Ja, Panik?


Das Problem mit der links blinkenden Geschichte, oder: Ein Rückblick auf acht Jahre AutorInnenkollektiv Loukanikos und die Geschichte insgesamt

Muss sich unser Blick auf linke Geschichte angesichts der massiven Verschiebung der Kräfteverhältnisse in den letzten Jahren verändern – und wenn ja, wie? Ist narratives »Reihen schließen» gegen die Rechte und ihren Aufschwung das Gebot der Stunde, oder müssen Differenzierung und linke Selbstkritik weiter die Hauptaufgaben sein? Letzteres, findet das AutorInnenkollektiv Loukanikos: Linke Geschichte bleibt ein Eimer voller Löcher!

»Der Mond geht – wie bekannt – manchmal auch rot auf. Dies aber ist ein optischer Irrtum.« (Theo Pirker, Die blinde Macht, Berlin 1979, S. XXII)

»An’ now people just get uglier / An’ I have no sense of time« (Bob Dylan, »Stuck Inside Of Mobile With The Memphis Blues Again«, 1966)

Zu den Hauptforderungen des russischen Kosmismus, einer im 19. Jahrhundert entstandenen philosophischen Denkrichtung aus geistes- und naturwissenschaftlichen Strömungen, gehörten Wiederauferstehung und Unsterblichkeit für Alle. Wegen des dann zu erwartenden Anstiegs der Weltbevölkerung wurde außerdem die Besiedelung des Weltalls verlangt. Angesichts der Geschichte im Allgemeinen und des Wirkens der diversen Linken darin sollten diese Forderungen und ihr utopischer Anspruch auch der Ausgangspunkt eines heutigen linken Blicks auf die Vergangenheit sein.

Als AutorInnenkollektiv Loukanikos haben wir uns seit dem Jahr 2010 zusammen diskutierend, schreibend, veranstaltungsorganisierend und buchvorstellend mit dem Ort und den sinnvollen Aufgaben linker Beschäftigung mit Geschichte auseinandergesetzt (siehe z.B. hier; was das AK Loukanikos insgesamt so tut und tat, kann hier nachgelesen werden). Der Blickwinkel dabei war, wie ein guter Schnaps, immer ein doppelter: Nach »außen« gerichtet auf das Wirken innerhalb des herrschenden Geschichtsbilds und nach »innen« auf die Leerstellen und Schattenseiten der Konstruktion der »eigenen Geschichte« durch die (Strömungen der) Linken. Da aus einem unserer Beiträge im ak eine so genannte Loukanikos-Debatte entstand, lag es nahe, dass wir uns auch an diesem neuerlichen Anlauf zu einer Geschichtsdebatte beteiligen. Dazu wurden wir außerdem durch den Beitrag von Bernd Hüttner hier auf dem Blog sehr freundlich gezwungen.

Inzwischen ist allerdings einiges passiert. Seit 2010 haben sich die politischen und sozialen Kräfteverhältnisse durch einige Erdbeben bewegt und eine negative Entwicklung in einem solchen Ausmaß und von solch einer Dauer hat unsere Generation wohl noch nicht erlebt. Darum wollen wir uns hier an einer Selbsthistorisierung des AK Loukanikos versuchen: Was haben wir in den Jahren 2010/11 gedacht, und warum; und was davon ist angesichts zum Beispiel des Scheiterns des »Arabischen Frühlings« und des Erfolgs der nationalistischen Brutalisierung der Gesellschaftsmehrheit von Mitteleuropa über die USA bis zur Türkei und eskalierender (Welt-Bürger-)Kriege noch zu halten? Und wir dachten, wir tun das hier öffentlich, weil es aktuelle politische Fragen von Gegenwart und Geschichte betrifft und deswegen auch für Andere interessant sein kann.

