Ein feministischer Liebesbrief an den Marxismus

Wen wollen wir mit unserem Feminismus ansprechen, wen organisieren? Die Genoss_innen werfen in ihrem Beitrag einen marxistischen Blick auf feministische Praxis und plädieren dafür sich von der Auseinandersetzung mit Marxismus für aktuelle Kämpfe inspirieren zu lassen.

In der radikalen Linken herrscht Uneinigkeit. Wir diskutieren im Hinblick auf die sogenannte Subjektfrage darüber, mit wem wir Politik machen wollen und an wen sich diese richten soll. Die einen sehen überall das dissidente Drittel oder die Multitude, andere halten Ausschau nach den Massen oder dem Volk und manche begeben sich auf die Suche nach der Klasse.

Diese Orientierungslosigkeit verschont auch nicht unsere Mobilisierung und Organisierung. Ein Beispiel hierfür bietet die feministische Praxis. Während des Frauen*streiks entstanden zahlreiche Bündnisse: der Frauen*Queerstreik Bielefeld, Fem_Streik Chemnitz, Feministischer und Frauen_Streik Freiburg usw. Diese scheinen sich nicht nur bei ihrer Namensgebung, sondern auch in der Ausrichtung uneinig. Wer organisiert sich hier, wer soll angesprochen werden und wer kämpft für was?

Wir denken, um Antworten auf diese Fragen zu finden, müssen wir uns trauen, den Blick zurück zu richten. Unsere Geschichte als Kommunist_innen ist ziemlich alt. Sie ist der Widerstand gegen den Faschismus, die Aufstände gegen die Kolonialmächte, die Erste Internationale und vieles mehr. Indem wir uns an die kommunistische Vergangenheit erinnern, an ihr lernen und sie weiterentwickeln, geben wir ihr eine Zukunft. Dabei spielt der Marxismus eine wichtige Rolle. Dieser kann uns in aktuellen feministischen Kontroversen und der Subjektfrage weiterhelfen. Und weil es die Kommunist_innen verschmähen, ihre Absichten zu verheimlichen, sagen wir es deutlich: Was folgt ist ein feministischer Liebesbrief an den Marxismus, eine Denktradition und Praxis mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Marxismus-Feminismus: alt, jung, dynamisch

„Marxismus ist eine revolutionäre Weltanschauung, die stets nach neuen Erkenntnissen ringen muß, die nichts so verabscheut wie das Erstarren in einmal gültigen Formen, die am besten im geistigen Waffengeklirr der Selbstkritik und im geschichtlichen Blitz und Donner ihre lebendige Kraft bewährt.“ - Rosa Luxemburg

Gerade bei der marxistischen Einbeziehung der Geschlechterverhältnisse scheppert und klirrt es schon lange. Bereits 1910 stellte die Internationale Sozialistische Frauenkonferenz die Arbeiter_innenbewegung und den Marxismus vor Herausforderungen. Dort diskutierten etwa 100 delegierte Frauen aus über 17 Ländern über ihre Rolle in der sozialistischen Bewegung, den Kampf um das Frauenwahlrecht und eine mögliche Koalition mit bürgerlichen Frauen. Letztlich entschied sich die Konferenz gegen eine solche Zusammenarbeit und für eine enge Verbindung zur Arbeiter_innenbewegung. Man beschloss unter anderem die Einführung des Internationalen Frauentags, heute der 8. März.

Freilich war damals auch nicht alles besser. Aber der kurze Blick zurück zeigt, in welcher Tradition unsere heutigen Kämpfe stehen und wie wir in dieser lernen können. Die Debatte um die Zusammenarbeit mit bürgerlichen Frauen bleibt beispielsweise aktuell. Zudem beeindruckt die Stärke, mit der die Genossinnen damals die Frauenfrage auf die Tagesordnung der Arbeiter_innenbewegung brachten und ganz selbstverständlich die sozialistische und die Frauenbewegung zusammendachten. Dabei gab es auch problematische Aspekte. Beispielsweise Clara Zetkins Vorstellung, Frauenunterdrückung ließe sich nur bekämpfen, indem alle Frauen zunächst zu Lohnarbeiterinnen werden. Spätestens der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts entpuppt diese Annahme als falsch. Dementsprechend schlagen wir natürlich nicht vor, alles von damals zu übernehmen, sondern: wir bleiben nicht bei Zetkin hängen, gehen aber auch nicht ohne sie weiter.

Wir müssen das geistige Waffengeklirr fortführen – gerade auch im Spannungsfeld Kapitalismus – Geschlechterverhältnisse. Zu oft wurde die Gesellschaft im Namen der marxistischen Theorie auf ihre ökonomischen Strukturen reduziert. Zu oft verführten uns aber auch feministische Theorien dazu, wirtschaftliche Prozesse auszuklammern. Genau hier schaltet sich der Marxismus-Feminismus ein. Seine Grundgedanken möchten wir kurz skizzieren.

