Venezuela: Der Putsch wurde gestoppt, der Krieg geht weiter

Mit dem versuchten Militärputsch am 30. April kam die Spirale der politischen Anspannung, die von Juan Guaidó mit der Selbsternennung zum Präsidenten am 23. Januar begann, zu einem eisigen Höhepunkt. »Der Auflauf scheint aufgrund der ausgebliebenen entscheidenden Unterstützung in den Reihen des Militärs gescheitert zu sein, doch der ökonomische Krieg und die Strategie der Destabilisierung, gefördert und unterstützt von den USA, gehen weiter«, schreibt Carles Badenes für uns, der mehrere Jahre in Venezuela als Berater tätig war und dessen Beitrag Timo Dorsch für uns übersetzt hat.

Ein Attentat mit Drohnen gegen den Präsidenten. Eine angedrohte Intervention seitens den USA. Kampfansagen und Einmischung der Nachbarn Duque in Kolumbien und Bolsonaro in Brasilien. Ein vereitelter Aufstand einer kleinen Gruppe Militärs in der Hauptstadt. Oppositionelle Mobilisierungen, die auf die Absetzung zielen. Selbsternennung eines Präsidenten, der nicht zur Wahl stand, und der die unmittelbare Unterstützung von Trump, verschiedenen Regierungen der Region und darauf folgend von der Europäischen Union erhält. Radikale Zuspitzung der Finanzsanktionen und der US-amerikanischen Wirtschaftsblockade. Erpressungen und Aktionen unter falscher Flagge rund um die humanitäre Hilfe. Fortdauernde elektronische Sabotage. Aufrufe, wie am 30. April, zum militärischen Putsch und zum Versuch der Übernahme der strategischen Militärbasis La Carlota – angeführt von zentralen Figuren der ultrarechten Fraktionen der Opposition. Eine schematische Chronik der venezolanischen Politik seit vergangenem August. Über die vergangenen sechs Jahre zu berichten, die seit dem Wahlsieg von Maduro gegen Capriles verstrichen sind, würde mehrere Absätze in Anspruch nehmen, die von ähnlichen oder schlimmeren Episoden gefüllt wären. Gänzlich unmöglich ist es, dem für die über zwanzig Jahre seit Beginn der Bolivarischen Revolution nachzukommen.

Die zwei Augen des Hurrikans

Caracas ist eine Stadt voller Kontraste; schwierig und hin und wieder auch gefährlich. Sie beherbergt einige der großen aktuellen Widersprüche eines Planeten der Slums. Diese Großstadt der Villen und Elendsviertel, der Appartements der Oberklasse umringt von Barracken, war das Schlüsselszenario der lateinamerikanischen Politik der vergangenen zwei Jahrzehnte. Nur wenige Städte haben dermaßen versunken inmitten der Instabilität und Rohheit der sozialen Konflikt gelebt: zwischen der Hoffnung der ausgeschlossenen Klassen und der erbitterten Verteidigung von Privilegien der Oligarchie und vorherigen Mittelklassen.

Es hat zwei große symbolische Epizentren dieses blutigen Konflikts gegeben. Auf der einen Seite Miraflores: der Präsidentenpalast im Zentrum des Bezirks Libertador [Befreier; Anmk. d. Übers.] (einer von fünf die Caracas bilden), am Fuß der popularen und kämpferischen Viertel vom 23. Januar und der Kirchengemeinde Pastora. Zeuge jener epischen Rettung von Chávez durch die Massen, die nach dem Staatsputsch im April 2002 von den Hügeln strömten. Ein Ort wie kein anderer für Duzende von Ansprachen, massenhaften Mobilisierungen, Treffen internationaler Führungsfiguren und weitreichenden politischen Entscheidungen. Auf der anderen Seite der Stadt, die Plaza Altamira: Szenerie par excellence der wichtigsten oppositionellen Bewegungen, angefangen von den Zusammenkünften und Hungerstreiks rebellischer Militärs während des Absetzungsprozesses von 2001 bis 2003. Verortet im Bezirk Chacao und bewohnt von der Mittel- und Oberklasse, war es auch Ort der gewalttätigen guarimbas-Aktionen im Jahr 2014. Systematisch wurden von dort Angriffe gegen die Sitze der Ministerien für Verkehr und Wohnen durchgeführt; gegen Einrichtungen der U-Bahn, und ebenso wurden von dort aus die Barrikaden organisiert, die den Osten von Caracas (traditionell oppositionell) über Monate hinweg heimsuchten. Am 30. April haben Miraflores und Altamira erneut zahlreiche Massendemonstrationen der unterschiedlichen Lager erlebt.