Utopisches Verlangen statt Nostalgie und Mythen

Der Bezug auf die kosmistische Forderung nach Wiederauferstehung der Toten und ewigem Leben für Alle ist dabei mehr als ein Texteinstieg mit Schmunzelgelegenheit. Wir haben ihn auch gewählt, um voranzustellen, dass auch in Zeiten, die in der Linken bürgerlichen Gänsehauthorror und Schockmomente der Realisierung der eigenen Bedeutungslosigkeit auslösen (Ja, Panik!?), utopisches Verlangen bewahrt und artikuliert werden muss, das Vergangenheit und Zukunft mit ein- und miteinander kurzschließt. Utopie soll hier den radikalen Wunsch nach dem völlig Anderen, dem wirklich Besseren bezeichnen, der die realpolitische Vermittlungs- und Umsetzungswarnung erst einmal barsch in ihre spießige Sitzecke verweist; sie verbindet die Wut auf das Bestehende mit dem Verlangen nach einem nicht genauer beschriebenen Zustand, der kommen und die Gegenwart zur Zukunft machen soll. Sie unterscheidet sich damit sehr von der Nostalgie und vom romantischen oder mythischen Hoffnung-Schöpfen aus der Verwesungsmasse vorgeblich oder vormals großer linker Vorkämpfer und Vorkämpfe der Vergangenheit (siehe dazu auch die Stelle zum »Proletkult« der ML-Gruppen in diesem Beitrag des Debattenblogs).

Einer von verschiedenen sinnvollen Gegenentwürfen zu linker Nostalgie und Mythenbildung findet sich bei Bini Adamczak: »Würde eine befreite Menschheit endlich denjenigen, die bislang unfrei waren, Denkmäler errichten, den Sklavinnen, Bäuerinnen, Arbeiterinnen, Räuberinnen – wie zu Beginn der Sowjetunion? Oder würde sie mit Nachsicht und Freundlichkeit nicht nur all jene bedenken, die mit den falschen Mitteln für die Befreiung kämpften, sondern auch jene, die sie mit allen Mitteln zu verhindern suchten – und schließlich unterlagen? Würde sie also endlich unterschiedslos allen Denkmäler errichten, ohne Trennung in Siegerinnen und Besiegte – Das Mausoleum neben dem Kreml, der Tatlin-Turm auf dem Mercury-City-Tower, das Berliner Schloss im Palast der Republik? Oder würde eine Gesellschaft, die die Herrschaft der toten Arbeit über die lebendige beendet hat, gar keine Denkmäler mehr errichten?« (Plädoyer für eine Utopie politischer Amnesie, in: AutorInnenkollektiv Loukanikos (Hg.) History is unwritten. Linke Geschichtspolitik und kritische Wissenschaft. Ein Lesebuch, Münster 2015, S. 382).

Hier könnte man auch etwas zu einem Mobilisierungsvideo zu den Protesten gegen den G20-Gipfel sagen, aber das machen wir ein anderes mal. Utopie zwingt zur Neuformulierung, zum Tasten – Romantik und historische Mythen blinken links, ketten aber meist nur an den Schatten der angeblich großen, größeren, mächtigen Vergangenheit, machen uns abhängig, und das ist im Grunde kein linkes, vielleicht sogar ein rechtes Manöver.

Zur Funktion linker Geschichte(n)

Wenn wir als AK Loukanikos, als Interessierte an Geschichte, Politik und der Kritik bürgerlicher Vergesellschaftung, auf den Zeitabschnitt bis 2010/11 zurückblicken und insbesondere unsere Sicht auf linke Geschichte und die Notwendigkeiten linker Politik »damals« und heute vergleichen, stellen sich uns vor allem Fragen danach, wie sehr die Stellung in der gesamtgesellschaftlichen politischen Auseinandersetzung die Überlegungen zu Strategie, Taktik und Zielen linker (Geschichts-)Politik beeinflussen sollte. Ist die Auseinandersetzung dynamisch oder stillgestellt? Wenn sie dynamisch ist: Befindet sich die Linke in defensivem oder offensivem Gang? Wenn Defensive angesagt ist: Muss man dann organisatorisch und inhaltlich »die Reihen schließen«? Oder ist die Linke gar auf die besten Plätze verbannt, von denen aus sie, analytisch äußerst differenziert, die Gegenwart nur erschüttert kommentieren kann wie einen schlechten Kinofilm?

Diese Fragen stellen sich uns, weil die Hauptaugenmerke unserer Kritik des linken Geschichtsbezugs seit Beginn unseres Zusammenwürfelns zum einen darauf lagen, gegen linke Vereindeutigungen, Schließungen und Endgültigkeiten zu argumentieren (»Im Zweifel für den Zweifel?«) und zum anderen im Versuch, linke Held*innengeschichten als Spiegelbilder bürgerlicher Heroisierungspolitik kenntlich zu machen und zu kritisieren (»Wir brauchen keine linken Mythen«). Stattdessen schien es uns angebracht, auf die Leerstellen und falschen Gewissheiten in der Geschichte der Linken hinzuweisen (z.B. unter vielen: der weiße Industriearbeiter als Zentralfigur dieser Geschichte, die immer noch mangelnde kritische Bearbeitung von Stalinismus und Staatssozialismus, das Fehlen von Frauen- und Geschlechtergeschichte, aber auch die Heroisierung von Menschen wie Silvio Meier oder die zurückblickende Selbsteingemeindung in die Reihe der »Sieger« des 8. Mai 1945) – sowie darauf, dass das Buddeln in der Geschichte Mängel in der Gegenwartsanalyse nicht wettmachen kann.

