Mit dem Grundgesetz in den Sozialismus?

Eine linksradikale Intervention auf der Grundlage vom Grundgesetz? »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« in Berlin macht's vor. Doch öffnet diese Strategie auch eine weiterführende Perspektive für ein anderes Wirtschaftssystem? Samuel Decker ist skeptisch – und erklärt warum.

In Berlin wird ein Volksentscheid zur Enteignung großer Wohnungskonzerne und der Vergesellschaftung ihrer Immobilienbestände immer wahrscheinlicher. Mittlerweile hat die Initiative »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« rund 200.000 Unterschriften gesammelt – insgesamt werden 175.000 gültige Unterschriften benötigt. Mit dem Erreichen des Quorums und der darauffolgenden Volksabstimmung zeitgleich mit der Abgeordnetenhaus- und Bundestagswahl steht in der Wahlkampfzeit eine polarisierende Debatte über den bisher nie erfolgreich eingesetzten Vergesellschaftungsartikel im Grundgesetz bevor. Neben der zu erwartenden Schlammschlacht, bei der die Immobilienlobby, Wirtschaftsverbände und wirtschaftsfreundliche Parteien bei der Diskreditierung der Enteignungsforderung ans Äußerste gehen werden, ist auch eine Debatte innerhalb der gesellschaftlichen Linken zu erwarten. Denn die Möglichkeiten und Grenzen von Art. 15 GG und die transformativen Potentiale des Grundgesetzes generell sind alles andere als eindeutig.

Das Grundgesetz als Klassenkompromiss

Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs stellte Kapitalismuskritik noch eine mehrheitsfähige gesellschaftliche Strömung dar, was sich unter anderem in dem nie erfolgreich angewendeten Art. 15 des Grundgesetzes widerspiegelt, auf den sich die Kampagne »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« bezieht. Im Grundgesetz wird in Art. 14 Abs. 1 das Eigentums- und Erbrecht gewährleistet, andererseits sind Enteignungen (Art. 14 Abs. 3) und Vergesellschaftungen (Art. 15) ausdrücklich erlaubt. Im Volltext lautet Art. 15: »Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.« Es gibt also keine ›Gewährleistungsgarantie‹ für das Eigentum – Eingriffe ins Eigentum sind explizit vorgesehen; sie müssen jedoch begründet und mit dem Eigentumsrecht abgewogen werden.

Der sich selbst als »marxistischen Sozialist« bezeichnende Verfassungsrechtler Wolfgang Abendroth interpretierte das Grundgesetz in den 1950er Jahren daher als einen Klassenkompromiss, der die Wirtschaftsordnung »zur Disposition der Gesellschaft (stellt), die sich im demokratischen Staat selbst bestimmt« (Abendroth, Gesammelte Schriften Band 2, S. 343). In anderen Worten: Die Verfassung ist nicht auf die kapitalistische Wirtschaftsordnung festgelegt, sondern zum Sozialismus hin offen. Auch der national-konservative Staatsrechtslehrer Hans Ipsen führte in einem Vortrag von 1951 aus, durch Art. 15 GG sei eine »Ablösung der kapitalistischen Ordnung (…) ohne einen Bruch der legalen Kontinuität« möglich (zitiert nach Thurn 2013, S. 40) (s. dazu auch die lesenswerte Analyse von Maximilian Pichel auf dem Verfassungsblog). Das besondere von Abendroths Analyse war, dass er die Verfassung als widersprüchliches Kräfteverhältnis interpretierte, das sowohl als Garant der kapitalistischen Ordnung als auch als Vehikel für deren Transformation fungieren kann. Denn damit wäre es letztlich eine Frage der gesellschaftlichen Hegemonie, ob das Grundgesetz zur Wahrung oder Überwindung der kapitalistischen Eigentumsordnung angewendet wird: »Wenn nämlich der Widerstand stets erfolgreich ist, entwickelt sich das Klassenbewusstsein der ungeheuren Majorität der Bevölkerung (…) dahin, dass sie dann die Möglichkeit des Art. 15 des Grundgesetzes nutzt« (Abendroth in: Römer (Hrsg.), Der Kampf um das Grundgesetz, Frankfurt am Main 1977, S. 255). Abendroth, der in den 1920er und 30er Jahren noch dafür eingetreten war, die Verfassung der Weimarer Republik durch eine Räteverfassung und den Staatsapparat durch einen Rätestaat zu ersetzen, sieht hier die Möglichkeit eines demokratischen Übergangs zum Sozialismus auf Grundlage der Hegemonie der Arbeiter*innenklasse und unter Verwendung von Art. 15 GG vor.

