Kritik der 3 Pole Theorie oder wo bleibt die radikale Linke?

Vor Kurzem wurde ein Strategievorschlag für eine neue revolutionäre Realpolitik von einigen IL-Genoss*innen vorgelegt. Dem Strategievorschlag liegt unter anderem ein »Drei-Pole-Ansatz« (auch Drei-Blöcke-Ansatz) zu Grunde. Eine solidarische Kritik aus Düsseldorf forderte gegen den Vorschlag ein, von der revolutionären Subjektwerdung, d.h. von der »Entwicklung der Kämpfenden« auszugehen, statt vermeintliche Klasseninteressen als Ausgangspunkt für emanzipatorische Praxis zu bedienen. In diesem Beitrag aus der IL Münster wird der Vorschlag der revolutionären Subjektwerdung ergänzt, indem die Genoss*innen den seit einiger Zeit immer wieder zu Grunde liegenden »Drei-Pole-Ansatz« kritisch beleuchten.

Während der Demonstration ›unteilbar‹ in Berlin am 13.Oktober fragt eine Genossin, als peu á peu die Zahlen der Teilnehmenden in utopische Höhen gehen: »Vielleicht gibt es das dissidente Drittel ja doch?« Über 240.000 Menschen kamen nach Berlin, um mit ihrer Präsenz zu zeigen, dass sie gegen rechte Hetze und für Solidarität mit Geflüchteten sind und eine grundsätzliche Kritik am kapitalistischem System haben, das für all diese Miseren verantwortlich zu machen ist. Formiert sich da eine neue linke soziale Bewegung? Handelt es sich um bis dahin unbeleckte BürgerInnen, die sich neu politisieren oder um das ehemals »sozialdemokratische Milieu«, das sich durch das reale Verschwinden der Sozialdemokratie neu formieren und sich re-radikalisieren will?

Drei Pole?

Beginnen wir mit unserer Kritik an dem 3-Pole-Ansatz aus dem Umfeld der Rosa-Luxemburg-Stiftung und des ›Instituts für solidarische Moderne‹. Er sollte einen strategischen Vorschlag für eine rot-rot-grüne (r2g) Koalition nach der Bundestagswahl 2017 darstellen. Dieser Ansatz durchzieht auch IL-Diskussionen, ohne dass es jemals zu einer gründlichen Analyse und Einordnung gekommen ist. Wir sind der Meinung, dass viele Denkansätze dabei ihre Berechtigung haben, aber die darin liegenden Implikationen, wenn man ihnen konsequent folgt, zu falschen Schlussfolgerungen führen könnten, die der praktischen strategischen Ausrichtung linksradikaler Politik schaden.

Unsere These lautet, dass es sich bei diesem 3-Pole-Ansatz um ein eigentlich sozialdemokratisches Konzept handelt. Davon ausgehend nehmen wir zwei Aspekte näher unter die Lupe:

  1. Es wird konstatiert, dass es drei gesellschaftliche Pole gibt, verkürzt gesagt, a) die Rechten, die sich gerade gewaltig formieren können (AfD, Teile der CDU/CSU, u.a. Akteur*innen der Neuen Rechten), b) einen neoliberalen Block und (von Teilen der CDU/CSU bis hin zu Teilen der Grünen) c) das dissidente Drittel, das bisher noch keine gesellschaftliche Artikulation gefunden hat. Letzteres zu erreichen, zu politisieren, ihm zu einer Artikulation zu verhelfen, wäre die Aufgabe der radikalen Linken, sowohl um Schlimmeres, das heißt eine Faschisierung der Gesellschaft durch die AfD, zu verhindern, als auch um gesellschaftskritische Positionen, die langfristig die Gesellschaft wieder nach links rücken können, hegemoniefähig zu machen.
  2. Jedoch: Die bisherigen Akeur*innen der Sozialdemokratie (vor allem die SPD) seien aufgrund des neoliberalen Kurswechsels an ihr Ende gekommen. Daraus ergäbe sich die Konsequenz, diese gesellschaftliche »Leerstelle« zur Kenntnis zu nehmen und von da aus sozialdemokratische Politik mit dem Ziel zu erneuern, eine Basis für weiterreichende gesellschaftliche Veränderungen zu schaffen.