Der gescheiterte Putsch

Die Spirale der Anspannung, die am 23. Januar ihren Anfang nahm, kam zu einem Höhepunkt. Nach Wochen der Ungewissheit, in denen es schien, dass Guaidó jegliche Kapazität zur Mobilisierung und realen Einflussnahme im Lande verloren hatte, hat der selbsternannte Präsident, zusammen mit eine Gruppe rebellischer Agenten des Geheimdienstes, Leopoldo López aus seinem Hausarrest befreit und versichert, dass sie die Kontrolle des besagten Militärstützpunktes übernommen hätten. Guaidó und López sagten, sie hätten die Unterstützung eines Großteils des Militärs und riefen das Volk sowie das komplette Militär zu einem Staatsputsch gegen die Regierung von Maduro auf. Schnell verbreiteten internationale Medien die Nachricht, ohne große Anstrengungen zu unternehmen, die Informationen zu kontrastieren oder zu nuancieren.

Wenige Stunden später war klar, dass die weingen rebellischen Militärs, die die Oppositionsführer begleiteten, nicht die Base La Carlota kontrollierten (lediglich einen ihrer Zugänge) und die hypothetische militärische Unterstützung ausblieb. Mit Erklärungen zur Verfassungstreue seitens des harten Kerns der Armeespitze sowie dem Ausbleiben von Nachrichten über andere Kontingente oder relevanten Truppen zugunsten des Oppositionsaufrufs, schien der Versuch des Aufstands gescheitert. Leopoldo López und seine Familie flüchteten kurz nach ihrer Teilnahme an der Demonstration in Altamira in die chilenische Botschaft. Guaidó verschwand von der Bildfläche und erschien erst am Ende des Tages in einem Video in den Sozialen Netzwerken wieder.

Manche Versionen weisen darauf hin, dass das Manöver Teil eines durchorganisierten Komplotts war und die volle Unterstützung der USA, sowie die bedeutender Befehlsträger innerhalb der bewaffneten Streitkräfte und hoher chavistischer Funktionäre besaß. Das vorschnelle Handeln der zwei Anführer von Voluntad Popular haben jedoch die Pläne zunichte gemacht (zum Ärger der nordamerikanischen Regierung). Es ist schwierig, die Richtigkeit dieses vermeintlichen Komplotts zu evaluieren. Als die Erfolgsaussichten des Putsches immer weniger wurden gab der unselige John Bolton einigen prominenten Figuren des Chavismus zu verstehen, dass dies für sie die letzte Möglichkeit auf eine zukünftige Amnestie sei. Bis zu welchem Grad es sich dabei um ehrliche Bekundungen handelte, um den Versuch, mögliche Revanchen angesichts bis zuletzt bestehenden Widerwillens der vermeintlichen Verbündeten für das Unterfangen zu vermeiden, oder um Behauptungen, die die Paranoia bestärken und Spaltungen provozieren sollten, können wir nicht wissen.

Die Erstickung des Landes provozieren

So oder so, auch wenn angenommen wird der Chavismus sei erneut in der Lage eine entscheidende Schlacht zu gewinnen: Der Krieg des langen Weges geht weiter. Die venezolanische Rechte und der Trumpismus scheinen entschlossen zu sein, zu jeglichem Preis triumphieren zu wollen: selbst wenn Venezuela in einen failed statedund ein Land in Ruinen verwandelt werden muss. Obwohl sich der nordamerikanische Interventionismus mit einem humanitären Diskurs kleidet, wie in so vielen Fällen, ist es offensichtlich, dass die Ansprüche und Interessen dem Humanitären konträr gegenüberstehen. Die Sanktionen, die seit 2017 zum einen sehr schwer die operative Kapazität der PDVSA treffen (das öffentliche Unternehmen von dem die Wirtschaft des Landes abhängt) und zum anderen die Zugangsmöglichkeiten der Regierung von Maduro zu ausländischen Krediten beeinträchtigen, erfuhren einen qualitativen Wandel seit den Ereignissen vom 23. Januar. Die Blockade der Vermögenswerte im Ausland, die Plünderung von Citgo (die US-amerikanische Filiale der PDVSA) und die Gültigkeitserklärung der Nichtbezahlung von hunderttausenden bereits gelieferten Rohöllfässern, üben eine Schlagkraft auf eine zerstörte Wirtschaft aus. Die Schätzungen von Mark Weisbrot vom Centre for Economic and Policy Research weisen auf Verluste in Höhe von mehreren Milliarden Dollar hin, die die Verfügbarkeit von Devisen für den Import drastisch reduzieren; und das in einem Land, das stark von Mangel und Hyperinflation geprägt ist. Unter den Folgen leidet, offensichtlich, der Kern der Bevölkerung und vor allem die Sektoren, die am verwundbarsten sind. Die immens schwere Wirtschaftskrise die sich seit Jahren durch das Land zieht, vergräbt ihre Wurzeln in den Widersprüchen einer Ölwirtschaft, die durch den Betrieb unter der Regierung noch verschärft und verschlimmert wurde. Sie zeichnet sich durch Ineffizienz und geringe Verantwortungsübernahme aus. Sie kann aber ohne den Verweis auf die konstante politische Instabilität, die finanziellen und kommerziellen Wellenschläge aus dem Ausland und die schlagartige Spekulation auf dem parallelen Devisenmarkt nicht erklärt werden. Die in- und ausländische Opposition zielt auf die ökonomische Erstickung des Landes ab, um den Regierungswechsel zu erzwingen.