Über Artikel 15 entscheiden am Ende die Gerichte

Die spannende Frage ist, ob diese Interpretation und strategische Stoßrichtung heute noch angebracht sind. Kapitalismuskritik und deren wirtschaftswissenschaftliche Ermöglichungsbedingungen sind seit den Frühzeiten des Grundgesetzes, in denen auch die CDU noch für die Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien eintrat, stark marginalisiert worden. Die jüngste, extrem konservative Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zum Berliner Mietendeckel gibt davon ein Beispiel ab. Zwar wurde keine inhaltliche Prüfung des Gesetzes vorgenommen; doch gerade Beanstandungen auf Ebene von Formalitäts- und Zuständigkeitsaspekten sind ein gängiges Mittel, um linke Gesetzgebungsinitiativen auflaufen zu lassen. Seit der Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 hat sich die gesellschaftliche Hegemonie und mit ihr der rechtswissenschaftliche Diskurs stark zu Ungunsten der sozialistischen Linken entwickelt. Nur weil Art. 15 GG ursprünglich tatsächlich als Instrument der umfassenden Vergesellschaftung verschiedener Wirtschaftsbereiche vorgesehen war, ist damit nicht gesagt, dass die Verfassungsgerichte und andere Staatsapparate in heutiger Zeit nicht Mittel und Wege finden können, um den Vergesellschaftungsartikel nachträglich zu neutralisieren – oder ihn perspektivisch ganz abzuschaffen, wie die FDP es fordert.

Zunächst einmal wird von rechtskonservativer in Frage gestellt, ob Vergesellschaftungen auf Basis von Art. 15 GG überhaupt mit der Landesverfassung Berlins vereinbar sind. Die Landesverfassung gewähre »den Berlinern mehr Eigentumsschutz als die Bundesverfassung«, behauptete etwa der Anwalt Benedikt Wolfers, dessen Kanzlei die Deutsche Wohnen vertritt, vor kurzem im Tagespiegel. Art. 23 Abs. 2 der Landesverfassung erwähne als Eingriffsform nur die Enteignung, nicht jedoch die Vergesellschaftung, so die Argumentation. Dabei dürfte es sich jedoch hoffentlich, wie der Richter John Philipp Thurn im Verfassungsblog ausführte, um eine Minderheitsmeinung handeln.

Doch auch wenn Art. 15 GG in Berlin grundsätzlich gilt, stehen seiner erfolgreichen Anwendung diverse rechtliche Hürden entgegen. Wie die Juristin und ehemalige rechtspolitische Sprecherin der LINKEN Halina Wawzyniak feststellte, wird die Zukunft von Art. 15 maßgeblich davon abhängen, wie der Begriff des »Produktionsmittels« interpretiert wird. Eine bewusst extrem eng gewählte Auslegung davon, was unter Produktionsmitteln zu verstehen ist, wäre eine mögliche Strategie, mit der das Bundesverfassungsgericht Art. 15 nach seinem langen Dornröschenschlaf direkt wieder beerdigen könnte. Auch die im Grundgesetz vorgeschriebene Entschädigungspflicht kann jeder Vergesellschaftungsinitiative konkret zum Problem werden, wenn sie ökonomische Kosten erzeugt, die nicht tragbar sind. Zudem unterliegt Art. 15 GG wie das Mietrecht der konkurrierenden Gesetzgebung. Der Staat könnte auf bundesebene Gesetze zu Art. 15 erlassen, um die »Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse« zu wahren, wie es der wissenschaftliche Dienst des Bundestags ausdrückt. Damit wäre Art. 15 den Bundesländern und damit jeglichen direktdemokratischen Instrumenten entzogen. Ob die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Bundesgesetzgebung erfüllt sind, würde wiederum das Bundesverfassungsgericht entscheiden.

