Der unermüdliche Kampf für das Recht auf Abtreibung


In Argentinien schreibt eine breit angelegte ausdauerfähige feministische Kampagne Geschichte.

Am 8. August entscheidet der argentinische Senat über die Gesetzesvorlage für das Recht auf Abtreibung. Als das Parlament dem vor zwei Monaten zustimmte, entfachte dies ein Meer an Tränen und Freude. Wer von dieser historischen Juninacht erste Reaktionen auf der Straße mitbekam, konnte nicht nicht angetan sein. Hinter der massiven Mobilisierung versteckt sich eine multidimensionale Praxis, der auch hierzulande Beachtung geschenkt werden muss, hält unser Autor Kai Münch fest. Seiner pointierten Einbettung in den politischen Kontext folgt eine Auswahl feministischer Textausschnitte rund um die »Vigilia Verde«.

Die lange Nacht vor dem Kongress

Nach einer Marathon-Sitzung von knapp 23 Stunden hat das argentinische Parlament am Vormittag des 14. Juni 2018 mit einer knappen Mehrheit von 129 zu 125 Stimmen für das Recht auf Abtreibung gestimmt. Begleitet wurde die Sitzung von einem Protest, der in die argentinische Geschichtsschreibung als »Vigilia Verde« (in etwa die grüne Mahnwache) eingehen wird. Gemeint ist der Protest bei winterlichen Temperaturen vor den Toren des Kongresses im Zentrum von Buenos Aires. Laut einigen Veranstalter*innen kamen bis zu einer Million Menschen zusammen. Auf den Straßen entstand rund um den Kongress eine über 24-stündige Versammlung mit Reden, Konzerten, politischen Parolen, Straßentheater, Begegnungen und Diskussionen. Es vollzog sich eine feministische Aneignung des öffentlichen Raums im patriarchalen Argentinien. Nach Bekanntgabe der Abstimmung entfachte sich ein Sturm an Freude, der grenzenlos und nur schwer mit Worten zu beschreiben war.

Eine Vielfalt an Erfahrungen

Sei es von der Kongressdebatte, die von polemischen und anti-feministischen Argumenten der Gegner*innen zum Gesetzesentwurf wie auch von kämpferischen Statements vieler anderer geprägt waren. Sei es von der Dynamik der Debatte im Allgemeinen, für die der Fraktionszwang aufgehoben wurde und sich eine Diskussion entfachte, die Befürworter*innen und Gegner*innen quer durch alle politischen Lager fand. Oder sei es auch der im Verhältnis extrem klein ausgefallene Protest der Bewegung »Zur Rettung beider Leben«, zu dem ein heterogenes und überraschend junges Publikum erschien, um auf der anderen Seite des Kongresses gegen den Gesetzesentwurf zu protestieren. Hervorzuheben ist die seit über 13 Jahren aktive Kampagne »Für die Legalisierung der Abtreibung« mit ihren mittlerweile über 500 Organisationen, die landesweit für sexuelle Aufklärung, das Recht auf Abtreibung, den Zugang zu Verhütungsmitteln und auch sonst für die Selbstbestimmung von Frauen* eintritt, über die man mittlerweile Bücher schreiben könnte. Seien es die vielen anderen Initiativen, die mit diversen Perspektiven, wie etwa der Klassenfrage im Hinblick auf die aktuelle Praxis der Schwangerschaftsabbrüche, nämlich der klandestinen Abtreibungen, bei welchen hauptsächlich Frauen und alle anderen Gebärfähigen Menschen aus den unteren Klassen sterben. Seien es die vielzähligen Interventionen und Diskussionen zum Patriarchat, zur Autonomie des nicht-männlichen Körpers oder zu Fragen ob, wie und in welchen formen cis-Männer partizipieren können oder auch (nicht) sollen. Oder etwa die die kontinentale Vernetzung der Kämpfe für das Recht auf Abtreibung wie auch die Strahlwirkung des Protestes in der hiesigen Nacht im lateinamerikanischen Kontext. Sei es aber auch eine Diskussion über die letzte Hürde die noch bevorsteht. Am 8. August entscheidet der traditionell konservativere Senat über den Gesetzesentwurf. Unklar ist, ob und mit welchen Abänderungen dieser dann tatsächlich eingeführt wird. Ins Auge springt dabei eine strategisch gelagerte Diskussion über die im deutschen Kontext oft eindimensional beantwortete Frage der sozialen Bewegungen im Spannungsfeld von Reformismus und Revolution. Der Kampf in Argentinien liefert Antworten auf diese Frage, die es sich trotz verschiedener Kontexte zu diskutieren lohnt.