Allerdings finden wir keineswegs, dass der Blick in die Geschichte, auch die der Linken, sinnlos ist und schlicht vermieden werden sollte. Historische Bezüge können, auch abgesehen von der grundlegenden Bedeutung von Geschichte: dass es anders war und anders sein kann, die Gegenwart erhellen und die Maßstäbe graderücken.

Drei Beispiele unter vielen: Natürlich ist es sinnvoll für die aktuelle US-amerikanische Linke, sich mit den Strategien und Handlungsräumen der mitteleuropäischen Arbeiter*innenbewegungen um 1900 auseinander zu setzen und Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu identifizieren (siehe z.B. hier und hier). Und ebenso kann die intensive, nicht nur romantische Beschäftigung mit den Kampfbedingungen, Strategien und auch individuell-emotionalen Situationen der radikalen Linken in den 1970er Jahren der BRD auch für aktuelle Mitt-Dreißiger wertvolle Denkanstöße und Perspektivierungen bereithalten, wie es weder zufällig ist noch rückwärtsgewandte Nostalgie sein muss, wenn die Lehrerinnen des wildcat-Streiks in West Virginia im Jahr 2018 die roten Halstücher des bewaffneten Minenarbeiter*innen-Streiks an gleicher Stelle aus einer 100 Jahre zurück liegenden Vergangenheit in die heiß umkämpfte Gegenwart holen (Siehe einerseits, obwohl das nicht ursprünglich gemeint war, hier, andererseits zum Beispiel, mit Foto, hier).

Die Frage ist aus unserer Sicht »nur«, ob man sich aus der Vergangenheit einfach der passenden Teile bedient, egal ob für Munitionierung oder Melancholie, oder ob die ganze Situation, die ganze Entwicklung mitsamt ihren Sackgassen, Irrwegen und Niederlagen in den Blick genommen wird.

In diesem Sinne argumentiert z.B. Renate Hürtgen: »Tatsächlich sehe ich die Gefahr einer neuen Mythenbildung, wenn die Geschichte der Arbeiterbewegung lediglich danach durchforstet wird, ob und wo sich Ansätze zeigen, auf die sich eine emanzipatorische Linke direkt beziehen könnte. Die vergessenen oder verdrängten libertären, antiautoritären, die selbstorganisierten, rätedemokratischen Ideen und Praktiken ans Tageslicht zu holen, ist eine wichtige Aufgabe für Historiker_innen. (…) Ebenso wichtig, vielleicht sogar noch dringlicher, aber ist es, die historischen Begrenztheiten gerade auch dieser nicht im damaligen herrschenden Mainstream liegenden Aktionen und Akteur_innen auf zu zeigen. Leninistische Parteidenker_innen und antiautoritäre Kritiker_innen, zentralistische Staatsführer und Oppositionelle, Rätedemokrat_innen und sozialdemokratische Gewerkschaftsführer_innen – sie sind ausnahmslos Kinder ihrer Zeit. Und diese Zeit hat ihnen praktische und Erkenntnisgrenzen gesetzt, die wir begreifen müssen.« (Mehr als ein Tabubruch: Linke Geschichte vor einem Neuanfang?, in: AutorInnenkollektiv Loukanikos: History is unwritten, S. 296)

Und die Geschichte der Linken ist eben immer auch und vielleicht öfter als nicht: eine Geschichte der Niederlagen, und zwar auch »selbstverschuldeter« Niederlagen. Beispielhaft zeigt dies etwa der »katastrophale Mangel politischer Einsicht« bei SPD, KPD und ADGB (Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund) in der Zeit unmittelbar vor und im Jahr 1933 (siehe hierzu Timothy Mason: Die Bändigung der Arbeiterklasse im nationalsozialistischen Deutschland, in: Carola Sachse u.a.: Angst, Belohnung, Zucht und Ordnung. Herrschaftsmechanismen im Nationalsozialismus, Opladen 1982, beide Zitate: S. 51). In diesem Sinne stimmt, was Walter Benjamin sagt: »Wir beanspruchen von den Nachgeborenen nicht Dank für unsere Siege, sondern das Eingedenken unserer Niederlagen« (zitiert nach Christoph Hering: Die Rekonstruktion der Revolution, Frankfurt/Main 1983, S. 8, Fn 33).