Unserer Meinung nach handelt es sich beim »rechten Block« und dem »neoliberalen Block« um zwei Seiten einer Medaille. Es sind nicht zwei sich gegenüberstehende Pole mit unterschiedlichen oder gar antagonistischen Interessen, sondern sie verhalten sich zueinander komplementär, auch wenn sie nicht ineinander aufgehen. Sie bilden letztlich eine Einheit und treiben damit linke und auch sozialdemokratische Optionen vor sich her.

Autoritäre Formierung

Der kapitalistischen Verwertungslogik und ihren Subjekten, den herrschenden Klassen, ist es letztlich egal, ob ihre Interessen von einem parlamentarischen demokratischen System oder einer Diktatur durchgesetzt oder gewahrt werden. Sowohl den Rechten als auch den Neoliberalen geht es darum, jede aufkommende Opposition in den Griff zu bekommen oder zumindest sie in Schach zu halten. Damit sollen nicht alle in einen Topf geworfen werden – es bedürfte hier konkreter Ausführungen und Analysen. Das Bild des Pols steht aber in der Gefahr, unscharfe Assoziationen aufzurufen und verwirrt somit eher, als es klare Positionierungen hervorbringt. Wir bevorzugen daher den Ausdruck »Autoritäre Formierung«, um aktuelle Entwicklungen (zum Beispiel die Abschaffung des Asylrechts, neuen Polizeigesetze, Einschränkungen von Grundrechten und der freiwillige Niedergang der freien Presse ) zu fassen. Dieser Begriff soll die prinzipielle und reale Verknüpfung von neoliberaler Strategie (Deregulierung, Privatisierung, Subjektivierung) und chauvinistischer Artikulation thematisieren. Erst so können Zusammenhänge wahrgenommen werden.

Das Problem für eine radikale Linke liegt auf der Hand: Ihr Spielraum, wenn sie ihn je hatte, wird enger und sie ist Repressionen ausgesetzt. Als Ausweg zu versuchen, den vermeintlich verloren gegangenen sozialdemokratischen Block wiederzubeleben und hier zu intervenieren, birgt die Gefahr, in dieser Politik aufzugehen und selbst mit den eigenen umfassenden Ideen von gesellschaftlicher Veränderung unsichtbar zu werden. Eine sozialdemokratische Artikulation setzt gerade auf die Befriedung von Gegensätzen (»Klassenkompromiss«) und nicht auf ihre Kritik. Wir würden damit unsere Kräfte in einen Prozess geben, die Sozialdemokratie (natürlich nicht die Partei, aber doch das sozialdemokratische oder linksliberale Milieu) zu re-aktivieren und zu organisieren und würden es gleichzeitig versäumen, uns selbst zu organisieren, zu formieren und gesellschaftliche Interventionsmöglichkeiten zu entwickeln, die eine linksradikale Stoßrichtung haben.

Sozialdemokratie

An dieser Stelle muss erläutert werden, was wir mit »Sozialdemokratie« meinen. Es geht uns dabei nicht um die konkrete Partei SPD, sondern wir meinen damit das sich seit Ende des 2. Weltkrieges herausgebildete »Milieu« von linken, aufgeklärten liberalen Demokrat*nnen in Westdeutschland, das sich in den 1970er Jahren nach der Student*nnenrevolte von 1968 als »sozial-liberal« bezeichnete und in den 1990er Jahren durch die Grünen ergänzt wurde. Heute, das sehen wir z.B. bei der jüngsten Bayernwahl, sammelt sich das »kritische« Wähler*nnenpotential eher bei den Grünen. Dieses Milieu war in den 1980er Jahren in der Lage, sich zu artikulieren, zum Beispiel in der Friedensbewegung, auch wenn schon damals die »man und woman power« aus den dezidiert linken Organisationen kam. Linksradikale Positionen waren hier weitgehend nicht präsent. Heute taucht die Frage auf, ob dieses sozialliberale »Milieu« reaktivierbar ist, gegen die autoritäre Formierung in der BRD.