Die (Doppel-)Strategie der Kampagne

Die Kampagne hat eine klare realpolitische Ausrichtung. Durch die argentinische Verfassung ist die Möglichkeit gegeben, den Gesetzentwurf im Kongress, welcher auf Kampagnentreffen entworfen worden ist, einzureichen. Die Strategie der Kampagne war und ist seit jeher gewesen, in einem breiten Netzwerk mit allen Akteur*innen, die sich dem Vorschlag anschließen, für das Gesetz und die Legalisierung zu kämpfen. Daraus resultierte eine multidimensionale Praxis der Kampagne, die fortan durch Demonstrationen, Gesetzesentwürfe, Aktivitäten im Kunst- und Kulturbereich sowie sonstiger Öffentlichkeitsarbeit auf der Straße, in den Kammern des Staates, in Workshops und Bildungskampagnen in Schulen und Universitäten, in der Presse und im öffentlichen Raum, präsent war und ist. Zuletzt war die Kampagne verstärkt durch die »grünen Dienstage« in vielen argentinischen Städten präsent, zu welchen sich mehrere Zehntausende über Monate hinweg auf der Straße versammelten. Sowohl dadurch als auch durch die grünen Halstücher die sich Sympathisierende* an Rucksack oder Körper binden, um die Kampagne im Alltag zu repräsentieren, ist die Kampagne sichtbar. Somit – und das ist die (Doppel-)Strategie, die des Diskutierens wert ist - wurde ein gesellschaftliches Klima geschaffen, das dazu beitrug über den Gesetzesentwurf im Kongress abzustimmen, während zeitgleich die »grüne Welle« vor dem Parlament ausharrte. Dabei geht jedoch ein Großteil der Protestierenden mit ihren Forderungen weit über den aktuellen Konflikt hinaus.

Diese Strategie einer Kampagne, der es durch gesellschaftliche Organisierung und politischen Protest gelang, Debatten und Entscheidungen im Kongress zu bestimmen und zu beeinflussen, ohne dabei jedoch in einen reinen Parlamentarismus zu verfallen, ist ein vielversprechendes strategisches Modell. Seit jeher ist klar, dass die Kampagne nicht ihren Kampf aufgeben wird – auch wenn die Abtreibung tatsächlich legalisiert werden wird. Vielmehr nutzt sie die geschaffene Aufmerksamkeit, um die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die hinter der Debatte zur Legalisierung stehen, anzugreifen. Weiterhin ist klar, dass die Kampagne ob mit oder ohne Legalisierung, Formen und Wege finden oder sich schaffen wird, um feministische Organisierung und Protest zu koordinieren und in die Gesellschaft zu tragen. Der Protest vor dem Parlament war durch Parolen, Transparente und Plakate gegen das Patriarchat und für eine feministische Revolution geprägt, der die Legalisierung der Abtreibung als Etappe des Kampfes und nicht jedoch als sein Ende versteht. Diese Doppelstrategie liefert eine Perspektive für die radikale Linke, die Konzepte für gesellschaftliche Transformationsprozesse sucht, ohne sich dabei im starren Konzept des Reformismus oder in einem verengten Begriff der Revolution, der blind gegenüber realpolitischen Kämpfen und Erfolgen ist, zu verfangen.

Stimmen aus dem Handgemenge

Die vorherigen Absätze dienten der Kontextualisierung und politischen Einbettung dessen, was sich in Argentinien rund um den 14. Juni – und nun auch vor dem 8. August – abspielte und abspielen wird. Im weiteren Verlauf möchte ich jedoch weniger meine Position illustrieren – eine männlich und europäisch geprägte und beeinflusste Sichtweise –, sondern vielmehr versuchen, in Form eines Textes so gut wie möglich zu vermitteln, was Buenos Aires in den letzten Wochen und Monaten erlebt hat. Im Folgenden wurden vier Texte ausgewählt, die vor allem die Erlebnisse und die Erfahrungen der Mahnwache beschreiben. Es sind Texte die im direkten Nachgang zum 14.Juli verfasst worden sind. Sie veranschaulichen überzeugend, wie die Protestierenden diese Nacht erlebt haben, was sie dachten, und was die fühlten.

Die Kampagne, die die Farbe Grün für ihre Repräsentation wählte, war durch die grünen Halstücher mit verschiedenen Aufschriften zum Thema der Legalisierung der Abtreibung in der gesamten Stadt schon seit Jahren und Monaten sichtbar und fand nun einen ihrer vorläufigen Höhepunkte mit der grünen Mahnwache zum Parlamentsentscheid. Die Erlebnisse, die Tränen, der sich angeeignete Raum, die Forderungen und die »grüne Flut« sind nun Teil der kollektiven Erfahrungen des feministischen Kampfes in Argentinien.