Die Grenzen des Grundgesetzes

Das größte rechtliche Problem für eine demokratisch-sozialistische Transformation auf Basis des Grundgesetzes stellt jedoch der generelle Grundsatz zur Abwägung unterschiedlicher Rechtsgüter dar. Als Klassenkompromiss schreibt das Grundgesetz eine Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Eigentümer*innen vor. Was bei dieser Abwägung herauskommt ist von Kräfteverhältnissen und vom juristischen und öffentlichen Diskurs abhängig. Am Ende entscheiden eine Hand voll Verfassungsrichter*innen auf Bundes- und Landesebene, die in der Vergangenheit jedoch nicht durch sozialistisch angehauchte verfassungsrechtliche Interpretationsansätze auf sich aufmerksam gemacht haben. Das kann bei einer Klage gegen das in Berlin angestrebte Gesetz zur Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne zum Problem werden.

Der diskursive Schachzug, sich auf das Grundgesetz und damit auf die Legitimität des Staates zu beziehen, kann sich schnell als Bumerang erweisen, wenn die mit ebendieser Legitimität ausgestatteten juristischen Staatsapparate Enteignungen im großen Stil als unangemessenes Instrument zur Wahrung des Interesses der »Allgemeinheit« an bezahlbaren Wohnungen einordnen. Und auch wenn Enteignungen zulässig sind, könnte eine Entschädigung nahe am Marktwert angeordnet werden. Was bereits beim von der Kampagne »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« angestrebten Gesetz zu einem aus linker Perspektive unbefriedigenden juristischen Kompromiss führen könnte, gilt umso mehr für die Vergesellschaftung ganzer Wirtschaftszweige. Im Kontext der umfassenden kapitalistischen Hegemonie erscheint Art. 15 GG aus heutiger Sicht als ausgesprochen progressiv, doch wird die Verfassung immer zumindest anteilig die Interessen der Eigentums- bzw. Kapitalbesitzenden schützen. Je stärker der öffentliche Diskurs und die ihm zugrunde liegenden Kräfteverhältnisse sich in Richtung einer sozialistischen Hegemonie entwickeln sollten, desto stärker würde das Grundgesetz als Bollwerk der Eigentumsordnung fungieren.

Eine »Ablösung der kapitalistischen Ordnung (…) ohne einen Bruch der legalen Kontinuität« (Hans Ipsen) ist daher fraglich. Zwar steht das Eigentumsrecht nicht unter dem Schutz der Ewigkeitsklausel, und könnte daher durch eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat reformiert werden. Eine solche Teil- oder Totalrevision des Grundgesetzes würde aber eben genau einen Bruch der legalen Kontinuität bedeuten. Hinzu kommen völkerrechtliche Verträge, allen voran das EU-Recht, das ebenfalls im Übergang zu einer sozialistischen Ökonomie durchbrochen werden müsste.

Vergesellschaftung alleine macht noch kein neues Wirtschaftssystem

Ein weiteres Problem stellt sich nicht primär auf rechtlicher, sondern auf ökonomischer Ebene. Denn eine demokratisch-sozialistische Wirtschaftsordnung lässt sich nicht allein durch die umfassende Vergesellschaftung von Produktionsmitteln aufbauen. Jenseits der »Produktionssphäre« müssen Märkte und kapitalistisches Geld in seiner Investitionsfunktion überwunden werden.