Geschichte und Gegenwart

Bei einem Loukanikos-Rückblick mit Bier fiel uns nun auf, dass es unterschiedliche Erinnerungen an die Einschätzung der politischen Situation in den Jahren 2008-2011 gibt. Einerseits schien die »Krise« einige Folgen zu zeitigen, die Risse im neoliberalen Kitt hervorriefen und die Bewegungen des »Arabischen Frühlings« setzten (von uns) ungeahnte widerständige Energien und soziale Bewegungen gegen Diktaturen und religiöse Bewusstseinsregime frei; andererseits diskutierten wir auch vor einigen Jahren schon die Bedeutung erstarkender rechter, etwa nationalistischer Mobilisierungen – schließlich ist die Verlängerung der Gegenwart der Nation und ihres halluzinierten Körpers in die Vergangenheit (die »Nationalgeschichte«) ein zentraler Ideologie- und Affektbaustein reaktionärer Bewegung und Herrschaft (siehe dazu : Jana König/Elisabeth Steffen: Das Ende der Geschichte? Die Einordnung von DDR und »Wiedervereinigung« in das postsozialistische Kontinuum der Nation, in: Henning Fischer, Uwe Fuhrmann, Jana König, Elisabeth Steffen, Till Sträter (Hg.): Zwischen Ignoranz und Inszenierung. Die Bedeutung von Mythos und Geschichte für die Gegenwart der Nation, Münster 2012, S. 129-162.)

Die Frage nach der Art »linker Erinnerung« war für uns damals auch sehr konkret. Das soll heißen: Sie war nicht nur eine gesellschaftswissenschaftliche oder geschichtspolitische, sondern auch die, wie sich eine (radikale) Linke, mit der Geschichte in der Hand, im tagespolitischen Geschäft verhalten sollte. Also überspitzt gegeneinander gestellt: Ist narratives »Reihen schließen» gegen die Rechte und ihren Aufschwung das Gebot der Stunde, oder müssen Differenz und Selbstkritik weiter die Hauptaufgaben sein?

Es ist möglich, die Frage nach der linken Reaktion auf den reaktionären Landgewinn, die ja auch auf soziologischem und literarischen Gebiet und anhand des Verhältnisses der Linken zu den Klassen der Arbeiter*innen diskutiert wird, als ein Luxusproblem zu verstehen (für einen historischen Blick auf die Debatte siehe hier). Es heißt dann, komplizierte Fragen, das Aufzeigen von Unterschiedlichkeiten und Widersprüchen oder auch eine deutliche politische Kritik an der angeblich existenten Gruppe der »normalen Leute« habe die Linke von genau diesen entfernt und (damit) zum Aufstieg der Rechten beigetragen; stattdessen brauche man eine Ansprache der Mehrheit in Reaktion auf die von ihnen angeblich homogen gemachten Erfahrungen und geäußerten Probleme. Wir denken, das geht nicht gut. Völlig zurecht heißt es hier: »Und es bedeutet auch nicht, dass die Linke nun den Fehler begehen sollte, die Phantasmen der Vergangenheit – den »traditionellen« Arbeiter einerseits oder die »Nation« andererseits – wiederentdecken zu wollen. Sie muss jene politische Kraft bleiben, die die Unterdrückungs- und Ausbeutungserfahrungen aller Teile der Gesellschaft artikuliert.«

Es geht hier, wie auch bei unseren Überlegungen zur Beschäftigung mit Geschichte, um die Frage nach den Einflussmöglichkeiten der Linken nach »außen«, also in den herrschenden Diskurs, in die vermachtete gesellschaftliche Selbstverständigung. Und dabei laufen auch die Geschichte und Vorstellungen von ihr keineswegs »außer Konkurrenz«; so sind z.B. Themen wie die Imagination der Vergangenheit »der Deutschen«, wie die Art der Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus, seine Opfer und den Widerstand gegen ihn zentrale Arenen gesellschaftlicher Identitätsbestimmung, ob nun im Denkmal für die ermordeten Juden und Jüdinnen Europas in Berlin als Bekenntnisbeweis des »geläuterten Deutschland« oder in dessen erneuter tagespolitischen Verwendung gegenüber von Björn Höckes thüringischem Häuschen. Das gleiche gilt für die »innere« Identitätsbestimmung der Linken, die auch über historische Bezüge erfolgt. Es ist also keineswegs nebensächlich, was a) die Linke öffentlich mit Geschichte macht und b) wie sie sich, durch ihre Geschichte hindurch, selbst sieht und versteht.

