8 Millionen für den Wandel und kein sozialer Frieden in Sicht


Vom Ausbleiben einer demokratischen Zäsur und der Rückkehr des Uribismus in Kolumbien

Am 17. Juni 2018 hat die kolumbianische Rechte mit ihrem Präsidentschaftskandidaten Iván Duque einen Sieg errungen. Eine erhoffte demokratische Zäsur in der durch Korruption, Gewalt und Verfolgung gekennzeichneten Politik Kolumbiens ist ausgeblieben. Gerade weil die Rechte aber bei dieser Wahl mutigen Gegenwind bekam, erhöht sich nun erneut der Druck: Gemeinsam mit linken Aktivist*innen und parlamentarischer Opposition rechnen unsere kolumbianischen Genoss*innen mit einer weiteren Zuspitzung der Situation und einer Zunahme der Repression und Verfolgung – eine politische Einschätzung von Carla in 5 Thesen.

Prolog

Monatelang waren überall in meinem Umfeld wirklich alle auf Gustavo Petro eingestellt. Selbst Freund*innen, die erklärte Nicht-Wähler sind, selbst Uni-Kolleg*innen, die nun wirklich keine Linken sind, selbst Leute aus dem Sportverein, die ich eher für Mitte-Rechts gehalten hatte – alle schlossen sich der Kampagne an. Es war eine Kampagne von unten: am heiligen sonntäglichen Kirchenbesuch mit der ganzen Familie gab es Sprechchöre. Beim stundenlangen Schlange stehen am Knasteingang wurden selbstkopierte Flugzettel verteilt. „Bitte nehmt das Papier nur an, wenn ihr es wirklich lesen wollt. Nehmt es mit und gebt es weiter, bitte,“ sagte die ältere, ziemlich ärmlich gekleidete Frau. Sie habe ihr letztes Geld zusammengekratzt für die Kopien, erklärte sie mir. Und auf dem Zettel waren alle Punkte zusammen kopiert, die in Petros Wahlprogramm mit dem Gefängnis zu tun haben. Vorsichtshalber lasen ihn die Wartenden dann laut vor. Am Samstagabend vor der Wahl war ich bei einem Ballettfestival. Nach der Show riefen das Publikum und die Putz-Kolonne, die Türsteher, das Sicherheitspersonal und die fliegenden Händler*innen gemeinsam: „Petro! Petro!“ – Ihr könnt euch vorstellen, wie oft ich in den letzten Wochen Gänsehaut hatte, und wie oft wir hier alle eine Sekunde lang dachten: „Wir gewinnen!“

These 1: Die Linke hat sich gegen den Block der Macht vereint – und der Block der Macht sich gegen die Linke.

Die Linke hat gemeinsam gekämpft. Sie war vereint durch den Traum, nach 200 Jahren das erste Mal einen Wandel auf demokratische Weise erreichen zu können. In einem von der rechten, reichen Oberschicht, von einer klientelistischen, paramilitärischen Macht regierten Land, in dem es in der Öffentlichkeit wenig Platz für Alterativen gibt, wurde ein neuer Raum geöffnet. Petro ist dabei sicherlich kein Revolutionär, aber als Mitglied der in Kolumbien vielleicht beliebtesten ehemaligen Guerilla, der M-19, hat er ein ehrliches Programm von Reformen vorgelegt, die ihn explizit als fortschrittlichen Linken ausweisen. Hinter dieses haben sich die Menschen, die für Petro gewählt haben, versammelt. Sicherlich schließen sich die 8 Millionen nicht der revolutionären Bewegung an, aber sie haben offen Widerspruch gezeigt. Das hat viel Mut gekostet. Vor allem nach dem absolut dramatischen Scheitern der Farc in der Parlamentswahl im März 2018 (unter 1 Prozent).