Zunächst hält der Marxismus-Feminismus an Marx‘ Analyse des Kapitalismus fest: wir leben in einer Klassengesellschaft. Die meisten Menschen müssen ihre Arbeitskraft an die wenigen verkaufen, die die Produktionsmittel besitzen. Die Arbeiter_innen bekommen aber nicht für ihre gesamte Arbeitszeit Lohn, sondern nur so viel, dass sie ihre Arbeitskraft erneuern können. Sie schaffen aber noch mehr Wert, den sich die Produktionsmittelbesitzer_innen aneignen. Diese Aneignung fremder Arbeit nennt sich Ausbeutung und bildet den Kern des Kapitalismus.

Die marxistisch-feministische Analyse weiß aber zudem: auch abseits der Lohnarbeitsverhältnisse wird im Kapitalismus gearbeitet. Zum Beispiel dann, wenn eingekauft, geputzt oder sich um die Kinder gekümmert wird. Zusammen bilden diese Arbeiten eine eigene Sphäre, die der Reproduktion, also der Erneuerung und Aufrechterhaltung des menschlichen Lebens. Das Kapital hat jedoch kein Interesse diese sogenannte Reproduktionsarbeit zu bezahlen, denn das würde weniger Profit bedeuten. Dementsprechend trickst es: im Kapitalismus wird diese Arbeit unsichtbar gemacht, abgewertet oder beispielsweise als Akt der Liebe wahrgenommen.

Die Abwertung oder Unsichtbarmachung dieser Arbeit bedeutet auch die Abwertung der Menschen, die diese Arbeit verrichten. Das sind Frauen und zunehmend auch Migrant_innen. Sie werden durch die Strukturen des Kapitalismus unterdrückt. Dieser Punkt ist unserer Meinung nach ganz wesentlich für die feministische Kontroverse um die Kategorie Frau. Der Kapitalismus nutzt Zweigeschlechtlichkeit und Frauenunterdrückung, um Profit zu schaffen. Damit ist die Gruppe der Frauen eine gesellschaftliche Realität; nicht weil biologisch angeblich zwei Geschlechter existieren, sondern weil der Kapitalismus von dieser Unterdrückung zehrt. Frauen werden im besonderen Maße unterdrückt und ausgebeutet; dementsprechend sind sie eine ganz zentrale Gruppe, die es zu mobilisieren und organisieren gilt.

Im Übrigen will der Marxismus-Feminismus dabei nicht den Hauptwiderspruch durch die Hintertür einführen , sondern den Kapitalismus in seiner Ganzheit betrachten. Die kapitalistische Ausbeutung, also das ökonomische Machtverhältnis in der Lohnarbeit, benötigt die Unterdrückung abseits der sogenannten wirtschaftlichen Sphäre. Damit ist Kapitalismus nie reine Ökonomie, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis. Seine Strukturen bringen Machtbeziehungen zwischen Menschen hervor – im Lohnarbeitsverhältnis, in der eigenen Wohnung, in der Schule, überall. Das Kapital ist damit nicht nur eine Summe, deren Ziel es ist sich zu verwerten, also sich zu vergrößern, sondern auch gesellschaftliche Praxis. Es benötigt und erschafft gesellschaftliche Spaltung, nur so kann es sich erneuern. Das zeigt sich beispielsweise daran, welche Arbeit ob und wie entlohnt wird.

Welcome back, Klassenfrage! Also wirklich.

Denken wir in diesem Kapitalismusverständnis weiter, wird der Stellenwert der Klasse klar. Für uns ist sie das zentrale Kollektiv im Kampf für eine befreite Gesellschaft. Und an diesem Punkt schließen wir uns marxistisch hergeleitet gerne dem mittlerweile verbreiteten Konsens an: die Klasse trägt nicht nur Blaumann. Auch wenn die lohnarbeitenden Kolleg_innen weiterhin wichtiger Bestandteil der Arbeiter_innenklasse sind, sind sie nicht alleine. Zur Ausbeutung in der Lohnarbeit gehört ebenso sexistische und rassistische Unterdrückung, unbezahlte und unsichtbar gemachte Arbeit. All diese Menschen sind für uns Teil der Arbeiter_innenklasse.