Titel: Der Kampf, die Organisation und die Freude sind feministisch

Autor*in: Nationale Kampagne für das Recht auf legale, sichere und kostenlose Abtreibung

Die »grünen Dienstage« überraschten uns immer wieder mit ihrem Besucher*innenzahlen. Wir wussten also, dass der 13. Juni groß werden wird - sehr groß sogar, also ließen wir alles andere stehen und liegen, um diesen grünen Mittwoch am 13. Juni 2018 zu organisieren. Als wir dann am Tag selbst auf die Bühne stiegen, um die ersten Wörter zu sprechen, blieben wir reglos stehen. Wir konnten uns nicht bewegen. Egal wo wir hinschauten, sahen wir ein Meer aus Personen, ein Meer der grünen Halstücher, grüne Schals, grüner Glitzer, grüne Plakate. Wir konnten uns nicht bewegen. »Fang du an…! - Nein, fang du an …!« Schmetterlinge im Bauch. Vier Worte: »Es wird Gesetz sein!« Und die grüne Flut bestehend aus all denen, die gekommen waren, brach in einem einzigen Schrei aus. Und so begann für uns jener Tag an einer der Ecken dieser gigantischen Mahnwache. […] Von unten aus, aus der Perspektive der grünen Flut, begann der Tag mit Hochmut und Überzeugung in die populären Militanz. Das Festival organisierten wir in tausenden verschiedenen Versammlungen, mit tausenden Nachrichten, Mails und Anrufen. Dadurch hatten wir in den letzten zwei Monaten nur wenige Stunden, um uns auszuruhen - nochmals erschwert wurde das Ganze durch einige Ungerechtigkeiten die unsere politische Arbeit begleiteten. Wir wissen aber, dass nichts von dem, was am 13.06 und 14.06 2018 passiert ist, ohne diese unsere Organisation möglich gewesen wäre. Es war keine Magie und auch keine sich spontan zusammenfindende Masse. Es war der Kampf und die Organisation, die mit feministischer Überzeugung und populärer Methodik diese Versammlung ermöglichte. Es war die Kampagne die ihr Wissen, ihre Stärke und ihre Zeit aufbringt um diesen Kampf zu führen. Nach 13 Jahren Kampf und Debatte haben wir es nun also endlich geschafft, den Kongress zu erreichen. Mit noch nicht getrockneten Tränen in unseren Augen - aufgeregt und unausgeschlafen - verfassen wir diesen Text. Was wir gesehen haben, war ein historisches Ereignis innerhalb eines langen und nicht vollendeten Prozesses: der feministische Kampf. In der Dramaturgie des frühen Donnerstagmorgen waren die Zahlen der Abstimmung nicht auf unserer Seite. »Wir verlieren« dachten wir. Aber die, die verlieren, waren sie und sie wussten es. Denn es war nicht der Kongress, der an diesem Morgen den Frauen den Rücken stärkte. Es waren wir! Es waren eine Millionen Menschen, die es geschafft hatten, den Kongress, der sich jahrelang weigerte über das Gesetz zu entscheiden, dazu zu zwingen, zu debattieren und letztlich für das Gesetz zu stimmen. Diese Eroberung ist die unsere! Der Erfolg gehört uns, jeder einzelnen, und uns allen zusammen, die wir waren, und die wir sind. Wir haben gewonnen, weil der Kampf, die Organisation und die Freude feministisch sind.