Den Widerstand lesen…

Und dennoch ist Maduro nicht gefallen. Die bolivarischen Massen scheinen in diesen Monaten eine überraschende Fähigkeit zur Mobilisierung und Artikulation sozialer Antworten wiedererlangt zu haben. Die Aufrufe zur ausländischen Militärintervention und das Setzen auf Gewalt seitens der härtesten Teile der Opposition, die elektronische Sabotage und die Sanktionen haben, zum Teil, eine soziopolitische Identität, den Chavismus, wiedererweckt, die Millionen von Menschen repräsentiert und nur schwerlich verschwinden wird. Nicht mal eine Woche ist es her, als Elliot Abrahams (einer der direkt Verantwortlichen der verübten Massaker der USA während der 80er in den zentralamerikanischen Ländern; aktueller »Spezialentsandter« unter Trump für Venezuela) zwischen Drohungen anerkannte, dass der Chavismus unwiderruflich einen Platz in der politischen Zukunft des Landes haben wird. Der überraschende Widerstand dieses politischen Raums lässt sich weder ohne die vor dem Jahr 2012 erzielten (und heute größtenteils verschwundenen) materiellen und symbolischen Eroberungen verstehen, noch ohne die gemachten Erfahrungen der popularen Selbstorganisation im Zuge des ersten Regierungsjahrzehnts unter Chávez: Urbane Land Komitees, soziale Missionen, technische Runden zu Wasser und Gesundheit in den Vierteln, kommunale Räte, Kooperativen, Kommunen und viele mehr, mit mal mehr und mal weniger großem Erfolg, schufen die Essenz der Bolivarischen Revolution. Der Geist dieser Kämpfe zeigte sich erneut in der Verteidigung der legitimen Regierung des Landes; auch wenn er nicht mehr die Kraft und politische Kapazität jener Jahre vorweist.

...und der fragende Blick nach vorne.

Nach einem erneuten überstandenen Tag des Taumels und der gewalttätigen Zusammenstöße zwischen Polizei und anti-chavistischen Demonstrierenden, tun sich mehrere Fragen hinsichtlich der Zukunft des Landes auf. Wird die Opposition weiterhin auf ihre insurrektionalistische Linie setzen oder wird sie die moderate Strategie wählen, die ihr zu unbestreitbaren Wahlerfolgen in den vergangenen Jahren verhalf? Werden die USA auch in Zukunft auf die Fraktion der Extremisten der Guaidós, López‘ und Machados setzen – unter Berücksichtigung der Ergebnisse und Folgen ihrer Improvisation und Disziplinlosigkeit? Welches ist der nächste Schritt in der Strategie der Destabilisierung? Gibt es einen Raum für eine Abmachung, die es ermöglicht, die politische Krisensituation aufzuheben und sich den großen ökonomischen Herausforderungen des Landes zu stellen? Und, zu guter letzt, werden Maduro und der Chavismus fähig sein, sich auch zukünftig zu widersetzen oder sogar neu zu erfinden? Unabhängig davon, welches die Antworten auf diese Fragen sind, der mediale Fokus und die großen Interessen, die über einem Land schweben, das vom Fluch des Überschuss gekennzeichnet ist, werden weiterhin existieren. Die Solidarität, eine höchste Alarmbereitschaft und ein kritischer Anspruch gegenüber den Informationen, die uns über die großen Medien erreichen, sind weiterhin diejenigen Eigenschaften, die unentbehrlich sind, um zu verhindern, dass das alte Imperium inmitten des komplizenhaften Schweigens der internationalen Meinung das venezolanische Volk zum Schlachthaus zerrt.


Autor: Carles Badenes Escudero ist Ökonom und Politologe. Als Teil der unabhängigen katalanischen Linken war er Mitglied verschiedener Solidaritätsgruppen mit der Bolivarischen Revolution. Er arbeitete als Wirtschaftsanalyst und im Öffentlichen Sektor in Venezuela von 2013 bis 2015. Ihr könnt ihm auf Twitter folgen.

Übersetzung: Timo Dorsch

Bild: Die in ganz Lateinamerika bekannte Comicfigur Mafalda ruft erzürnt "Es reicht!" und verweist auf externe und interne Destabilisierungsversuche, um linksgerichtete Regierungen und Projekte zunichte zu machen.