Aber nicht nur die Linke hat dieses Ereignis vereint. Die Gefahr von Links hat auch die Rechte zusammenrücken lassen: Reflexartig kämpfte die Rechte mit denselben Argumenten, mit denen sie schon die Volksabstimmung im Oktober 2016 gewonnen hatte, bei der die Bevölkerung das Friedensabkommen zwischen Farc und Regierung mit knapper Mehrheit ablehnte. Kolumbien werde wie Venezuela verhungern hieß es erneut, die Castrochavisten würden die Macht an sich reißen, mit Enteignungen von Privateigentum sei zu rechnen, usf. Noch nie gab es einen solchen Zusammenhalt unter der Rechten.

Kolumbien ist seit 200 Jahren von der Rechten regiert. Rechte, Ultrarechte, Faschisten und Rassisten wechseln sich alle paar Wahlperioden ab. Alle Mächte, die Kolumbien in den letzten 100 Jahren regiert haben, alle unterschiedlichen Oligarchien versammelten sich nun hinter Duque und damit hinter einer der menschenverachtendsten Strömungen der Rechten in Kolumbien – dem Uribismus. Dabei ist die rechte Oligarchie des Landes normalerweise keineswegs einig: Die alte Rentenökonomie, die von ihrem Landbesitz, also Viehzucht, Agrarindustrie und Extraktivismus lebt, braucht weniger die internationalen Kontakte oder das saubere Antlitz der Politik. Die neue urbane Oberschicht hinter Santos setzt auf Industrie und Technologie und ist damit zwangsläufig auf eine Öffnung hin zu internationalen Märkten und Auslandsdirektinvestitionen angewiesen. Die Familien der Drogenkartelle, die mit zumeist paramilitärischer Gewalt den Anbau von Rohstoffen zur Gewinnung der Substanzen erpressen, pflegen ganz andere internationale Kontakte. Sie alle haben unterschiedliche ökonomische Interessen, diese zu verteidigen gegen einen linken Angriff allerdings vereint offenbar mehr, als dass sie die Unterschiedlichkeit der Interessen trennen könnte.

These 2: Der Hauptgewinner ist wieder Santos.

Der ehemals ultrarechte Verfechter der Null-Toleranz-Politik gegenüber der Linken war Uribes Ziehsohn. Mit seinem Vorhaben, den Ruf Kolumbiens auf der Welt zu verbessern und das Land anschlussfähig zu machen für Investitionen und Geschäfte, ist Santos während seiner Amtszeit ein Wagnis eingegangen und hat einen gekonnten Spagat hingelegt: Er hat Morde und Verschwindenlassen weiter geschehen lassen und sich gleichzeitig als „Friedenstaube“ feiern lassen. Dazu ist Santos von Uribes Linie ein wenig ausgeschert und hat sogar der kolumbianischen Linken hat er Honig ums Maul geschmiert: Noch nie waren Vertreter aller möglichen Bevölkerungsgruppen so oft zu Ereignissen in der Hauptstadt und offiziellen Verhandlungen geladen wie in den letzten Jahren. Dabei war er nie ein Freund der Linken: Jahrzehntelang hat er erbittert Krieg gegen die bewaffnete und unbewaffnete Linke geführt. Das Abkommen mit der Farc kann als langsames Sterbenlassen der Guerilla interpretiert werden. Was er mit Waffen nicht schaffte, erreichte er nun auf dem Weg der Verhandlung. Neulich sagte ein Bekannter aus Nicaragua, dass er noch nie einen so klugen und hinterhältigen Plan zur Vernichtung einer Guerillagruppe erlebt habe. War das Santos´ Ziel? Ich glaube schon.

Santos hat doppelt gewonnen: Auf der einen Seite steht die Öffnung zur OECD und zur NATO bevor. Auf der anderen Seite hat er die Farc besiegt und die Vernichtung der Linken wird nun noch massiver vorangetrieben. Während die Regierungen und Wirtschaftsinteressen aller Welt fröhlich den Frieden in Kolumbien besingen, und so billig wie aus keinem anderen Land Rohstoffe importieren, erleben wir mehr gezielte Morde als zuvor, einen Aufschwung des Paramilitarismus, eine Gefahr für Aktivist*innen und Journalist*innen, die noch nie höher war. Daran soll nun bloß nicht mehr der Staat Schuld sein, sondern kriminelle Banden, die scheinbar ohne politische Zugehörigkeit agieren. Und Santos geht aus all dem hervor, ohne auch nur einen Fleck auf der weißen Weste.

