Von Straßenschlachten, Innenministern und anderen Schreckgespenstern

Was ist da bloß los in Stuttgart? Eine Genossin aus unserer Ortsgruppe geht dieser Frage nach. In den Blick geraten dabei weniger die nächtlichen Ausbrüche als vielmehr die Vorgeschichte und die reaktionäre Stimmungsmache im Anschluss.

Die gutbürgerliche Metropole des fleißigen Schwabenländles hat die »Gewalt« wie ein Erdbeben erfasst. Am Sonntag, den 21. Juni wachen wir auf zu Berichten von »kriegsähnlichen Zuständen« in der Stuttgarter Innenstadt. Prügelnde Jugendliche hätten in der Nacht die Stadt in Angst und Schrecken versetzt, ihr jeweiliger Migrationshintergrund und ihre Staatsangehörigkeit sind dann im Nachhinein schnell aufgeschlüsselt – natürlich nur damit alle Fakten auf dem Tisch liegen. Es herrscht viel Verwirrung seit diesem Sonntagmorgen. Natürlich hat niemand genügend Informationen, um die Dynamik dieser Nacht genau zu rekonstruieren, aber das hindert insbesondere die Lokalpresse und die bürgerlichen Medien nicht an der sofortigen Bewertung und Einordnung in Einklang mit der eigenen Ideologie. Rechtschaffende Männer aus der Politik beeilen sich mit Statements, überschlagen sich in ihren Anrufungen des hart strafenden Rechtsstaates und sprechen von Hass auf Polizist*innen und mangelndem Respekt als Ursache der Ereignisse. Die Gunst der Stunde wird dann gleich genutzt, die Schuld politischen Gegnern zuzuschieben, die es gewagt haben, in den vergangenen Wochen kritische Positionen gegenüber der Polizei einzunehmen.

Gerade jetzt, als mit den Black Lives Matter-Protesten endlich auch hierzulande der Diskurs zu institutionalisiertem Rassismus und fragwürdigen Polizeipraxen an Fahrt aufnahm, nutzt der Staat jene Samstagnacht, um dieser Bewegung den Riegel vorzuschieben und die Proteste zu deligitimieren. Und die bürgerliche Öffentlichkeit zieht mit. Die Polizei - dein Freund und Helfer. Lieber jetzt ein Banner mit »Wir sind Polizei« ans Rathaus hängen. Hier zeigt sich wieder einmal die Obrigkeitshörigkeit der Deutschen: Die ganze Welt positioniert sich gegen Polizeigewalt und strukturellen Rassismus. Bei uns stellt man sich schützend vor die Polizei, denn bei uns ist das ja nicht so wie in Amerika, hier gibt es keinen Rassimsus. Hier gibt es kein racial profiling, keine Abschiebungen und keine ständigen Festnahmen wegen Kleinstdelikten als Beschäftigungstherapie und Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für die Staatsdiener.

Jeden Tag werden in unserer Stadt »verdachtsunabhängige« Personenkontrollen rund um Bahnhof und Schlosspark durchgeführt. Den ganzen Sommer lang wird Leuten, die sich auf öffentlichen Flächen treffen - weil sie in Ruhe ihre Freizeit genießen möchten, weil sie vielleicht in Clubs nicht reinkommen oder die Bars zu teuer sind oder auch einfach, weil sie gerne mit ihren Freund*innen auf der Wiese sitzen (koscht nix) - durch ständige aggressive Polizeikontrollen klar gemacht, dass sie im Stadtbild nicht erwünscht sind. Die prunkvollen historischen Gebäude, die penibel gemähten Rasenflächen und die abweisenden Glasbauten machen sich einfach besser, wenn dort keine Jugendlichen durch ihre bloße Existenz provozieren. Gutverdiendende Opernbesucher*innen sollen sich vor der Vorstellung draußen noch schön einen Kessler (für alle Nicht-Schwäb*innen: Kessler ist der älteste Sekthersteller Deutschlands) reinleeren können, während die Jugendlichen mit ihrem Supermarktbier durch den Sicherheitsdienst von der Operntreppe vertrieben werden.

All das führt uns immer wieder zu der Frage: Wem gehört eigentlich die Stadt? Statt nach Antworten zu suchen ruft man jetzt nach mehr Videoüberwachung, Alkoholverbot auf öffentlichen Plätzen oder als Notpflaster nach ein paar mehr Sozialarbeiter*innen. Es herrscht Entsetzen und Fassungslosigkeit, wie es zu einer solchen Gewalt gegen Dinge kommen kann. Immer wieder werden Fotos von dem enstandenen Schaden geteilt. Es wird das Bild eines gewaltbereiten Mobs gezeichnet, der schlägernd und plündernd durch die Straßen zog. Viele Medien feuern eifrig diese Täter-Opfer-Umkehr an. Eine solche Eskalation habe es in Stuttgart noch nie gegeben, behaupten Stimmen, die den »Schwarzen Donnerstag«, also die gewaltsame Räumung des Schlossgartens im Kontext der Stuttgart 21-Proteste am 30. September 2010, sorgfältig aus ihrem Gedächtnis gestrichen haben. Die Bigotterie des bürgerlichen Staats hat Hochzeit.

Wir dürfen uns durch diese neueste Diskursverschiebung nicht den Wind aus den Segeln nehmen lassen. Ein paar Fensterscheiben und eingedellte Autotüren lassen sich nicht aufwiegen gegen die Leben von Ouri Jalloh, Halim Dener, Robble Warsame, Amad Ahmad, Hussam Fadl und vielen weiteren, die von deutschen Polizist*innen ermordet wurden. Wo war der Innenminister in diesen Fällen? Warum gibt es keine unabhängige Aufsicht, die sich mit solchen Angelegenheiten beschäftigt? Wenn die Untersuchung dieser Vorwürfe der Polizei selbst unterliegt, wen wundert es dann, dass sie im Sand verlaufen?

Das sich erst kürzlich aufgetane Fenster, in dem antirassistischen Protesten endlich mehr Gehör verschafft werden konnte, wurde in Stuttgart ganz schnell wieder zugeschlagen. Statt die grundlegenden Ursachen gesellschaftlicher Missstände, Alltagsrassismus, ökonomische Ungleichheit oder mangelnde soziale Infrastruktur (wie unkommerzielle Räume für junge Menschen) anzugehen, werden diese Ungleichheiten noch verschäft durch Corona-Krisenpakete und eine Law-and-Order-Politik, die seinesgleichen sucht.

Gerade jetzt ist es notwendig, dass wir Rassismus und rechte Strukturen aufzeigen und uns dafür stark machen, dass die Lasten der Corona-Pandemie nicht auf dem Rücken derer abgeladen werden, die eh schon schwer zu tragen haben. Wir stehen alle zusammen: Schulter an Schulter gegen rechte Hetze und ihre Repression! #nichtaufunseremrücken #leavenoonebehind

Autorin: eine Genossin aus unserer Stuttgarter Ortsgruppe.

Bild: Die Stuttgarter Idylle ist schon lange brüchig. Vor allem kurz vor dem aufziehenden Gewitter. Zu sehen ist die Stuttgarter Oper.