Materialistische Gründe für den Niedergang der Sozialdemokratie

Die Idee der »Sozialdemokratie« ist auf bestimmte gesellschaftliche Bedingungen zurückzuführen. Der Sozialstaat, für den die Sozialdemokratie stand, beruhte auf einem Klassenkompromiss, der in dieser Form durch den Fordismus nach 1945 möglich geworden war. Diese Bedingungen sind heute jedoch nicht mehr gegeben. Entsteht dadurch eine Leerstelle, die zu füllen wäre? Ist dieser gesellschaftliche Teil (das sozialdemokratische Milieu) sozusagen für ein linkes Projekt verloren, weil es sich entweder rechts oder letztendlich prokapitalistisch verortet und positioniert?

Es gibt tatsächlich Überlegungen dazu, wie in dieser »Lücke« rechtes Gedankengut soziale Verankerung findet (Nachtwey: ›Abstiegsgesellschaft‹, Eribon: ›Rückkehr nach Reims‹, Brumlik: ›Vom Proletariat zum Pöbel‹ und andere), da die Bindung der Lohnabhängigen an die sogenannten Arbeiterparteien wie SPD, Kommunistische Parteien, aber auch Die Linke nicht mehr gegeben ist. Das ist eine unmittelbare Folge des ökonomischen und politischen Neoliberalismus. Sogar Mario Candeias, Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, schreibt zum Niedergang der Sozialdemokratie in seinem Aufsatz ›Wiedergelesen: das unmögliche Prekariat‹ aus dem letzten Jahr:

»Das Proletariat hatte zu Zeiten des Fordismus partiell einen Status von Normalarbeitsverhältnissen erkämpft, die sich durch hohe Standardisierung, dauerhafte Vollzeitbeschäftigung, kollektive Verträge und umfangreiche soziale Rechte auszeichneten. Diese Bedingungen haben sich in der Tat aufgelöst. Unter dem Druck der Massenarbeitslosigkeit konnten in den vergangenen 25 Jahren Löhne beschnitten und die institutionelle Stellung der Gewerkschaften zurückgedrängt werden. Die strukturelle Gewalt der Arbeitslosigkeit, die sich keineswegs nur auf die unteren Qualifikationsniveaus beschränkt, untergräbt die kollektive Verhandlungsmacht. Allgemein kommt es zur Entstandardisierung, Deformalisierung und Individualisierung von Arbeitsverhältnissen. Die Flexibilisierung betrifft alle Lohnabhängigen, allerdings in unterschiedlicher Weise und auf unterschiedlichem Niveau. Die Konkurrenz um Arbeit entsolidarisiert und führt zur Spaltung zwischen jenen, die noch über einen sicheren Arbeitsplatz verfügen und einem unsicher, unter- oder unbeschäftigten Prekariat. Letzteres ist zusätzlich fragmentiert je nach Positionierung innerhalb des Produktionsprozesses sowie entlang geschlechtlicher, ethno-nationaler, qualifikatorischer oder generationaler Zuschreibungen. Doch ist diese Stratifikation der Klasse keine Besonderheit, vielmehr ist der „›Normalzustand‹ der Arbeiterklasse nicht der der Einheit, sondern der der Spaltung“ (Deppe 1981, 76).«

