Brandbeschleuniger der Revolte II


1968, der Kampf gegen die Notstandsgesetze und die Frankfurter Linke. Teil 2

Im zweiten Teil seines Beitrags zum Kampf gegen die Notstandsgesetze rekonstruiert Rolf die Dynamik des Jahres 1968 und gibt den Verlauf der Anti-Notstandsproteste nach dem Sternmarsch wieder. Außerdem untersucht er, wie die Bewegung nach ihrem Ende innerhalb der Linken aufgearbeitet wurde und die »liberale Opposition« ihre anfängliche Solidarität aufkündigte.

Den ersten Teil lest ihr hier.

4. Das Jahr 1968 wird zum »Ereignis«

Was macht das »Ereignis« von 1968 in seiner Vielfalt aus? Was ist der Anteil der Anti-Notstands-Bewegung an 1968 als »Ereignis«? Beginnen wir mit dem 11. April 1968, dem Attentat auf Rudi Dutschke in West-Berlin und den folgenden BRD-weiten »Osterunruhen«. Diese manifestieren sich in Blockadeaktionen gegen den Springer-Verlag und Druckereien der Bild-Zeitung. Für den Kampf gegen die »NS-Gesetze«, die auf das entscheidende Datum, die Verabschiedung des Gesetzespakets im Bundestag, zusteuern, sind die »Osterunruhen« gleichermaßen Mobilisierungs- wie Belastungsmoment.

Das neue Militanzniveau dieser Auseinandersetzungen gefährdet die Bündniskonstellation zwischen dem SDS, der IG Metall, welcher zugleich den linken Flügel der DGB-Gewerkschaften repräsentiert, sowie dem linkssozialistischen und pazifistischem Flügel der Anti-NS-Gesetze-Bewegung und droht sie zu sprengen. Anlass dafür ist, dass der SDS, und vor allem dessen aktionsorientierte Teile, keine Distanzierung von den militanten Kampfformen vollziehen. Zugleich gehen weite Teile der Jugend- und Protestkulturbewegung auf die Straße und werden in Auseinandersetzungen mit dem staatlichen Gewaltapparat rasch – und manche auch nachhaltig – politisiert. Nachhilfe kommt derweil aus Frankreich in Form des »Pariser Mai«, der »Barrikadennächte« und des Generalstreiks der französischen Arbeiter*innen.

Angesichts der noch für den Mai 68 angesetzten Verabschiedung der Gesetze durch den Bundestag einigen sich der SDS und die pazifistisch-radikaldemokratischen Bündnispartner (Komitee für Demokratie und Abrüstung) sowie minoritäre Teile der gewerkschaftlichen Opposition auf eine Protestchoreographie, die mit dem »Sternmarsch auf Bonn« beginnt. Aber bereits am 11.5.1968, dem Tag des »Sternmarschs auf Bonn«, wird das »in sich gespaltene Notstandslager« in der BRD sichtbar: 60.000 Menschen als »Bewegung« in Bonn auf der Straße vs. 20.000 »DGB-Funktionäre« in der Dortmunder Westfalenhalle. Doch die Gemengelage des Protests ist aber noch komplexer. Denn mindestens drei Strömungen von »Akteur*innen« sind im gespaltenen Anti-Notstandsprotest auszumachen:

• Die SPD-nahe Strömung, darunter vor allem gewerkschaftliche Protestgruppen, die auf das konkrete Gesetzesvorhaben Einfluss nehmen wollen, sich in parlamentarischen Anhörung äußern und Massenaktionen explizit ablehnen und in ihrer Masse in Dortmund sichtbar werden. Durch den Aktivismus der Jugendbewegung fühlen sie sich »abgeschreckt«.

• Der linkssozialistisch-linkssozialdemokratisch-pazifistische Protestflügel inklusive der akademischen Kritik um die ›Frankfurter Schule‹ mit Habermas an der Spitze, der den Spagat zwischen (linker) SPD und antiautoritärer Jugendbewegung sucht. Dieses Protestsegment trägt den »Sternmarsch auf Bonn« und viele lokale Initiativen inhaltlich wie organisatorisch. Jenseits der Anti-Notstandsproteste zielen ihre Aktivitäten auf ein linkssozialistisch-radikaldemokratisches Wahlprojekt für die Bundestagswahlen 1969, das zugleich die SPD »nach links« ziehen soll.