An dieser Stelle macht sich ein Disput unterschiedlicher Sozialismusmodelle auf. Ein demokratischer Sozialismus, wie ihn beispielsweise die »Democratic Socialists of America« fordern, setzt vor allem auf einen umfassenden Sozialstaat und die Kontrolle der Unternehmen durch die Arbeitenden. Damit ist die für den Kapitalismus konstitutive Trennung zwischen Kapital und Arbeit zwar innerhalb eines Unternehmens transformiert. Die demokratisch kontrollierten Unternehmen würden aber dennoch weiterhin auf Märkten operieren und zueinander in Konkurrenz stehen. Konkurrenz ist jedoch laut Marx »nichts als die innere Natur des Kapitals, (…) erscheinend und realisiert als Wechselwirkung der vielen Kapitalien aufeinander, die innere Tendenz als äußerliche Notwendigkeit.« (K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie 317). In anderen Worten: Das Kapitalverhältnis drückt sich nicht nur durch die unmittelbare Trennung der Produzierenden von den Produktionsmitteln, sondern auch durch die Konkurrenz der Unternehmen untereinander aus. Daher reicht es nicht aus, Unternehmen in den Besitz der Arbeitenden oder Wohnungen in Besitz der Mieter*innen zu überführen. Um die Kapitalform zu überwinden, ist neben der Demokratisierung der Wirtschaft auf betriebswirtschaftlicher Ebene eine Demokratisierung auf makroökonomischer Ebene notwendig, und zwar in Form gesamtgesellschaftlicher Koordination und Planung. Deren konkrete ökonomische Funktionsweise ist jedoch ebenso unklar wie die rechtlichen Grundlagen, die für sie zu schaffen wären.

Demokratische Planung ist mit dem Verfassungs- und EU-Recht nur bedingt vereinbar

Einen ersten Anhaltspunkt dafür, wie ein Übergang zu ökonomischer Planung aussehen könnte, lieferte ironischerweise Wirtschaftsminister Peter Altmeier mit seiner »Nationalen Industriestrategie 2030«. In der im Februar 2019 veröffentlichten Version des Strategiepapiers aus dem Wirtschaftsministerium, S. 13 wird die »Schaffung einer nationalen Beteiligungsfazilität« vorgeschlagen, »über deren Umfang regelmäßig dem Parlament zu berichten ist«. Ein an den Bundestag rückgekoppelter Staatsfonds soll Unternehmen aufkaufen oder in bestehende Unternehmen investieren, um auf die Ökonomie Einfluss zu nehmen. Neben solchen (Teil-)Verstaatlichungen, von denen auch in der Rezession von 2008/2009 und während der Coronapandemie Gebrauch gemacht wurde, bietet die Geldpolitik der Zentralbanken Ansatzpunkte für ökonomische Planung. Zunächst nur in Japan (seit 2001), später auch in den USA (seit 2008) und im Euroraum (seit 2015) haben die Zentralbanken im Rahmen der »Quantitaive Easing«-Programme damit begonnen, Banken im großen Stil »faule« Kredite und Wertpapiere abzukaufen. Dabei wird Geld »aus dem Nichts« erzeugt und den Guthaben der Banken gutgeschrieben, um Staats-, Unternehmens- oder Bankenpleiten abzuwenden. Die Umfunktionierung der Geldschöpfungsfunktion der Zentralbanken für die Erreichung sozial-ökologischer Ziele wäre grundsätzliche denkbar.