These 3: Der zweite Hauptgewinn geht an Uribe.

Das Lager Uribes ist im stark polarisierten Kolumbien eine ausgewiesene Kraft. Jener hat mit Duque nun wieder eine „Marionette“ an die Spitze des Staates gesetzt. Jetzt ist wieder der ultrarechte, mehrfach für Menschenrechtsverbrechen angeklagte Ex-Präsident an der Macht. Daher geht der zweite Hauptgewinn auch nicht an Duque, sondern an Uribe.

Eine weiße Weste interessiert die nun regierende Rechte sicher nicht. 300 Strafprozesse sind allein gegen Uribe anhängig, u.a. wegen Massakern, Paramilitarismus und weil er den obersten Strafgerichtshof hat illegal abhören lassen. Er war von 2002 bis 2010 Präsident, hat dann seinen ehemaligen Verteidigungsminister Santos an die Spitze gesetzt. In Kolumbien kann der Präsident maximal 2 Perioden regieren. Nun hat er Duque positioniert – auf ihn wird er besser aufpassen.

These 4: Das Thema Frieden ist erstmal vom Tisch.

Duque und Uribe sind erklärte Gegner der Abkommen und Verhandlungen. Beide hatten in der Vergangenheit immer wieder massiv gegen die Gespräche mit den beiden größten Guerillagruppen gewettert. Der kolumbianische Politikanalist José Antonio Figueroa äußerte Bedenken hinsichtlich der Fortführung der Friedensgespräche mit der ELN in Havanna: „Es gibt ein nicht zu unterschätzendes Risiko.“ Duque könne die Gespräche beenden oder mit solch massiven Bedingungen belegen, dass dies die Weiterführung verhindere. Duque hatte bereits vorgeschlagen, die Verhandlung mit der ELN nur weiterzuführen, wenn diese sofort alle ihre Mitglieder an einem von ihm bestimmten Ort versammelt und dort ihre Waffen abgibt. Auch der linke Senator Iván Cepeda sprach von der Haltung Duques als Gefahr für den Frieden in Kolumbien.

Mit Duque gewinnt dabei vor allem die Straflosigkeit im Land. Duque und Uribe haben mehrfach klar geäußert, dass staatliche Kräfte keine Verbrechen begangen hätten, obwohl sie nachgewiesenermaßen für mindestens 80 Prozent aller Menschenrechtsverbrechen verantwortlich sind. Die ganze rechte Klasse gewinnt dadurch. Sie muss sich in Zukunft weniger bedeckt halten und kommt in den Genuss vollkommener Straffreiheit. Duque war vor der Wahl vollkommen unbekannt, selbst in konservativen und rechten Kreisen. Nun hat bei allen rechten Strömungen Schulden wegen der Unterstützung im Wahlkampf, oder, wie man in Kolumbien sagt: Er schuldet jedem Heiligen eine Kerze. Und nicht nur in Kolumbien, denn er hat auch gemeinsam Wahlkampf mit der Opposition in Venezuela betrieben, Ultrarechte wie María Corina Machado und Lilian Tintori haben ihn unterstützt und auch der USA wird er vollkommen untergeben sein. Der Politikwissenschaftler Carlos Carrillo sagte in einem Interview, dass mit Duque wieder die am deutlichsten und am offensten auftretende „kriegsbereite” Rechte an der Macht ist.

These 5: Zwei Strategien des neuen Präsidenten sind wahrscheinlich – offener Krieg oder die langsame Vernichtung der Linken.