• Die antiautoritäre systemoppositionelle Jugend- und Studierendenbewegung, für die der Kampf gegen die »NS-Bewegung« zunehmend nur ein Moment eines prinzipiell antikapitalistischen Widerstands ist und die außer von antifaschistischen ebenso von internationalistischen Bezügen (Vietnam, Iran, Black Panther) getragen ist. Diese Bewegung sucht im »antiautoritären Aktionszusammenhang« nach neuen Politik- und Lebensformen und stellt eingeschliffene gesellschaftliche Normen wie private Verhaltensmuster grundsätzlich in Frage.

5. Der Verlauf der Anti-Notstandsproteste nach dem Sternmarsch

Nach dem Sternmarsch am 11. Mai 1968, von seinen Initiator*innen als Höhe- wie Endpunkt der Bewegung gedacht, entwickelt sich ein vielfältiges Protestbild, das auch den linkssozialistischen Flügel der Bewegung nicht kalt lässt – gerade in Frankfurt: (Warn-)Streiks in Schulen und vereinzelten Betrieben anlässlich der 2. Lesung des Gesetzespakets; Bildung von Streikkomitees; eine Serie von Veranstaltungen, Podien, Debatten im hessischen Rundfunk. Ziel dessen ist die Ausrufung eines »Generalstreiks« anlässlich der entscheidenden 3. Lesung, wozu die Gewerkschaften entsprechend unter Druck gesetzt werden sollen. Für viele ehemalige Akteur*innen und publizistischen Verwerter der Revolte heute ist dieser Protestaktivismus nur noch ein Zustand der »Dauererregung«, so der ehemalige Frankfurter SDS- und KBW-Aktivist Gerd Koenen in seiner Rückschau auf das »rote Jahrzehnt«.

Für den Tag der Verabschiedung des Gesetzespakets wird eine ähnliche Diskussions- und Aktionschoreographie mit Streiks und Flugblattaktionen entwickelt. Bemerkenswert (auch bundesweit) ist die partielle Kooperation der lokalen/regionalen (Einzel-)Gewerkschaften gerade in Hessen – trotz bleibender gegenseitiger Skepsis – mit der antiautoritären Bewegung an der Uni und in den Schulen. Als ein Beispiel unter vielen sei hier die Römerbergrede von H.-J. Krahl genannt, der auf einer Gewerkschaftskundgebung vor Zehntausenden massive Kritik an den offiziellen DGB-Positionen vorbringt:

»Notstandsgesetze leiten keineswegs erst einen Zustand der Gewalt ein, sie sollen vielmehr einen Gewaltzustand rechtfertigen und forttreiben, der schon längst begonnen hat. … Worauf kommt es in dieser Situation für uns an? Unsere Aktionen, unsere Streiks und Demonstrationen haben nur einen Sinn: wir müssen eine neue Phase unserer Politik eröffnen ... Unser Kampf gegen den bevormundenden autoritären Staat von heute verhindert den Faschismus von morgen.«

Krahl äußert nicht nur Kritik an der »Konzertierten Aktion«, die, getragen von SPD und DGB, die Notstandsgesetzgebung vorbereitet hätte, sondern auch an den »kritischen« Sozialdemokrat*innen, die »im Netz der Parteibürokratie hängen geblieben« und erfolglos geblieben seien:

»Die heimliche Kabinettspolitik der Gewerkschaftsspitzen in den Vorräumen des Bundestags ist gescheitert, denn man kann nicht ernsthaft ohne die Massen für Demokratie kämpfen. … Auf die Bürokratie der Parteien und Gewerkschaften können wir uns nicht verlassen, wenn wir nicht selbst anfangen zu handeln. Erst die oft herausfordernden Demonstrationen der Studenten haben viele Themen, welche die Herrschenden lieber verschwiegen hätten, zur öffentlichen Diskussion gestellt.«

Durch Diskussion müsse die jetzt erreichte »Aktionseinheit auf eine höhere Stufe« gehoben werden. Die Arbeiter*innen werden aufgefordert, die Unibesetzung zu unterstützen und diesen Ort als »Aktionszentrum gegen die Notstandsgesetze zu erhalten«. Er schließt: »Nur eine Welle von [politischen] Streiks ermöglicht schließlich den Generalstreik.« Diese Rede wird auf einer vom DGB-Hessen getragenen Veranstaltung gehalten.