Doch in der Praxis lassen sich die geld- und fiskalpolitischen Werkzeuge, die der Staat für die Absicherung der Kapitalakkumulation in Krisenzeiten einsetzt, nicht einfach aneignen, um sie gegen den Kapitalismus zu richten. Der Staatsfonds aus Peter Altmeiers Industriestrategie sollte in stark limitierter Höhe aufgesetzt und ausschließlich zur Förderung von kapitalistischen Innovationen und der Unterstützung nationaler »Champions« auf dem Weltmarkt angewendet werden. Andere wirtschaftspolitischen Ziele wären von der Gesetzeslage nicht abgedeckt. Der 1967 ins Grundgesetz eingefügte Art. 109 legt das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht als ökonomisches Staatsziel fest. Zu den Zielen dieser Wirtschaftsdoktrin, die auch als »magisches Viereck« bekannt ist, gehört unter anderem stetiges Wirtschaftswachstum. Die radikale Reduktion der Energie- und Stoffströme und die Umstrukturierung der Produktionsbasis nach stofflichen Gesichtspunkten innerhalb kurzer Zeit, die im Rahmen einer sozial-ökologischen Transformation zur Erreichung des 1,5°-Ziels notwendig wäre, ist mit stetigem BIP-Wachstum jedoch nicht vereinbar. Allerdings diente Art. 109 – und mit ihm das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz, das den Grundgesetzartikel konkretisiert – dazu, antizyklische Investitionen gemäß keynesianischer Wirtschaftstheorie vornehmen zu können. Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz ist daher ambivalent zu bewerten; womöglich ließe es sich im Sinne einer stärkeren Wirtschaftsplanung und Investitionslenkung weiterentwickeln, wie es etwa die Grünen im Jahr 1990 mit ihrem Antrag für ein »Gesetz für eine ökologisch-soziale Wirtschaft« vorschlugen.

Durch die EU-Verträge und nicht zuletzt die Schuldenbremse wurde das aus linker Perspektive schon begrenzte Wachstums- und Stabilitätsgesetz neoliberal eingehegt. Art. 119 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union schreibt »stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen sowie eine dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz« vor. Während das »magischen Viereck« noch das außenwirtschaftliche Gleichgewicht und einen hohen Beschäftigungsgrad als wirtschaftspolitische Ziele vorgab, wird im EU-Vertrag der Fokus auf »gesunde öffentliche Finanzen« gelegt. Die deutsche Schuldenbremse, die im Jahr 2009 mit Art. 115 im Grundgesetz verankert wurde, verschiebt ebenfalls den Fokus weg von staatlicher Nachfragesteuerung, die nur noch in Ausnahmefällen erlaubt sein soll, hin zur Haushaltskonsolidierung. Die direkte Staatsfinanzierung durch Zentralbaken wird wiederum durch Art. 123 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ausdrücklich verboten.

Ein Übergangssystem basiert auf neuen juristischen und ökonomischen Mechanismen

Insgesamt zeigt sich, dass gravierende rechtlichen Hürden sowohl für die flächendeckende Vergesellschaftung der Unternehmen »von unten«, als auch für gelenkte Investitionen und Wirtschaftsplanung »von oben« bestehen. Trotz oder gerade aufgrund dieser rechtlichen Hürden sind Kampagnen wie »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« so wichtig. Sie tragen dazu bei, die juristischen Spielräume für eine andere Wirtschaftsform auszutesten und im Rahmen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen zu erweitern. Ein Transformationsprojekt muss konkrete bestehende, zu schaffende oder abzuschaffende juristische Mechanismen benennen, die den Weg in ein sozialistisches Übergangssystem eröffnen bzw. verhindern können.

