeit für alle!

Reproduktive Gerechtigkeit ist ein theoretisches und aktivistisches Konzept. Als Kritik an einer an weißen Frauen ausgerichteten Pro Choice-Bewegung stärkt dieser intersektionale Ansatz marginalisierte Perspektiven. Fragen rund ums Kinderkriegen und Schwangerschaftsabbrüche sind für viele verbunden mit Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen. BIPoCs müssen häufig erleben, dass ihnen das Recht auf ein Kind aus rassistischen Gründen aberkannt wird. Doch haben diese Erfahrungen oft keinen Platz im Diskurs um die Abschaffung des §218.

Auch queere Menschen sind damit konfrontiert, dass der Staat ihnen erschwert oder gar verunmöglicht, Eltern zu werden und als Eltern anerkannt zu werden, während er gleichzeitig unter Strafe normiert wer Kinder bekommen soll, nämlich weiße heterosexuelle Paare.

Durch das Konzept der Reproduktiven Gerechtigkeit werden Kämpfe um reproduktive Rechte und soziale Gerechtigkeit zusammengeführt. Das Recht und der Zugang zu Abtreibungen, die Selbstbestimmung über den eigenen Körper, das Recht auf Elternschaft, auf gewaltfreie Kindererziehung, auf eine sichere Wohnung und so vieles mehr sind untrennbar miteinander verbunden und müssen von uns gemeinsam angegangen werden.

Bündnisse erweitern, Kämpfe bündeln

Wir brauchen mehr als einen Abwehrkampf gegen patriarchale und antifeministische Kräfte. Es ist höchste Zeit die Perspektive zu erweitern, denn es geht um viel mehr als um die individuelle Wahlfreiheit und Selbstbestimmung. Es ist jetzt an uns, ein möglichst konkretes Bild davon zu entwerfen, was wir aus linksradikaler feministischer Perspektive unter Reproduktiver Gerechtigkeit verstehen: Wie muss eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung aussehen, die uns nicht nur von Sexismus und Antifeminismus, sondern auch von Rassismus und Klassenherrschaft befreit? Eine solche Befreiung beinhaltet eine Neuverteilung von ökonomischen und sozialen Ressourcen sowie Rechten, die die Forderungen nach körperlicher und sexueller Selbstbestimmung grundlegend erweitern. Dies bedeutet auch, dass wir neue Bündnisse schließen müssen: Mit wem und für wen führen wir feministische Kämpfe? Wie schaffen wir Verbindungen zu anderen sozialen Kämpfen, zu antirassistischen Kämpfen? Reproduktive Gerechtigkeit als Perspektive ermöglicht es uns, Bündnisse zu erweitern und Kämpfe zu bündeln.

Gleichzeitig braucht es eine Zuspitzung und konkrete Forderungen nach Veränderungen. Der §218 StGB wird seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert und scheint dennoch unverrückbar. Genau wegen dieser Symbolkraft ist es wichtig, jetzt hier anzusetzen. Es gibt Generationen von Feminist*innen, die gegen den Paragrafen kämpfen. Mit ihnen müssen wir uns zusammenschließen. Es gibt internationale Kämpfe, auf die wir uns beziehen können. Und: Fällt der Paragraf, öffnet sich ein Feld für neue Erfolge - wir dürfen dann nur nicht stehen bleiben.

Zugegebenermaßen scheint die feministische Bewegung in Deutschland momentan weit davon entfernt, ihre Kräfte und Kämpfe zu bündeln. Wir denken, dass der Kampf um die Abschaffung von §218 das Potential hat, hier eine Annäherung zu schaffen und feministische Kämpfe wieder zusammenzuführen und zu stärken. Dafür ist das Konzept von Reproduktiver Gerechtigkeit nötig. Denn nur wenn wir uns nicht auf die reine Abschaffung des Abtreibungsverbots in §218 StGB fokussieren, sondern Reproduktive Gerechtigkeit für alle einfordern, können wir nach einem erfolgreichen Kampf gegen §218 für das gute Leben für alle sorgen.

Fußnote: (1) Die Fristenregelung regelt, in welchem Zeitraum und unter welchen Umständen ein Schwangerschaftsabbruch straffrei möglich ist. In der BRD gilt diese Fristenlösung seit 1994: In den ersten 12 Wochen nach der Befruchtung ist ein Abbruch zwar rechtswidrig, wird aber strafrechtlich nicht verfolgt, sofern im Vorfeld eine sog. Schwangerschaftskonfliktberatung inkl. Bedenkzeit stattgefunden hat (§ 218a, Absatz 1 StGB).

Autor*innen: Die Berliner Frauen*streik-AG hat sich zum Ziel gesetzt, anlässlich des 150-jährigen Jubiläums des Abtreibungsparagraphen Kämpfe für reproduktive Gerechtigkeit auf die Straße zu bringen.

Bild: Handgemalte Papaya, Original von der Biodiversity Heritage Library