Titel: Nie wieder klandestin: Erbe, Zukunft und feministische Politik

Autor*in: Vanina Escales, >>Ni Una Menos<<

Im Jahr 2015 [Gründung des feministischen Kollektivs >>Ni Una Menos<<; Anm. d. Übersetzung] haben wir Feministinnen gesehen, wie sich unsere Kraft und unsere Stärke durch Kollektivität und Zusammenführung der Teilkämpfe multipliziert. »Und jetzt, wo wir zusammen sind«, singen wir unsere Parole, weil wir wissen, dass nur diese populäre Form des feministischen Zusammenhalts uns weiterbringt. Es sind wir Frauen, die unsere eigene Agenda öffentlich verbreiten. Was in jeder feministischen Versammlung passiert, ist eine solidarische und effektive Form der feministischen Gemeinschaft, die sich auch im Kongress wieder reproduziert. Feminismus ist die radikale Idee, dass wir Frauen Menschen sind, und er ist unsere Form der Politik und des Kampfes. Die Bewegung »Ni Una Menos« und der Kampf für die Legalisierung der Abtreibung hat die »pibas« [argentinischer Slang für junge Mädchen und Frauen; Anm. d. Ü.] in Feministinnen verwandelt. Diese Kämpfe haben uns alle verändert. Gesetzte spiegeln nicht immer die politischen Impulse der Epoche wieder: dieses aber schon. Denn die Mädchen unter 18 sind alle Feministinnen. Es fühlt sich auf einmal so an, als seien wir in die Zukunft gereist. Die grüne Flut ist jugendlich. Sie hat eine Stimme, sie partizipiert, sie ordnet sich nicht unter, schon gar nicht dem Patriarchat. Sie weiß, was sie will und es gibt ein kein Zurück mehr. An nur einen Tag produziert sie ein Zusammenspiel aus 30 Jahren Kampf und der Kampagne für die Legalisierung der Abtreibung. Der Kampf führt ein Erbe mit und in sich. Für die alten Feministinnen, die gestern wie alle jungen Menschen vor Freude sprangen, gibt es zwei Gründe sich zu freuen. Die gewonnene Abstimmung im Parlament sowie direkt zu erleben und zu sehen, dass sie ihrer Aufgabe nachgekommen sind: Sie haben ihre Erfahrungen aus dem feministischen Kampf an all jene weitergeben können die an diesem Tag mit ihnen vor dem Kongress sein konnten. Deshalb können wir heute sagen: Diese Generation ist feministisch. Es gibt keine politische Kraft im Kongress, die sich anmaßen kann, die Legalisierung der Abtreibung im Kongress durchgebracht zu haben. Denn es war die Kraft des Feminismus und den hunderttausend Personen auf der Straße, die trotz der unbeschreiblichen Kälte und der Müdigkeit gekommen sind, geblieben sind und gekämpft haben.

Titel: Wir sind berauscht!

Autor*in: Cosecha Roja

Wir sind berauscht. Wir können über nichts anderes mehr reden. Wir sehen alles durch die grüne Brille, mit einem grünen Filter. Wir erkennen uns: auf der Straße, in der U-Bahn, im Bus. Unsere Blicke kreuzen sich. Wir treffen aufeinander mit dem grünen Halstuch, das unsere Rucksäcke schmückt. Wir umarmen uns. Wir sagen uns, dass es passieren wird. Wir ermutigen uns. Wir zählen die Zeit. Wir machen memes, um uns in den sozialen Netzwerken zu verteidigen. Wir organisieren uns. Die Debatte wird bis morgen andauern. Unsere Mahnwache auch. Draußen auf der Straße. Es gibt Zelte, um sich gegen die Kälte zu schützen. Wir führen unsere Debatte weiter. Wir treffen uns mit anderen. Es ist nicht nur Gerede. Wir wissen, dass wir jetzt schon gewonnen haben. Wir haben uns. Und wir haben uns nicht nur für diesen Kampf, diesen Kampf für die Entkriminalisierung und Legalisierung der Abtreibung. Wir haben uns auch für den Kampf um Gleichberechtigung, den wir hiermit erneut verkünden. Trotzdem oder gerade deswegen brauchen wir das Gesetz. Es ist uns nicht egal. Wir sind berauscht und wir haben es uns verdient.

Titel: Die >>Alten<< und die jungen Frauen vereint in der Freude, die der Käte und den Spannungen trotzte

Autor*in: Julieta Roffo

Viele Grüppchen bestehend aus Freundinnen umarmen sich. Eine etwas ältere Frau schlendert über die Straße und begrüßt ihre Mitstreiter*innen mit zärtlichen und liebevollen Gesten. Unter den tausenden Frauen sind manche dabei, die weinen. Andere lachen und umarmen sich. Sie hören auf zu weinen, bis sich ihre Blicke mit denen einer Fremden kreuzen und beide wieder anfangen. Sie weinen und lachen zusammen mit Bekannten und Fremden, weil sie alle wissen, dass sie sich noch Jahre an diesen Morgen erinnern werden. »Ich verspüre große Emotionen, eine große Freude. Es ist die Freude, die du fühlst, wenn du bemerkst, dass sie endlich unsere Beschwerden hören, es ist unsere Militanz, unsere Straße (weiblich), es ist die Jugend, die heute hier ist und es ist vor allem die Sicherheit zu wissen, dass wir den feministischen Kampf weiterführen. Jetzt sind wir Frauen am Zug. Dieses Jahrhundert ist das Jahrhundert der Frauen« Nina Brugo.