Auf Basis eines großzügig ausgelegten Art. 15 GG (Vergesellschaftung), eines abgeschafften oder stark reformierten Art. 109 GG (gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht) und einer Abschaffung von Art. 115 GG (Schuldenbremse), sowie durch Formen der direkten oder indirekten Finanzierung öffentlicher Investitionen durch Zentralbanken, wäre möglicherweise die erste Stufe eines sozialistischen Übergangssystems denkbar. Dieses Übergangssystem würde auf frei zugänglichen Grundgütern »an der Basis« der Ökonomie (z.B. in den Bereichen Mobilität, Gesundheit, Wohnen, Ernährung, Bildung), auf vergesellschafteten Unternehmen »in der Mitte« der Ökonomie und demokratischer Wirtschaftsplanung »an der Spitze« der Ökonomie basieren. Eine solche erste Stufe eines sozialistischen Übergangssystems, das Nancy Fracer in einer Rede an der University of Washington im Jahr 2019 in die Formel »keine Märkte am oberen und unteren Ende, aber möglicherweise Märkte dazwischen« fasste, wäre längerfristig durch eine zweite Stufe abzulösen, bei der auch die »Märkte dazwischen« durch einen neuen ökonomischen Koordinationsmechanismus ersetzt werden. Die Weiterexistenz von Märkten bedeutet letztlich, dass der ökonomische Prozess im Kern noch immer auf Mehrwertproduktion basiert. Dabei verwandelt sich Geld, das Arbeiter*innen im Produktionsprozess verdienen und zum Kauf von Waren und Dienstleistungen aufwenden, bei den Unternehmen in neu zu investierendes Kapital. Auch wenn Unternehmen unter der Kontrolle der Arbeiter*innen stehen, weite Teile der Ökonomie dem Markt entzogen sind und der umfassende Investitionsrahmen demokratisch bestimmt wird, bleibt die Ökonomie in ihrer übergeordneten Funktionsweise von der Mehrwertproduktion abhängig. Denn durch sie werden Einkommen und Steuereinnahmen erzeugt, ohne die das Gesamtsystem nicht operieren kann.

Längerfristig müsste ein digitales Koordinationsnetzwerk zwischen Unternehmen, politischen Entscheidungsgremien und Endverbraucher*innen aufgebaut werden, das Märkte als ökonomischen Gesamtzusammenhang ersetzen kann. Der Politikwissenschaftler Daniel E. Saros schlägt dafür in seinem Buch »Information Technology and Socialist Construction« aus dem Jahr 2014 ein digitales, demokratisch gesteuertes Informationssystem vor: Genossenschaftlich strukturierte Unternehmen würden in einem online zugänglichen »General Catalogue« – der Publizist Evgeny Morozov bezeichnete diesen als eine Art »sozialistisches Amazon« – Güter und Dienstleistungen anbieten. Einzelpersonen können sich im General Catalogue für diese Güter und Dienstleistungen registrieren. Je nach dem, wie groß die registrierte Nachfrage ist, erhalten die sozialistischen Unternehmen dann Produktionsmittel zugeteilt, die sie benötigen, um die angebotenen Güter auch tatsächlich zu produzieren. Die Konsument*innen benötigen Credits, um ihre registrierten Bedürfnisse auch zu »kaufen«. Sie erhalten diese Credits als Bezahlung ihrer Arbeitstätigkeit in sozialistischen Unternehmen. Anders als im Kapitalismus verwandelt sich die monetäre Nachfrage jedoch nicht in neues Kapital. Nach Einlösen der Credits verschwinden diese einfach. Im Modell von Daniel E. Saros gibt also noch Arbeit und Einkommen, aber keine Märkte mehr und kein Kapital.

Auch wenn sowohl beim Sozialismus-Modell von Daniel E. Saros, als auch dem eher marktsozialistisch ausgerichteten Modell von Nancy Fraser viele wichtige Fragen unbeantwortet sind, geben sie dennoch eine Richtung vor, die ein konkretes Transformationsprojekt einschlagen könnte. Die erste Bezugnahme auf Art. 15 GG seit den 1950er Jahren und die anstehende Auseinandersetzung darum, wie dieser juristisch auszulegen ist, kann einen ersten Schritt in diesem Transformationsprozess bedeuten. Gleichzeitig wird eine sozialistische Transformation früher oder später an die Grenzen des Verfassungs- und EU-Rechts stoßen. Die Formulierung alternativer rechtlicher Bausteine, die den bisherigen Rechtsrahmen verändern und überwinden können, muss daher fester Bestandteil von linken Kampagnen und Hegemonieprojekten werden.

Eine gekürzte Version dieses Artikels ist zuerst auf Jacobin.de veröffentlicht worden.

Autor: Samuel Decker ist heterodoxer Ökonom und als Aktivist in sozialen Bewegungen aktiv.

Bild: »Grundgesetz«, von Kai ›Oswald‹ Seidler.