Ein (Geschichts-)Eimer voller Löcher

Damit wären wir wieder beim Rückblick des AK Loukanikos angelangt. Man könnte das politische Spannungsfeld nun so wahrnehmen: Mit dem Bewusstsein relativer sozialer Stillstellung in den 2000er Jahren (bei Durchsetzung, z.B., des HartzIV-Regimes) im Rücken gab es in den Jahren 2010/11 genug »Spielraum« für die Kür linker historischer Bewusstseinsbildung: Offenheit im Umgang mit Fehlern und Schwäche, Selbstkritik, die berühmte Dekonstruktion, das Zerlegen von bestehenden Gewissheiten und Interpretationen der Vergangenheit – kein geeintes Angehen von »uns« gegen die gesellschaftlichen Gegner*innen, sondern die überkandidelte Nabelschau. (siehe zum wichtigen Problem der Linken als Gruppe von Akteur*innen, die dem Widerspruch zwischen der »zerlegenden« Analyse der Gesellschaft und der Notwendigkeit, für politische Mobilisierung ein einigendes »Wir« zu finden, ausgeliefert sind, Gottfried Oy/Christoph Schneider: Destruktion und Intervention – von den Möglichkeiten der Geschichtspolitik, in: AK Loukanikos: History is unwritten, S. 299-315).

Angesichts der offen zutage liegenden globalen Entwicklung seitdem, deren Haltestellen hier nicht aufgezählt werden müssen und für die es ausreicht, den Aufstieg und die Etablierung der AfD als nationalrassistischer Akteurin zu nennen, sei die Zeit solcher »Experimente« nun allerdings vorbei und die Konzentration auf‘s Pflichtprogramm notwendig. Angesagt wäre in diesem Sinne nun a) die Wendung nach »Außen« und damit z.B. die Verteidigung der »Modernisierung« der deutschen Vergangenheitspolitik gegen die noch reaktionärere AfD-Forderung nach der »erinnerungspolitischen Wende« und die Abschaffung der Stolpersteine und b) »innen« das Einmotten der selbstbezogenen Zweifler*innen und die Rückerinnerung an eine positive linke Geschichte, die Kraft gibt, aus der man lernen und Mut schöpfen kann: So wie in der Gegenwart eine Rückbesinnung auf die »eigentlichen« Orte der Linken gegen die kosmopolitischen und postmodernen Verwirrungen notwendig sei, müsse man auch die Geschlossenheit und Stärke in ihrer Geschichte wiederfinden.

Auch wenn es unterschiedlich starken Verve in den Ansichten dazu im AK Loukanikos gibt, sei hier gesagt: Der Geschichtseimer, mit dem dieser Mut geschöpft wird, ist nicht zu gebrauchen. Er ist voller Löcher und das Mut machende Wässerchen, das in der Gegenwart ankommt, verdampft auf dem Weg nach oben schnell. Christian Geissler hat Anfang der 1990er Jahre, in einem düsteren geschichtlichen Augenblick und nach dem desaströsen Ende des globalen Staatssozialismus wie auch des Versuchs einer bundesdeutschen Stadtguerilla, rekapituliert, dass ein Lernen aus der Vergangenheit, wenn es sowas geben soll, für die Linke nur mit der oder zumindest nicht ohne die Konfrontation mit dem eigenen Versagen ablaufen kann. Es gehe darum, was »falsch gemacht worden ist«, nicht um den retrospektiven Aufbau von »Mutfiguren« und »Vorbildern« (siehe Christian Geissler: dissonanzen der klärung, in: prozeß im bruch. Hamburg 1992, S. 92f, und unserer Meinung nach mit ähnlicher Perspektive, Lutz Taufer: Über Grenzen. Vom Untergrund in die Favela, Hamburg 2017).

