Coronakapitalismus


Oder: Was ist die Aufgabe der Linken in der Pandemie? Teil 2

Zeit der Krise, Zeit für Aktion statt für Analyse? Eben nicht, argumentieren die Genoss*innen der IL Münster und fragen, was uns Corona über den neoliberalen Kapitalismus und staatliche Herrschaft lehrt. Nach Teil 1 des Textes, in dem der Fokus auf medizinischen Notwendigkeiten, staatlichen Maßnahmen und neoliberalen Empfehlungen liegt, beschäftigt sich der folgende zweite Teil mit dem widersprüchlichen Zusammenhang von Kapitalismus und Demokratie sowie den Auswirkungen von Corona auf den öffentlichen und digitalen Raum.

Teil 1 des Textes kann hier nachgelesen werden.

Autoritäre Formierung – oder: Gibt es noch andere Gefährder außer Corona?

Autoritäre Formierung und die Krise der parlamentarischen Demokratie beherrschen die politische Lage in der BRD bereits seit Jahren. Zur autoritären Formierung gehören die neuen Polizeigesetze und ihre Normalisierung eines militarisierten Sicherheitsdiskurses sowie der gigantische Aufstieg der AfD, vor allem die Übernahme vieler ihrer politischen Argumentationsfiguren in den Diskurs der sogenannten bürgerlichen Parteien (z.B. in der Geflüchtetenpolitik). Der Krise der parlamentarischen Demokratie als Begründungsideologie der herrschenden Blöcke in der BRD wird schon seit geraumer Zeit mit der Aushöhlung des bürgerlichen Rechts entgegengearbeitet. Dazu gehört z.B. das sogenannte Feindstrafrecht, also die Möglichkeit von Strafverfolgung und präventiven Maßnahmen gegen sogenannte »Gefährder«. Darin zeigt sich zugleich eine gesamtgesellschaftliche Situation, insofern die neuen Polizeigesetze eine in weiten Teilen der Gesellschaft verbreitete Position widerspiegeln, wonach Rechtsverhältnisse als überflüssig erscheinen.

Ausnahmesituation und Ausnahmezustand

Hier stoßen wir auf den Begriff des Ausnahmezustands, der im Alltagsdiskurs häufig mit einer »Notsituation«, einer außergewöhnlichen Gefährdungssituation, verwechselt wird. Aber der Ausnahmezustand ist etwas anderes. Der »Ausnahmezustand« verweist im engeren Sinne auf die Aussetzung des Rechts, er beschreibt die Aufhebung des Rechts. In diesem Sinne ist die Nutzung des Begriffs des Ausnahmezustandes nach der politischen Theorie des faschistischen Staatsrechtlers Carl Schmitt momentan nur eine Analogie: Es gibt immer noch rechtliche, wenn auch immer häufiger nicht-gesetzliche Regelwerke wie z.B. Verordnungen und Verfügungen, die durch Horrorszenarien wie bei Hamburg und G20, Ellwangen (der Aufstand der Geflüchteten), dem Hambacher Forst (und seinen Waffenlagern und Tunnelsysteme) oder Corona (in der neuen Macht der »Ordnungsämter«) bebildert werden.

Zwar berufen sich die Herrschenden momentan auf das sog. Infektionsschutzgesetz, regieren seitdem aber hauptsächlich mit Allgemeinverfügungen und Verordnungen, also nicht mit Gesetzen, die durch die politischen Institutionen legitimierten wären. So sagte der Rechtsphilosoph Uwe Volkmann am 30. April in der SZ: »Ob die dünne Ermächtigungsgrundlage durch das Infektionsschutzgesetz ausreicht, um diese weitgehenden Freiheitseinschränkungen zu rechtfertigen? Die sind praktisch ausschließlich im Verordnungsweg, also nicht von den Parlamenten, sondern von den Regierungen so beschlossen worden. Eigentlich hätten die Gerichte sagen müssen: Das reicht als Grundlage für diese Eingriffe nicht aus.«

