Blutflecken auf dem Teppich


Repressionen, Einschüchterung und Solidarität in Russland

Ewgeniy Kasakow gibt einen spannenden Einblick in die Vielschichtigkeit der Russischen Linken. Diese wird vor allem in der Positionierung hinsichtlich des Krieges in der Ukraine deutlich. Hierfür werden kurze Eindrücke der politischen Situationen der Kriegsgegner Michail Lobanow und Jewgeni Stupin gegeben.

Michail Lobanow verließ am 13. Januar 2023 den Knast. Der Mathematikdozent der Moskauer Staatlichen Universität saß eine fünfzehntägige Haft ab. Zu dieser wurde er in Moskau wegen angeblichen Widerstandes bei seiner Festnahme am 29. Dezember verurteilt. An diesem Tag flexten die Polizisten die Tür der Wohnung von Michail Lobanow und seiner Ehefrau und Kollegin Alexandra Sapolskaja auf. Der bekennende Kriegsgegner und Sozialist wurde drei Stunden lang verhört. Währenddessen wurde er mehrmals geschlagen und getreten. Noch bevor die Beamt*innen die durchsuchte Wohnung verließen, ging durch die russischsprachigen Telegramkanäle die Fotos von Lobanow mit Misshandlungsspuren im Gesicht und Blutflecken auf dem Wohnungsteppich. Erst nachdem Lobanow das Gefängnis verließ, klärte sich die Frage nach der Quelle: die Aufnahmen machten die Beamt*innen selbst und brachten sie durch die anonyme Telegramgruppen in Umlauf. Die Aussage dürfte klar sein: die Konsequenzen von oppositionellen Aktivitäten sollen unmissverständlich deutlich gemacht werden.

Als eigentlicher Grund für die Hausdurchsuchung wurde der Kontakt zu Ilja Ponamarjow angegeben. Der ehemalige linke Aktivist und Duma-Abgeordnete Ponamarjow ruft heute aus dem Ausland zum bewaffneten Kampf gegen Putin auf und behauptet Kontakte zur sogenannten »Republikanische Nationale Armee« (RNA) zu haben. Diese übernahm die Verantwortung für den Mordanschlag auf die Propagandistin Darja Dugina am 20. August 2022. Die Existenz der RNA wird jedoch vielfach angezweifelt. Auch Lobanow konnte der Kontakt bisher nicht nachgewiesen werden.

Es war bereits der zweite Gefängnisaufenthalt für Michail Lobanow, dem Mitbegründer der Hochschulgewerkschaft »Uniwersitetskaja Solidarnost«, innerhalb von einem Jahr. Dem Jahr, indem am 24. Februar der Krieg begann. Am 7. Juni wurde er für ein vom Balkon gespannten »Nein zum Krieg«-Transparent zu seiner ersten fünfzehntägigen Haft verurteilt. Mit der zweiten Festnahme endet die Geschichte der Einschüchterungsversuche gegen das Ehepaar Lobanow und Sapolskaja jedoch nicht. Bald nach der Freilassung Lobanows wurde die neue Wohnungstür mit »Z«-Zeichen übersprayt und die Nachbar*innen fanden denunziatorische Flugblätter in ihren Briefkästen.

Bekannt wurde Michail Lobanow, der sich ¬selbst als »demokratischer Sozialist« im Sinne von Bernie Sanders und Jeremy Corbyn bezeichnet, unter anderem bei den Dumawahlen im Herbst 2021. Damals führte der parteilose Kandidat der Kommunistischen Partei der Russländischen Föderation (KPRF) im Moskauer Wahlbezirk Kunzewo 31,65% (72 805 Stimmen). Lange Zeit sah es so aus, als würde Lobanow den Parlamentssitz bekommen. Doch dann kam die Auszählung der via Internet abgegebenen Stimmen zum Sieger wurde der Fernsehmoderator Jewgeni Popow, der Kandidat der Putin-Partei »Einiges Russland« (ER). Auf ihn entfielen 35,17 % der Stimmen.

