Über postmoderne Gewissheiten: Eine Replik auf Barbara Imholz‘ Text »Kapitalkonformes Ich«

Ist die Diagnose einer umfassenden neoliberalen Subjektivierung, also auch einer Neoliberalisierung unseres politischen Selbstverständnisses, zutreffend? Der Autor Angel meldet mit diesem Debattenbeitrag seine Zweifel an. Zugleich, so betont der Genosse, spricht die Autorin in dem Ursprungstext drängende Fragen an, denen sich die radikale Linke widmen müsse.

»Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt.« (Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, 1944)

Die Broschüre »Die IL läuft Gefahr, Geschichte worden zu sein« dokumentiert eine Tagung zur Krise der radikalen Linken. Auf einen dieser Texte soll an dieser Stelle genauer eingegangen werden: In ihrem Text „Kapitalkonformes Ich“ stellt Barbara Imholz der radikalen Linken in Deutschland ein vernichtendes Zeugnis aus. Streitbar daran sind vor allem die Diagnosen über die Neoliberalisierung linksradikaler Subjekte und die Rolle der Postmoderne. Um zu verstehen, welche Auswirkungen das auf eine linke Gesellschaftskritik hat, lohnt es sich, die Vorwürfe von Imholz gegen »die« Postmoderne näher zu betrachten und die Rückschlüsse hinsichtlich linker Praxis zu ergründen.
Vorweg sei gesagt, dass der Text von Barbara Imholz ohne Zweifel eine lesenswerte Beschreibung davon liefert, wie Elemente kapitalistischer Herrschaft die Spätmoderne und ihre Subjekte bis ins Intimste durchziehen. Die tiefgreifenden Veränderungen der Beziehung des Subjekts zu sich selbst und zu anderen, die Verwertungslogik, die gleichsam zur zweiten Natur wird – all das sind Symptome eines Kapitalismus, der es geschafft hat, Selfcare und Selbstverwirklichung als Vorposten in der Psyche des spätmodernen Individuums zu verankern. Jedoch scheitert der Text daran, das grundlegend Neue daran offenzulegen. Daneben produziert er ein theoretisches Missverständnis zur Postmoderne und übertragt so die Subjektivierung der Spätmoderne direkt auf die Organisierungspraxis der radikalen Linken. Doch der Reihe nach:

Ein postmodernes Missverständnis

Imholz will mit dem »Begriff der Postmoderne (…) Merkmale seit den 1980er Jahren beschreiben«, verwendet ihn jedoch zugleich für eine Theorieschule, die auf den französischen Philosophen Jean-François Lyotard zurückgeht. Eben dieser Denkschule unterstellt sie, die totale Beliebigkeit und die Abwendung von Wahrheit zu propagieren: Die Postmoderne halte alle Werte für austauschbar, alles sei gleichgültig und somit auch politisch nicht entscheidbar. Dieser Vorwurf gegenüber „der“ Postmoderne geht leider am Kern von deren Anliegen vorbei. Freilich, Lyotard ist viel zu sperrig, um als Bezugspunkt für eine linke Praxis zu taugen. Das, was sich seit seiner Zeit als postmodernes (bzw.: poststrukturalistisches) Denken entwickelte, bedeutet aber nicht Willkür oder eine Gleichwertigkeit aller Ideen nebeneinander, sondern oftmals Konfrontation der Gegensätze ohne Versöhnung. So viel sei gesagt: Auch mit ‚postmodernem‘ Denken ist Gesellschaftskritik möglich. Am Punkt der Wahrheit bzw. Vernunft lässt sich das verdeutlichen.