Verfügungen und Verordnungen werden immer wieder mit Verweis auf die andauernde »Ausnahmesituation« verlängert, ja ihre Fortdauer auch damit begründet, dass sonst die Ausnahmesituationen (Infektionsraten, steigende R-Zahlen, Überlastung des Gesundheitssystems etc.) fortdauern könnten. Auf diese Wiederkehr Schmittscher Begrifflichkeiten und Denkweisen hatte der italienische Philosoph Giorgio Agamben schon vor Jahren hingewiesen: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand (also über die Aussetzung oder über die alleinige Interpretation des Rechts) herrscht.«

Also doch: Kapitalismus ohne Demokratie

»Sie wollen Kapitalismus ohne Demokratie«, so lautete unser Slogan während der Blockupy-Proteste. Wer konnte ahnen, wie schnell das Wirklichkeit werden würde. Der Ausnahmezustand hält an, die ersten Geschäfte werden wieder geöffnet, VW brauchte gar nicht um Erlaubnis zu fragen, die Produktion wieder in Gang setzen zu dürfen, aber der Protest gegen die Zustände in den Lagern gilt immer noch als Verstoß gegen die Infektionsschutzverfügungen. Die Corona-Verordnungen erweisen sich als ein riesiges gesellschaftliches Laboratorium, wie wenig Demokratie, wie wenig Freiheit diese Gesellschaft braucht. Es scheint, als ob es nur noch den Staat und die Ordnung einerseits und das Chaos und die Anarchie andererseits gibt. So heißt es im Strate¬giepapier von Horst Seehofer dann auch konsequent:

»Die deutsche Volkswirtschaft ist eine Hochleistungsmaschine, die Jahr um Jahr ein hohes Maß an materiellem Wohlstand und allen Bürgern zugänglichen öffentlichen Gütern wie einer umfassenden Gesundheitsversorgung und öffentlicher Sicherheit bereitstellt. … Sollten die … Maßnah¬men zur Eindämmung und Kontrolle der Covid-19-Epidemie nicht greifen, könnte im Sinne einer ›Kernschmelze‹ das gesamte System in Frage gestellt werden. Es droht, dass dies die Gemeinschaft in einen völlig anderen Grundzustand bis hin zur Anarchie verändert.«

Auch gegen die Einwände einiger Jurist*innen, die allgegenwärtige Drohung mit dem rein physischen Tod durch Corona mache vergessen, dass nicht das Leben als nacktes Leben, sondern die Würde des Lebens unantastbar ist, reagiert jetzt erst nach langem Schweigen der politischen Klasse Wolfgang Schäuble und nimmt das Argument der Würde des menschlichen Lebens (»… sie schliesst nicht aus, das wir sterben müssen ...«) auf – nicht, um ein nachdenkliches Gespräch über das menschliche Leben und die Freiheit zu initiieren, sondern um die kapitalistische Gesellschaftsmaschine wieder ans Laufen zu bekommen. Riskieren wir unser Leben für die Freiheit oder für den Kapitalismus? Kann man an nichts anderem sterben als an Corona – z.B. an Arbeitsbedingungen oder Ausbeutung? Wir brauchen Demokratie ohne Kapitalismus, wenn uns unsere Freiheit etwas wert ist.

Öffentlicher Raum, Medialität, Virtualität

Der Ausnahmezustand zeigt die Verhältnisse anders auf als der kapitalistische Alltag. Das gilt auch für den Ausnahmezustand durch Covid-19. Die Verhältnisse werden durch das autoritäre Eingreifen des Staates sichtbarer. Was sichtbar wird, lässt sich aber auch einfacher/anders agitieren. Die Vulnerabilität des aktuellen Zustands scheint dem Staat durchaus bewusst: Versammlungen werden verboten, obwohl es aus infektiologischer Sicht keine Argumente dafür geben kann. Der Infektionsschutz ist bei Kundgebungen auf offener Straße deutlich leichter als in Supermärkten, Logistikzentren oder Großraumbüros. Bevor das Virus unseren Alltag verändert hat, hätte sich niemand an ein paar Menschen mit Schildern gestört, heute ist das anders. Auch Einzelpersonen mit politischen Botschaften werden von der Polizei und vom Ordnungsamt drangsaliert, selbst kleinste Kundgebungen sind ein Dorn im Auge der öffentlichen Ordnung. Die Rolle des öffentlichen Raumes hat sich in den letzten Wochen verändert. Was zuvor kaum Aufmerksamkeit erregt hat, scheint jetzt ein Problem darzustellen.