Der Vorsitzende der Verhandlungsgruppe der ELN in Havanna und Mitglied der Führung der ELN, Pablo Beltrán, schrieb in der Zeitung der Guerilla Insurección zum Wahlergebnis: „Sicherlich gibt es auch innerhalb des Establishments Interesse an einer demokratischen Lösung des bewaffneten Konflikts. Um allerdings ihre Privilegien gegenüber minimalsten Reformen zu sichern, ist die Mehrheit der Oligarchie bereit, mit dem Teufel zu paktieren.“

So wird derzeit auch die Bedrohung für die Abkommen zwischen der ehemaligen Farc-Guerilla und der bisherigen Regierung unter Juan Manuel Santos wird als konkret wahrgenommen. Denn Duque hat bereits drei Änderungen angekündigt:

Erstens wolle er eine Verfassungsänderung vorschlagen, durch die Drogenhandel zu den niemals amnestierbaren Delikten gehören soll. Damit würden viele Amnestien für Farc-Mitglieder aufgehoben und diese wieder ins Gefängnis gehen.

Zweitens werde er die Sonderjustiz für den Frieden (JEP) ändern: Kein Ex-Guerillero darf dann in der Politik mitmischen, ohne vorher eine Haftstrafe abgesessen zu haben. Weiterhin würden staatliche Akteure eine Sonderbehandlung genießen: „Soldaten können nicht mit Menschenrechtsverbrechern auf eine Stufe gestellt werden, schließlich wollen die Mitglieder der Farc aus der Kriminalität heraus, nicht die legitimen Streitkräfte des Landes, die sich der Verfassung und den Gesetzen unterordnen.“ Seitens Opferorganisationen wird dahinter Verschleierung der Täterschaft vermutet. Die Wahrheitsfindung wäre damit unmöglich.

Drittens plant Duque, die Landreform zu kippen. Statt einer Landumverteilung, die kleine, „informelle“ Betriebe wachsen lasse, soll die Agrarindustrie gestärkt werden. Großunternehmer, die „im besten Glauben“ Land erworben hätten, müssen geschützt werden, sagte er weiterhin. Viele dieser Punkte waren bereits im Kampf um das Plebiszit im Jahr 2016 aufgeführt worden. Mit dem knappen Vorsprung des Nein konnte allerdings nicht alles nachjustiert werden, was die Ultrarechte damals bereits ändern wollte. Nun hat sie die Chance dazu.

Die ELN gab für ihre Seite bekannt, am Verhandlungstisch auf die kommende Gesprächsrunde zu warten. Sie hoffe, der Frieden sei nicht von der Laune eines amtierenden Präsidenten abhängig. Zudem interpretierte die Guerilla die acht Millionen Stimmen für den linken Kandidaten Gustavo Petro als ein deutliches Signal dafür, dass eine große Anzahl der Kolumbianer*innen einen Wandel wolle. Aber ob sich der nötige Raum dafür öffnen und verteidigen lässt, ist unsicherer denn je. Denn was Beltrán sagt, ist richtig: Selbst diejenigen unter den Rechten, die Frieden vor Krieg bevorzugen, würden zuallererst ihre Privilegien verteidigen – auch mal mit Waffen und Gewalt. Das kennt Kolumbien schon.

Bild: „50 Jahre Frieden mit sozialer Gerechtigkeit“ – Stancil von 2014 an einer Hauswand im Autonomiegebiet der Nasa im Cauca.

Carla ist Teil des Red de la hermandad y solidaridad Colombia (REDHER), in der Menschenrechtsbegleitung aktiv und war Teil der Caravana de Solidaridad der IL & friends. Das REDHER ist Teil des Congreso de los Pueblos (CdP) – seit 2010 die Basisbewegung, in der sich ein Gutteil der sozialen Bewegungen Kolumbiens vernetzt.

Weiterlesen: Im Frühjahr waren wir als IL&Friends im Rahmen der Caravana de Solidaridad in Kolumbien und haben zahlreiche soziale Bewegungen und politische Akteur*innen getroffen. Eine Übersicht über einge der Beiträge aus dieser Reise findet sich hier. Weitere interessante Beiträge zu Kolumbien finden sich auf spanisch bei unseren Freund*innen von Colombia Informa oder auf deutsch beispielsweise bei Amerika 21 oder der ila .