Trotz aller Mobilisierung wird Ende Mai 1968 das Gesetzespaket vom Bundestag gegen 100 Stimmen seitens FDP und linken Sozialdemokrat*innen verabschiedet – der Generalstreik bleibt eine schöne Idee. Die Aktionen finden im Sommer 1968 ihr Ende.

6. Die Aufarbeitung der Anti-Notstandsbewegung in der radikalen Linken – und das Ende der Solidarität der »liberalen Opposition«

An der in der 68er-Bewegung verbreiteten Stimmungslage – zwischen Euphorie und Resignation – ebenso wie an den angeblich »blind-aktionistischen« (Habermas) militanten Aktionsformen entzünden sich massive Konflikte zwischen den antiautoritären, überwiegend jugendlichen Aktivist*innen und der (professoralen) Opposition um Jürgen Habermas und anderen. Diese halten ein »Bündnis mit Brenner (IG Metall) und Augstein (SPIEGEL) « für möglich und notwendig. Von führenden SDS’ler*innen werden sie fortan als »Nur-Liberale« beschrieben. Der SDS fordert – noch während der Kämpfe gegen die »NS-Gesetze« – dass eine »deutliche Trennung von der parlamentarischen Notstandsopposition« mit ihrem »verbalradikalen Palaver« angesagt sei. Habermas, ähnlich auch Adorno, bescheinigt dagegen dem SDS den »klinischen Tatbestand der Wahnvorstellung« und einer Tendenz zum »Linksfaschismus«, was aus einer völlig voluntaristischen Einschätzung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse rühre. Damit ist ein Ende der Diskussion eingeläutet; der Konflikt wird sich Ende 1968/69 im »Aktiven Streik« mit der Besetzung des Soziologischen Seminars und des von Habermas und Adorno für notwendig erachteten Polizeieinsätzen gegen die beteiligten Studierenden fortsetzen.

Der verbalradikale schrille Ton der Auseinandersetzung zwischen den Antiautoritär*innen und den »Liberalen« wie den Linkssozialist*innen macht deutlich, dass der Vorrat an Gemeinsamkeit während der Anti-NS-Gesetzgebungsbewegung nach der Niederlage weitgehend ausgeschöpft ist. Über die misslungene Verhinderung der Gesetze hinaus ergibt sich kein weiteres gemeinsames Projekt. Ein Teil der Bewegung flüchtet zurück in die ausgestreckten Arme der SPD-Realpolitik; v.a. nachdem die SPD ab 1969 unter Willy Brand auf eine Regierung der demokratischen Reformen (inklusive Berufsverbot gegen »Radikale«) hinsteuert. Ein anderer Teil strebt ein Wahlprojekt jenseits der SPD an – das spätestens mit der Gründung der DKP und deren Unterstützung für die Militärintervention der Truppen des ›Warschauer Pakts‹ gegen den ›Prager Frühling‹ in der CSSR zum Scheitern verurteilt ist.

Im antiautoritären Mehrheitsflügel des SDS beginnt eine Kritik des vermeintlichen »Verrats« der DGB-Gewerkschaften, die zu keinem Zeitpunkt des Kampfes gegen die NS-Gesetze einen (General-)Streik ernsthaft ins Auge gefasst hätten. Es beginnt eine Suchbewegung nach neuen Aktions- und Organisationsformen und nach neuen Akteur*innen jenseits der Institutionen, nunmehr auf explizit antikapitalistischer Grundlage. Karl Dietrich Wolff bringt für den Frankfurter SDS die Fundamentalkritik an den vormaligen Bündnispartner*innen (und auch an den eigenen Unzulänglichkeiten) auf der SDS-Delegiertenkonferenz im Herbst 1968 ungeschminkt auf den Tisch: »Weithin legalistische Argumentation und historisch objektiv überholte Volksfronttaktik bestimmte immer noch die Vorbereitungen des 11. Mai, Sternmarsch auf Bonn.« Dabei sei, gerichtet an den »traditionalistischen« SDS-Flügel, oft nur »diffus-liberal« dem parlamentarischen »Interessenausgleich nachgetrauert« worden. Und man sei hinter das bei den »Osterunruhen« bereits erreichte »Konfrontationsniveau« zurückgefallen.