Der öffentliche Raum wird zum knappen Gut

Straßen, Parks und Plätze sind ebenso mediale Räume wie Internet und Fernsehen, auch sie sind konsumierbar. Die Medialität des öffentlichen Raumes hat einen unterwerfenden Charakter. Die Straße ist Schauplatz der Ellenbogengesellschaft. Ein Großteil der Konsumierbarkeit wurde durch Corona eingestellt und der unterwerfende Charakter hat sich verändert: Jetzt prägen ihn Maskenpflicht, Abstandsregeln und Gruppenverbote.

Leben und Arbeit wurden weitestgehend in Wohnungen und Privaträume verbannt, die Straße, vielmehr das Draußen, hatte sich (für die meisten in Deutschland während des Lockdowns) deutlicher zu einem Ort der Ruhe und Erholung gewandelt; Flucht vor dem Home Office, Abstand vom Alltag oder digitale Pause findet sich an der frischen Luft. Draußen wird mehr zum Ort der Pause. Das verändert auch die Rezeption in diesem Raum, Kleinigkeiten fallen mehr auf und regen eher zum Denken an.

Im Zuge der Veränderung schließen sich Spielräume, während sich andere zeigen. Der öffentliche Raum schrie geradezu danach, von der trügerischen Corona-Stimmung befreit und zu einem Raum der Agitation gemacht zu werden. Wenn nichts mehr ablenkt, eröffnen sich Räume für Neues und Inhalte, die aus dem täglichen Corona-Trott ausbrechen. Manch alte Aktionsformen sind nicht mehr möglich, vielleicht, weil sie aus Gründen des Infektionsschutzes tatsächlich nicht sinnvoll sind. Dafür ergeben sich neue Möglichkeiten, unsere Botschaften zu verbreiten.

Die virtuelle Welt – ein entsinnlichter Raum

Digitale Ergänzungsangebote sind notwendig, aber wir dürfen uns auch nichts vormachen: Im virtuellen Raum gibt es wenig Konfrontation – und wenn doch, ist sie ganz anders als auf der Straße. Die virtuelle Welt, die durch Covid-19 noch mehr Besitz von uns ergriffen hat, ist ein entsinnlichter Raum, der die Vereinzelung vorantreibt.

Nach COVID-19 ist vor COVID-20, viele Stellschrauben, die jetzt weiter gedreht wurden, lassen sich nicht so einfach zurückdrehen. Befürworter*innen der Digitalisierung sehen am Horizont die »Ferngesellschaft« erscheinen: Alles kann telematisch ohne direkten Kontakt erledigt werden. SARS-CoV-2 ist im 21. Jahrhundert auch ein »digitales« Virus und wir laufen Gefahr, einen weiteren Teil der Sinnlichkeit zu verlieren, die uns als Menschen ausmacht. Der Tastsinn wird nicht erst seit gestern durch digitale Medien verdrängt und an den Bildschirmen vom Sehsinn ersetzt. Corona ruft das »digitale Subjekt« hervor.

Der Kapitalismus wird durch die Digitalisierung immer mehr zu einem visuellen, eine Tendenz, die zum Beispiel in der Werbung schon früh angelegt ist. Das »digitale Subjekt« erfährt die Welt mit den Augen, der Bildschirm ist der Zugang zur Welt. Er schirmt uns ab, die Materialität der Welt geht uns verloren.

Selbstkontrolle, Materialität und Entkörperlichung

Das Papier der Leopoldina, das im Interessengewirr schon wieder zurücktreten musste, forderte die Rückgabe der Selbstkontrolle und die Übernahme von Resilienzverantwortung durch die Bevölkerung. Hinter all dem, was uns in den letzten Wochen und Monaten anempfohlen und verordnet worden ist, verbirgt sich eine zutiefst asketische Entkörperlichung und Entmaterialisierung des Lebens, wie sie im Arbeitsethos der protestantischen Ethik von Max Weber beschrieben war. Resilienz und Selbstkontrolle sind sozusagen »protestantische Ethik 3.0«, die den Kapitalanforderungen des globalisierten Silicon Valley entspricht.