Wir denken, das heißt weitergedacht: So wie die Linke sich heute als Artikulateurin der »Ausbeutungserfahrungen aller Teile der Gesellschaft« sehen muss, nicht als Vertreterin eines »eigentlichen« Subjekts, sollte sie auch vor den »Erfahrungen aller Teile der Vergangenheit« nicht die Augen verschließen. Hierzu noch einmal Renate Hürtgen: »Die Theoretiker_innen der Arbeiterbewegung aller Strömungen und politischen Intentionen gehören auf den Prüfstand, keiner und keine sollte davon ausgeschlossen bleiben. Die Metapher von der »verratenen Revolution« ist ebenso zu hinterfragen wie die führende Rolle des Proletariats; der anarchistische Traum vom freien Menschen ist auf seine heutige Verwendbarkeit hin genauso kritisch zu überprüfen wie die Versuche einer rätekommunistischen Praxis.« (Mehr als ein Tabubruch: Linke Geschichte vor einem Neuanfang?, in: AutorInnenkollektiv Loukanikos; History is unwritten, S. 292)

Was also tun?

Das ist unsere Antwort auf die »innere« Frage nach der linken Geschichte: Erfahrungen können die Analyse der politischen Gegenwart nicht ersetzen, aber beitragen zum Aufstöbern eines richtigen politischen Wegs – allerdings nur, wenn sie rücksichtslos auf das eigene Befinden im »Guten« wie im »Schlechten« registriert werden. Höckes Rede vom 1000jährigen Reich darf uns nicht von der historischen Selbstkritik an Autoritarismus, Nationalismus, patriarchalen und rassistischen Strukturen in der Linken abhalten; es gibt kein Bild früherer »Stärke«, das uns in der Gegenwart zur Hilfe gerufen werden kann. (Eine Minderheitenfraktion im AK Loukanikos würde dem hinzufügen, dass es für eine entschiedene Linke also keine historische Heimat, und auch im 20. Jahrhundert nicht einmal eine Wahlheimat gibt.)

Ähnliches gilt für die »äußere« Frage: Das neue Berliner »Einheits- und Freiheitsdenkmal« als Spielplatz-Inszenierung des bürgerlichen Glücks im Ende der Geschichte kann nur sinnvoll kritisiert werden, wenn die Kritik einerseits gerichtet ist gegen genau diesen Zweck und gegen Höckes Version, die wohl jedes Bekenntnis einer deutschen Verantwortung für den Holocaust streichen würde. Andererseits dürfen auch seine Vorläufer, das »Holocaust-Denkmal« und dessen Charakter als konfrontationsbeendendes Stelenfeld der Entkonkretisierung der Verbrechen der nationalsozialistischen Gesellschaft, als Ort, »an den man gerne geht« (Gerhard Schröder) nicht aus der Kritik entlassen werden.

Angesichts einer so katastrophalen Situation wie sie die derzeitige Gegenwart kennzeichnet – inmitten ökonomischer Krisen, autoritärer Krisenlösungen von »oben« wie von »unten«, Krieg und Verschlechterung der Bedingungen für linke Kritik und Politik – sollte nach wie vor gelten: Die Gegenwart und ihre politische Analyse muss erschreckend ernst genommen und es muss entsprechend überlegt und gehandelt werden. Es heißt, auf die Entwicklungen zu reagieren, ohne dabei das eigene Ziel und das oben genannte utopische Verlangen aufzugeben, und ohne in Panik zu geraten: Schlecht war es um die Welt und die Befreiung fast immer bestellt, und der Preis einer autoritären Homogenisierung nach »Innen« um der Hoffnung da draußen willen ist sowohl in der Gegenwart als auch für die Geschichte dramatisch zu hoch. Nothing is forgotten and many things should be invented anew!

Das AutorInnenkollektiv Loukanikos beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit linker Geschichte und der Geschichtspolitik der Linken. Das Kollektiv besteht aus Henning Fischer, Uwe Fuhrmann, Jana König, Elisabeth Steffen und Till Sträter. Im Mai 2012 erschien der gemeinsam herausgegebene Sammelband »Zwischen Ignoranz und Inszenierung. Die Bedeutung von Mythos und Geschichte für die Gegenwart der Nation« im Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster. 2013 folgte die ak-Sonderbroschüre »History is unwritten«, 2015 erschien der Band »History is unwritten. Linke Geschichtspolitik und kritische Wissenschaft« im Verlag edition assemblage, Münster.

Bild: Ein (löchriger?) Holzeimer, fotografiert von antefixus21.