In den Wolff‘schen Redebeiträgen und anderen Statements ist wenig von Depression und Resignation zu spüren, die Autoren wie Kraushaar und tutti quanti heute der APO nach der Niederlage vom Mai/Juni 1968 nachsagen. Vielmehr dominiert eine trotzige Aufbruchsstimmung des »Jetzt-erst-recht«. Der Kampf hat gerade erst begonnen.

Von Gestern zu Heute?

Schließen möchte ich mit einem Zitat aus dem Horkheimer Text ›Autoritärer Staat‹, einer der 1968 am meisten rezipierten Texte in der antiautoritären Bewegung. Thema ist das Praxismoment »kritischer Theorie«. Diese konfrontiere »Geschichte mit der Möglichkeit, die stets konkret in ihr sichtbar wird.« Und ebenso sicher sei, dass »die Menschheit nicht durch die unzeitgemäßen Unternehmungen der Umstürzler, sondern durch die zeitgemäße Weisheit der Realisten verraten« wurde. Eine, wie ich finde, diskussionswürdige Antwort auf Cohn-Bendit, Kraushaar und all die Anderen von damals – und auf die, die ihnen heute, unbelehrbarerweise, folgen werden.

Ende von Teil II. Demnächst erscheint an dieser Stelle eine weitere Fortsetzung des Textes, in der die Entwicklung im Jahr 1969 rekonstruiert und der Bogen ins Hier und Jetzt geschlagen wird.

Einige der Zitate im Text sind nur unvollständig ausgewiesen, für Nachfragen oder allgemeine Kommentare zum Text könnt Ihr Rolf direkt anschreiben, er freut sich über Post: rolf_NS-Gesetze (ät) gmx.de

Der Autor Rolf (* 1948) ist in seiner linken Politisierungsgeschichte eng mit den Ereignissen der Revolte von 1968 verbunden. Er kam im gleichen Jahr an die Uni in Mainz, beteiligte sich eher als Beobachter an den Notstandsprotesten in der Stadt - seine erste Demo war eine Solidaritätsdemo mit dem »Pariser Mai« - und wechselte bald nach Heidelberg, wo er sich im Umfeld des SDS bzw. des späteren KBW organisierte. Mit dem frustrierenden Ende des BRD-Maoismus näherte er sich, nicht ganz untypisch für ehemalige »Marxisten-Leninisten«, der »Grünen« Partei, den (scheinbar?) erfolgreichen Konkursverwaltern des linken Radikalismus. Die »realpolitische« Linie gerade der hessischen »Grünen« beendete dieses Zwischenspiel ziemlich rasch. Rolf war in der Folge in sozialen Bewegungen, insbesondere in der Anti-AKW-Bewegung und im Startbahnwiderstand, aktiv. Seit den Antiglobalisierungsprotesten von Heiligendamm (2007/8) zählt sich Rolf zur Interventionistischen Linken (Frankfurt). Eines seiner politischen Hauptinteressen ist die kritische Aufarbeitung der Geschichte der Post-68er-Bewegung, die er nicht den (neo-)liberalen Forschermainstream um Kraushaar & Co. überlassen möchte. Gleichzeitig beschäftigt sich Rolf intensiv mit Fragen von Stadtentwicklung, Wohnen und Miete und ist in diesem Feld in Frankfurt und überregional aktiv.

Bild: Malen von Transparenten im Architektur-Gebäude der TU Berlin im Protest gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze (28. Mai 1968), von Holger Ellgaard.