Auch hier darf uns Giorgio Agamben nachdenklich machen, wenn er die Frage stellt, wie es dazu kommen konnte, dass wir unsere geliebten Sterbenden dem einsamen Tod und ihre Freund*innen der einsamen Trauer überlassen? Wie konnte es dazu kommen, dass wir unsere Freundschafts- und Liebesbeziehungen einem nicht definierbaren Infektionsrisiko opferten und uns so mit uns selbst zurückließen? Wie konnten wir, insbesondere wir als Linke, die Materialität des Lebens vergessen, vergessen, dass es nur wenig Zeichen und Bekundungen von Freundschaft und Liebe jenseits der Berührung gibt? Social Distancing und Maskenpflicht spannen uns in tiefes Misstrauen gegen die Anderen ein und sind keineswegs Zeichen der sorgenden Fürsorge. Das gibt denen, die sich beides nicht leisten können, weil ihr Leben am Ende der Wertschöpfungsketten sowieso nichts zählt, zynischerweise einen befristeten Menschlichkeitsvorsprung. Wir hingegen können uns mit dem Eintauschen unserer Freiheit gegen das hohe Gut des gesunden Volkskörpers beruhigen. Auf diese Weise können wir den Anforderungen des Kapitals gerecht werden.

Wenn Silvia Federici von Enthaltsamkeit und Abstinenz als letztem Schritt von einem langen Prozess des Kapitals spricht, der uns den sinnlich-sexuellen Inhalt unseres Lebens und unserer Begegnung mit anderen Menschen nimmt, ist genau das gemeint. Die physische Berührung, so schreibt sie, wurde durch das Bild vor dem geistigen Auge ersetzt: Amorelie.de muss reichen. Die Berührung wird überflüssig, und unser Antlitz erreicht den Anderen hinter der Maske nicht mehr. Mitten in der Öffentlichkeit verschwinden wir füreinander und werden Beteiligte eines Prozesses, der durch das Virus befeuert wird.

Mehr als Anwaltschaft, mehr als Staatskritik

Nur wenn wir verstehen, dass es um mehr geht als das Virus, nur wenn wir anfangen die Logik der Veränderungen, die der neoliberale Kapitalismus wie die staatliche Herrschaft darin durchlaufen, zu durchschauen und im Zusammenhang der Veränderung der modernen Gesellschaften und ihrer Subjekte zu begreifen, können wir Kritikfähigkeit zurückgewinnen und schrittweise Wege einer wirklich radikalen Antwort auf die Situation finden.

Eine solche Antwort geht über die Anwaltschaft für benachteiligte Gruppen hinaus: sie bemängelt nicht einfach diese oder jene Versäumnisse staatlichen Handelns, sondern stellt infrage, welchen Logiken und damit welcher Rationalität das staatliche Handeln insgesamt folgt. Denn diese Rationalität ist, obwohl oder gerade weil sie auf (natur-)wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht, niemals einfach neutral oder objektiv, sondern immer schon an ein bestimmtes Erkenntnisinteresse und an Diskurse geknüpft, die ihrerseits nicht frei von Machteffekten sind. Erst diese Machteffekte in ihrer umfassenden Wirkungsweise zu erkennen, macht es möglich, strategisch nach Perspektiven zu suchen, wie sie in Frage gestellt, angegriffen und schließlich überwunden werden können.

Autor*innen: Im beschaulichen Westfalen ist die Münsteraner Ortsgruppe der iL unter anderem in Klimaprotesten, dem lokalen 8.März-Bündnis sowie der Seebrücke aktiv. Auf dem Debattenblog warfen Teile von ihnen bereits ein kritisches Auge auf die 3-Pole-Theorie.

Bild: »Social distancing (bird style)« von Ian Jacobs.