Lobanow wurde nicht nur von einem breiten linken Bündnis von Gewerkschaften, trotzkistischen und linkssozialistischen Gruppen unterstützt, sondern auch von den Unterstützer*innen des liberalen Oppositionellen Alexei Nawalny. Nawalny, dessen Anhänger*innen keine eigene Partei registrieren dürften, rief damals zum »smart voting« auf – in jedem Wahlbezirk sollten die jeweils aussichtsreichsten Kandidat*innen der Opposition gewählt werden, ohne Rücksicht auf die ideologische Differenzen.

Zu den Profiteur*innen des Modells »Liberale wählen die Linken, wenn diese mehr Chancen haben« dürfte auch der KPRF-Abgeordnete der Moskauer Stadtduma Jewgeni Stupin zählen. Wie Lobanow stammte der 1983 geborene Jurist aus der nordrussischen Region Archangelsk. Jahrelang arbeitete er als Ermittler in den Strukturen des Innenministeriums. Heute zählt Stupin zu einem der bekanntesten Köpfe des linken Flügels der eigentlich sozialkonservativen und nationalistischen KPRF. Er ist nicht nur bei Streiks und Umweltprotesten vor Ort, sondern macht auch aus seiner Ablehnung des Krieges kaum einen Hehl. Sein Name steht unter einer der ersten linken Aufrufen gegen den Krieg.

Der Führung der KPRF unter dem »ewigen Parteivorsitzenden« Gennadi Sjuganow sind die Positionen von Lobanow und Stupin ein Dorn im Auge. Offiziell unterstützt die KPRF die »Militärische Spezialoperation«. Dies stößt jedoch keineswegs bei allen Mitgliedern und Funktionär*innen auf Zustimmung. Juri Afonin, ehemaliger Vorsitzender des KPRF-Jungendverbandes, Duma-Abgeordneter und ZK-Mitglied, der als möglicher Nachfolger von Sjuganow gehandelt wird, forderte im Sommer Parteimaßnahmen gegen Kriegsgegner*innen, um deren »Nabelschnur zum Nawalnyismus zu durchtrennen.«

Seit November 2022 läuft gegen Stupin ein Parteiausschlussverfahren, weil er sich mit dem liberalen Oppositionellen und ehemaligen Kommunalabgeordneten Ilja Jaschin solidarisierte. Jaschin wurde in Juli festgenommen und fast gleichzeitig ins Register der sogenannten »ausländischen Agenten« (Anm.d.Red. (1) ) aufgenommen. Im Dezember verurteilte ihn ein Moskauer Gericht zur achteinhalb Jahren Haft in einer Besserungskolonie. Grundlage war der berüchtigte Paragraph 207.3 -- Verbreitung der »Fake-News« (Anm.d.Red. (2) ) über die Handlungen der Streitkräfte oder die Arbeit der Staatsorgane. Am 14. März schloss das Moskauer Stadtkomitee der KPRF Stupin aus der Partei aus, mehrere Parteimitglieder legten jedoch einen Widerspruch an.

Die Fälle von Lobanow und Stupin zeigen, dass die linke Antikriegsopposition in Russland sich nicht zwischen »roten Putinismus« a la Sjuganow und Pro-NATO-Position der Liberalen zermalmen lässt, auch wenn sie in ihren Aktivitäten wechselnde Allianzen eingeht.

Anmerkung der Redaktion: spannende Hintergrundinfos zu den markierten Erwähnungen findet ihr hier: (1) Register "ausländische Agenten": (2) Paragraph 207.3

Autor: Ewgeniy Kasakow, promovierter Historiker, veröffentlichte in diversen europäischen journalistischen und wissenschaftlichen Publikationen. Er ist Herausgeber des Buches „Spezialoperation und Frieden“.

Bild: Bodenbelag, Frank Lindecke.