Es ist kein Zufall, dass die Sozialdemokratie auf den Neoliberalismus aufsprang (siehe etwa das Schröder-Blair-Papier von 1999). Sie reagierte auf eine Dritte Industrielle Revolution durch die Digitalisierung, die eine rasante Umwälzung der Arbeitswelt mit sich brachte und die Gewerkschaften komplett in Abwehrkämpfe verwickelte. Die Organisation der Produktionsverhältnisse wurde flexibilisiert, indem sich feste Arbeitsstrukturen auflösten. Es gab einerseits eine ersehnte Ablösung von verkrusteten Strukturen, aber auch die Notwendigkeit, darauf zu reagieren. Die Sozialdemokratie hat darin versagt, eine andere Strategie einzuschlagen als sich der kapitalistischen Verwertung zu unterwerfen und ihr sogar zuzuarbeiten. Die Globalisierung hat dem oben skizzierten Wohlfahrtsmodell, das vielleicht das Maximale war, was die Sozialdemokratie erreichen konnte (Brumlik), ein Ende bereitet.

Daraus entsteht eine Leerstelle, ein gesellschaftliches Vakuum, das es neu zu gestalten gilt. An dieser Stelle setzen im übrigen auch die Analysen an, wie dieses »Vakuum« sich rechts orientiert. Bei aller Kritik an der Sozialdemokratie heißt diese Beobachtung nicht, dass ihr Niedergang für eine fortschrittliche Entwicklung der Gesellschaft positiv ist, sondern wir sehen aktuell eher die negativen Folgen in Richtung einer Faschisierung. Dennoch halten wir es für einen Irrtum, zu meinen, man könne diese Gesellschaftsformation wieder herstellen.

Gesellschaftliche (Schein)verankerung

Wir glauben nicht, dass unter diesen Bedingungen dieses ehemals »links-liberale Milieu« aktivierbar ist. Nicht nur die Partei SPD könnte aufgrund der gesellschaftlichen Widersprüche in die Bedeutungslosigkeit verschwinden, sondern ebenfalls daran geknüpft das, was wir hier zugegebenermaßen unspezifisch als »Milieu« bezeichnet haben. Das heißt für eine radikale Linke, dass sich die Formierung des erfreulicherweise sichtbar werdenden Protestpotentials – man siehe die letzten riesigen Demonstrationen (›unteilbar‹, Anti-Kohle-Bewegung, Seebrücke, NoPolGesetz-Demos) unter anderen gesellschaftlichen Vorzeichen ereignet als bisher angenommen. Ein wichtiger Aspekt scheint dabei der Niedergang der repräsentativen Demokratie zu sein.

Aber wie gehen wir damit um? Wir sehen es als Gefahr an, es als unsere Aufgabe zu begreifen, dieses Protestpotential zu organisieren, wenn unsere Positionen darin kaum oder gar nicht zu Wort kommen und weitergetrieben werden können. Dann verwechseln wir eine Scheinverankerung mit einer vermeintlich gesellschaftlichen Verankerung. Unsere angebliche Erdung in der Gesellschaft würde sich als Chimäre entpuppen, weil sich in konkreten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen herausstellte, dass dieses angebliche Potential tatsächlich andere Interessen vertritt als wir. Geht es den dissidenten Menschen um einen Bruch mit kapitalistischer Produktion oder suchen sie den Klassenkompromiss mit den herrschenden Klassen? Worin der besteht, ist unter neoliberalen Bedingungen noch nicht ausgemacht. Fakt ist allerdings, dass er einen anderen Charakter haben wird, als das, was wir unter »Sozialdemokratie« hier verstanden wissen wollten. Das heißt tatsächlich, dass eine Analyse von Klassenpolitik ansteht und wir einen bewussten Umgang entwickeln müssen, der uns als radikale Linke nicht unsichtbar und gleichzeitig nicht handlungsunfähig macht.

Die Autor*innen des Beitrags sind in der IL Münster organisiert.

Das Bild zeigt eine Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten im Jahre 1981 und steht stellvertretend für ein erodiertes linksliberales Mileu der westdeutschen Sozialdemokratie.