Unsere Klasse ist extrem divers, doch diese Widersprüche müssen wir aushalten. Es geht darum sich trotz kurzfristig vielleicht sogar widersprüchlichen Interessen gemeinsam zu organisieren. Dementsprechend ist es wichtig, einen ernsthaften Antikapitalismus abseits von Lippenbekenntnissen in unserer Organisierung zu verankern. Wir müssen weg von einem halbgaren Glauben, dass der Kapitalismus irgendwann, irgendwo überwunden werden kann. Um den Kapitalismus wirklich zu bekämpfen, müssen wir uns mehr auf kommunistische Theorien besinnen und selbst davon überzeugt sein, dass diese umsetzbar sind. Nur wenn es uns gelingt als überzeugte Kommunist_innen unsere Ideen in die Gesellschaft zu tragen, sind wir glaubwürdig und können neue Mitstreiter_innen agitieren und organisieren. Dabei stärkt uns die Klassenfrage den Rücken.

Der marxistische Feminismus wird aufgrund des Anpassungscharakters des Kapitalismus notwendiger denn je. Der Kapitalismus lässt sich nämlich nicht einfach überwinden. Er wird sich immer wieder neu progressive Gedanken einverleiben, um seine Herrschaft zu sichern. Reformen und Kapitalismus stehen dabei nicht im Widerspruch zueinander. Vielmehr sind Reformen eine grundlegende Strategie des Kapitalismus die Gesellschaft anhand anderer Widersprüche zu spalten. Somit verschleiern diese vermeintlichen Widersprüche nichts als die eigentliche Spaltung entlang von Klassen, also zwischen den wenigen, die langfristig von Kapitalismus profitieren und den vielen, die das nicht tun. Um eine Vereinnahmung unserer Bewegung zu vermeiden, müssen wir stets in der Lage sein, den Klassencharakter zu bewahren und uns somit klassenkämpferisch nach vorne zu bewegen.

Zu einer marxistisch-feministischen Klassenpolitik gehört für uns dabei auch, sich langfristig und vertraulich zu organisieren. Für dieses Vorhaben braucht es jedoch Orte, in denen längerfristiges Arbeiten und ein Austausch möglich ist. Wir sehen in Organizingansätzen wie von Jane McAlevey eine Möglichkeit eben diese Auseinandersetzung zu fördern und es Menschen zu ermöglichen sich längerfristig in unseren Strukturen zu organisieren, um so eine wirkliche Gegenmacht abseits von stichtagartigen Mobilisierungen aufzubauen. Uns als IL muss es gelingen, Menschen längerfristig beispielsweise in feministischen Kämpfen zu organisieren. Dabei muss der Kapitalismus als Herrschaftssystem immer Teil der Kritik sein.

Gerade mit einem internationalistischen und historischen Blick auf feministische Mobilisierungen und Organisierungen wird diese Notwendigkeit überdeutlich. Die Kämpfe argentinischer Frauen um das Recht auf Abtreibung oder der Kampf der indigenen bolivianischen Frauen oder die Erkenntnisse der 2. Internationalen haben unseres Erachtens bis heute und auch hier in Deutschland ihre Relevanz. Bei all diesen Organisierungsansätzen war dabei die Klassenzugehörigkeit und die Frage nach den richtigen Bündnispartner_innen zentral. Nur so konnten diese Bündnisse ihre Schlagkraft zeigen. Sie bauen auf jahrelangem Engagement und Austausch auf, welcher den Kapitalismus als Ganzes kritisiert und sich nicht an einem oberflächlichen Feminismus erschöpft.

2019 - Still loving Marx

Zusammenfassend sind wir von der Notwendigkeit überzeugt, dieser Tage Marxist_in zu sein. Dabei geht es nicht darum, einen 100 Kilo schweren Bücherkanon vor sich herzutragen, der weder angezweifelt, noch verändert werden soll. Der Marxismus darf heute nicht derselbe sein wie vor 50 Jahren; ihm bleibt auch gar nichts anderes übrig. Durch seine starke Verbindung von Theorie und Praxis ist er immer in Bewegung. Wir müssen beide Pole ständig neu verhandeln: Was lernen wir aus unserer Theorie für die Praxis und andersherum?

Manchmal scheint es uns jedoch so, als würde in der IL der Theorieteil etwas zu kurz kommen. Wir wünschen uns mehr grundsätzliche und theoretische Diskussionen. Das heißt nicht, dass alle Genoss_innen die gesamten Marx und Engels Werke gelesen haben müssen; das haben wir auch nicht. Aber eine gemeinsame Beschäftigung mit Theorie kann uns als Organisation und unsere politische Arbeit weiterbringen. Es ist eine Möglichkeit, uns selbst zu ermächtigen die großen Fragen zu diskutieren, eine gemeinsame Linie zu entwickeln und letztlich die großen Würfe zu wagen.

Linke Theorien entstehen und leben nicht auf dem Reißbrett irgendeines Genies, sondern im Gemeinsamen – in Kämpfen, Diskussionen und der kollektiven Organisierung. Es braucht uns alle, also gehen wir es an.

Die Autor_innen sind in der IL Freiburg organisiert.

Das Bild enstand auf der Konferenz Trajectories of Marxism – Feminism.