Vernunft als Instrument der Herrschaft

Imholz macht eine »Chancenlosigkeit aufgeklärter Vernunft« in der Postmoderne aus. Tatsächlich wollen poststrukturalistische Ansätze – wie sie übrigens auch der von Imholz zitierte Michel Foucault verfolgt hat – nicht zwingend mit den kritischen Denktraditionen der Aufklärung brechen, sondern diese vielmehr radikalisieren: Das heißt, dass sie angeblich allgemeingültigen, selbsterklärenden und somit »vernünftigen« Wahrheiten kritisch gegenüberstehen. Sie folgen damit der Einsicht, dass die Vernunft bzw. Rationalität in der Geschichte der Aufklärung eben nicht die befreite Gesellschaft gebracht hat, sondern als Legitimation für Kolonialismus, die patriarchal-bürgerliche Gesellschaft, die Shoa und für die liberale Demokratie gedient hat bzw. dient. Das war kein historischer Ausrutscher, sondern ist grundsätzlich in das aufklärerische Denken eingeschrieben: Vernunft war – trotz oder gerade wegen – ihrer humanistischen Ausrichtung eben auch ein Instrument der Unterdrückung und Privileg des weißen, männlichen, bürgerlichen Subjekts. Kolonisierte, schwarze Menschen und FLINTA* wurden als nicht vernunftfähig betrachtet, (worauf nicht zuletzt feministische Theoretikerinnen schon seit Jahrzehnten hinweisen). Vernunft wurde nicht nur für die Ausweitung bürgerlicher Freiheiten eingesetzt, sondern auch als Begründung für die größten Schweinereien der Menschheitsgeschichte herangezogen.

Kritik »objektiver« Wahrheit

Mit den Denkanstößen »der« Postmodernen ist es möglich, die angeblich universelle Wahrheit der Aufklärung und mit ihr auch die Gewordenheit der politischen Institutionen zu kritisieren: Das, was ist, die grässlichen Verhältnisse, sind veränderbar. Überdies ist die Skepsis gegenüber scheinbar allgemeinen Wahrheiten kein theoretisches Hirngespinst versnobter Postmoderner. Beispielsweise misstraute auch Antonio Gramsci den (zu) einfachen Wahrheiten: Was als gültiger Maßstab für die Bewertung von Wahrheit anerkannt wird, ist auch Gegenstand der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, ist Teil vom ganz realen Kampf um Hegemonie.

Wissen im Neoliberalismus

Der Beitrag von Barbara Imholz verknüpft den Aufstieg des Neoliberalismus mit dem der Postmoderne. Jedoch: Der Siegeszug der »Postmoderne«, der angeblich alles in Beliebigkeit aufgelöst hat, ist ein Phantom. Es verwundert, dass Imholz, die offensichtlich eine Kennerin des Bildungssystem der BRD ist, diesen Sieg verkündet. Nicht zuletzt die Corona-Pandemie hat doch gezeigt, wie groß der Bedarf für quantifizierbares, naturwissenschaftliches, mithin positivistisches Wissen ist; poststrukturalistisches Denken fristet in der (Wissens-)Gesellschaft ein Nischendasein. In einer oftmals akademisch geprägten Linken dürften manchen Genoss*innen die Begriffe dieses dekonstruktivistischen Denkens zwar bekannt vorkommen. Das ändert aber nichts daran, dass in den Bildungsinstitutionen weiterhin vorrangig die eisige Rationalität aufgeklärter Vernunft gelehrt wird. Der Text von Imholz verweist ja zurecht auf die Herrschaftsförmigkeit des Universitätsbetriebs – dieser befördert eben zuallererst die Dominanz des kapitalistisch verwertbaren, positivistischen, unkritischen Forschens und Denkens. Nicht die Postmoderne ist hier das Problem, sondern der Universitätsbetrieb: In diesem kann man als Student*in (im engen Rahmen des Bologna-Systems) beliebig Inhalte aus allen möglichen Theorieschulen zusammensuchen, ohne dabei aber eine stimmige, umfassende kritische Bildung zu erhalten. Somit trifft der Vorwurf der Beliebigkeit viel mehr auf das System universitärer Bildung zu, die Theorien dadurch entwertet und ihnen den kritischen Stachel nimmt.

Postmodern heißt nicht neoliberal

Wir kennen die Struktur des Imholz’schen Argument aus einem anderen Zusammenhang: Oft wird »der« Postmoderne vorgeworfen, sie sei für das Verschwinden der Wahrheit und somit schlussendlich auch für das Heraufziehen eines »postfaktischen« Zeitalters verantwortlich. Damit werden auch reaktionäre Wahrheitsleugnungen benannt (bspw. Klimawandel- oder Corona-Leugnung), jedoch fälschlicherweise mit herrschafts- und wahrheitskritischen Ansätzen gleichgemacht. Eine Stärkung des positivistischen, herrschaftsstützenden Wissens ist die Folge. Indem Imholz Poststrukturalismus fast syonym mit Postmoderne sowie mit Neoliberalismus verwendet, verliert ihre These an Klarheit. Kämpft man jedoch in den demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts, also im Herzen der Bestie, wäre es ratsamer, sich die Waffen poststrukturalistischer Kritik zu eigen zu machen – und sie nicht fälschlicherweise als ursächlich für die eigene fehlende Schlagkraft zu sehen. Wo das passiert, verabschiedet sich die radikale Linke von vielen Einsichten, die sie bisher vor dem Rückfall in dunkle Zeiten der Haupt- und Nebenwidersprüche bewahren. Viele queerfeministische und antirassistische Debatten gewinnen ihre Stärke auch dadurch, dass die Ursprünge und Auswirkungen aufgeklärter Vernunft kritisiert werden. Wer das mit einem schlichten Verweis auf universelle Vernunft kontert, reproduziert die Herrschaftsverhältnisse, die die liberalen Demokratien Europas seit jeher stützen.

Keine neue Diagnose

Dabei geht es nicht darum, dass in einer linksradikalen Organisierung nicht bestimmte Haltungen selbstverständlich sein sollten: Nieder mit dem Patriarchat! Rassisten gehört aufs Maul gehauen! Nie wieder Krieg! All das verliert seine Gültigkeit nicht dadurch, dass man kritisch bleibt gegenüber den (eigenen) Maßstäben von Wahrheit. Das ist hart, langwierig und nervenaufreibend. Aber es gehört zum revolutionären Kampf dazu: Eben weil die innere und äußere Unterdrückung der Natur im Kapitalismus so stark ist, wie Imholz darlegt, führt der Weg zur befreiten Gesellschaft nur über den Kampf gegen die Herrschaftsstrukturen, die wir selbst verinnerlicht haben. Imholz‘ Artikel impliziert, das Übergreifen kapitalistischer Regeln auf unser aller Verhaltensweisen erfolge in einer gänzlich neuen Form: Ganz so, als habe es die Verlängerung des Kommandotons aus Büro und Betrieb hinein ins Plenum nie gegeben.

Die ewige Wiederkehr des Immergleichen

Imholz präsentiert scheinbar neue Einsichten über postmoderne Subjektstrukturen, wobei die von ihr beschriebenen Subjektivierungen keineswegs so neu sind. So widmete der von ihr als Referenz angeführte Michel Foucault seine Analysen ja mitnichten der Gegenwart – er starb 1984 –, sondern vorrangig den bereits im 19. Jahrhundert entstehenden Disziplinierungstechniken der (europäischen) Gesellschaften. Als Beleg für Imholz‘ Argumentation einer typisch neoliberalen Disziplinierung in »der« Postmoderne taugen Foucaults Arbeiten nur bedingt. Zweifelsohne beschreibt Imholz manche relativ neuen Phänomene der kapitalistischen Landnahme in den Individuen treffend; natürlich wirkt die kapitalistische Subjektivierung in einer Industrie-Gesellschaft anders als in einer postfordistischen, dienstleistungsorientieren Gesellschaft. Jedoch begannen die entsprechenden neoliberalen Umwälzungen in der (Arbeits)welt schon vor etwa vierzig Jahren, sodass unklar ist, warum von der entsprechenden Zurichtung nicht längst alle Linken ergriffen sind. Damit steht auch die Gültigkeit von Imholz‘ Diagnose für die radikale Linke in Frage: Wie passt die Großdiagnose über die Gesellschaft zur Mikroanalyse linker Gruppen? Der direkte Zusammenhang, den Imholz behauptet, bleibt leider zu wenig unterfüttert. Wie Individualismus und der Zwang zur Selbstverwirklichung wirken, scheint sich zudem gerade eher in einem anderen gesellschaftlichen Spektrum auf regressive Art zu äußern: in der Gestalt libertärer Autoritärer, die aus Egoismus und verdinglichter Freiheitsliebe Corona und anderes leugnen. Es wäre zudem lohnender gewesen, die Felder zu betrachten, die fast gänzlich ausgespart werden: Soziale Medien oder die Digitalisierung (und damit auch neu organisierte Kontrolle) der Arbeitswelt wirken nicht erst seit der Pandemie an der gesellschaftlichen Durchherrschung mit. Diese Fährten verfolgt Imholz leider nicht intensiver.

Falsche Schlüsse und richtige Fragen

Insgesamt hätte man sich also eine noch genauere Analyse gewünscht. Gleichzeitig ist die Autorin nicht verantwortlich für Reaktionen auf die Tagungsbroschüre, die das Ende der IL genussvoll herbeischreiben wollen. Die darin betriebene Wagenknechtisierung der Debatte um die Krise der radikalen Linken führt zu konstruierten Gegensätzen (hier die grundanständigen Kommunist*innen prä-neoliberaler Zeiten, dort die Lebenslauf-Hipster der IL) und vereinfacht, statt zuzuspitzen. Lohnender wäre es zu überlegen, wie es gelingt, dem Dilemma zwischen gebotener Achtsamkeit für Genoss*innen und revolutionärer Härte zu entkommen: Wie suchen wir die Befreiung in Strategien, die radikal die politische Teilhabe aller ermöglichen? Wo kippt die Achtsamkeit für die eigene Situiertheit in egoistische Selfcare? Was bringt diese Achtsamkeit uns für die revolutionäre Organisierung? Es ist ausdrücklich zu begrüßen, dass der Konferenz-Reader, aus dem Imholz‘ Artikel stammt, Fehlentwicklungen anspricht: Die Bullshitisierung linker Sprache durch Management-Floskeln, das überhandnehmende Methodisieren von Plena, das Schwinden einer Streitkultur oder das Abgleiten in Formalismus unter Linksradikalen ist zum Verzweifeln. Statt des in der Broschüre vorherrschenden Lamentos wäre es jedoch hilfreicher, die Praktiken, die sich in Instrumente der Selbstherrschaft wenden, in einen größeren Zusammenhang zu stellen: Wie finden wir die materiellen Hebel auf Veränderung, ohne dass dabei die Menschlichkeit zwischen uns auf der Strecke bleibt? Hier sollte es eben nicht um Selbstoptimierung gehen, sondern um die Befreiung der Subjekte vom Leiden an der Welt.

Vom Subjekt zur Multitude?

Durch die geschilderten Leerstellen in Imholz‘ Text wird verhindert, dass andere Ursachen für die Schwäche der radikalen Linken gesucht werden können; die Schuld wird der angeblich übermächtigen Moral und der neoliberalen Selbstoptimierung zugeschoben. Das ist verständlich und in der radikal-frustrierten Linken en vogue, harrt jedoch praktisch wie theoretisch noch eines Beweises. Zusätzlich wird die Materialität des Neoliberalismus weitgehend ausgeblendet: Mindestens so folgenreich wie das etwas nebulös bleibende postmoderne Projekt sind für die radikale bzw. gesellschaftliche Linke doch real erfahrbare Dinge wie überfordernde Lehrpläne, prekäre Ausbildungsverhältnisse und (Neben)jobs, hohe Mieten, häufige erzwungene Ortswechsel und On-Demand-Arbeitsverhältnisse. Die Erkenntnisse über die umfassende Prekarisierung von Lebensweisen und -verhältnissen könnten ja auch zum Anlass genommen werden, Strategien zu entwickeln, wie aus den vereinzelten Subjekten eine kritische Masse vieler Singularitäten werden könnte, die gemeinsam handeln oder den Anspruch darauf verfolgen, »Klasse zu werden«. Dass die neoliberale Ideologie in der Spätmoderne eine wichtige Rolle spielt, ist unbestritten. Verstehen wir die Neoliberalisierung der Subjekte jedoch stets nur als einseitige, unumkehrbare Tatsache, verstrickt uns das theoretisch immer tiefer in den Verblendungszusammenhang. Dies nimmt uns die Möglichkeit, kollektive Praktiken gegen den Wahnsinn der Welt zu entwickeln. Wo es aber gelingt, das Blatt durch Kollektivierung zu wenden und die Vereinzelung der Subjekte aufzuheben, tun sich Brüche in der neoliberalen Gegenwart auf.

Das Eingangszitat stammt aus: Horkheimer, Max und Theodor W. Adorno. 2017 (1944): Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.

Autor: Angel ist in der Hamburger Ortsgruppe der Interventionistischen Linken organisiert und in den Bereichen Antifaschismus und Klassenpolitik aktiv.

Bildnachweis: Frankfurt bei Einbruch der Nacht, Rob L (2011)