Unser alltägliches Nein gib uns heute

Nach Hamburg wird viel über die Konsequenzen diskutiert – über kommende Proteste im urbanen Raum, über Repression, die Aufarbeitung der Gewalt und Rechtsbrüche gegen uns, über den Verbleib unserer Genoss*innen, die im Knast sitzen, aber auch über die Frage, wie weit Gipfelproteste tragen, wie sie eine Dynamik entfalten können, die weiter trägt und sich verstetigt. Dabei wird auch über mögliche negative Folgen gestritten, über die Frage von Bündnissen, der Vermittelbarkeit und Attraktivität solcher Momente der Unterbrechung. Immer wieder begegnet uns dabei der Begriff der Alltagskämpfe, so wie auch im Artikel »Es braucht mehr als ein Nein«. Doch was für ein Begriff von Alltag ist das? Ein kritischer Kommentar, der dafür wirbt, sich weiterhin ins Handgemenge zu stürzen, keine Angst vor einer Minderheitenposition zu haben, nach neuen Verbündeten Ausschau zu halten und sich auf die Seite derer zu schlagen, die die kommenden Aufstände tragen werden.

Welches Verständnis von Alltagskämpfen?

Die vermeintlich negativen Auswirkungen von Hamburg, die Selbstisolation der radikalen Linken, die Beschädigung der Alltagsverankerung, die Inhaltsleere, der Verlust von Bündnisfähigkeit, ja sogar die Stärkung der Rechten als Partei der Ordnung durch unsere Aktionen werden im Beitrag »Es braucht mehr als ein Nein« beklagt. Als Kontrastfolie werden sogenannte Alltagskämpfe herangezogen. Doch was für ein, ja fast heiliger Begriff von Alltag ist das? Das darin liegende postautonome Ideal der Beschreibung einer radikalen Linken, die gesellschaftlich nicht marginalisiert und bündnisfähig ist, die im Alltag verankert ist, die dem historisch in der BRD zutiefst verankerten Antikommunismus durch ihre Aktionsformen etwas entgegenzusetzen hätte, macht uns in seiner unhistorischen Setzung und letztlichen Abstraktheit zutiefst nachdenklich (lesenswert dazu auch der Blogartikel: »Zurück in die Zukunft«). Die Grundannahmen, die für die Autor*innen des genannten Artikels eine »Katerstimmung« begründen, halten wir aus verschiedenen Gründen für problematisch.

Nehmen wir zum Beispiel die Formulierung von der »Selbstisolation der radikalen Linken«. Zunächst einmal waren revolutionäre Bewegungen historisch gesehen von Spartacus über die Militanten der Bauernkriege, die Commune bis hin zu den Bolschewiki immer Minderheitenbewegungen – die zu einem bestimmten historischen Punkt, in dem einen oder anderen, aber nicht in jedem, sogar eher im selteneren Fall, eine »Revolution« in Gang setzten, gegebenenfalls anführen konnten. Und in der Geschichte der radikalen Linken, insbesondere in ihrem letzten »Ereignis« von 1968 gab es wohl Diskussionen, aber keinen ehernen Widerspruch zwischen nicht-mehrheitsfähigen Aktionsformen und der Hoffnung auf gesamtgesellschaftliche, emanzipative Resonanzen darauf.

Für einige von uns scheint der Alltag aus Kommunikation und Auseinandersetzung mit Eltern, Nachbarn und Medien zu bestehen oder dem (oft hoch mythologisierten) Einsatz in KITA-Kämpfen etc. Wenn das aber der »Alltag« ist, was ist dann die Arbeit in der politischen Gruppe, das Engagement auf der VV, die Vorbereitung von Demos, Aktionen etc., die doch immer auch andere einladen sollen, sich zu organisieren, Veränderung zu gestalten ...? Das »revolutionäre« Subjekt, das einer derartig konstruierten Dichotomie entspricht, ist eines, dem die eigene Subjektivität geradezu antagonistisch und unversöhnlich gegenübersteht: Hier die fast als bedeutungslos markierte Arbeit in der Politgruppe, dort die Intervention in den Alltag – der anderen?

Geisterbeschwörung

Ja, es sind immer (auch) die anderen, die wir »erreichen« wollen, von denen wir hoffen und wünschen, dass sie mit uns kämpfen. Aber wie merkwürdig entgleiten sie uns dann immer wieder, wenn wir sie auf den Straßen (zum Beispiel in Hamburg) treffen und sie dort »die Anderen« bleiben bzw. wir sie dazu machen, mit ihren »falschen« Ausdrucksformen und beschädigten Subjektivitäten, der Blick sich von ihnen ab- und immer wieder jenen zuwendet, die »empört« sind, kein Verständnis haben und die wir »abgeschreckt« haben sollen. Welcher kleinbürgerliche »Geist der Stunde« wird eigentlich in der Putzaktion in der Schanze beschworen, welche Bündnisfähigkeit herbeigesehnt, die man ernsthaft beschädigt sieht? Mit wem fühlen wir uns spontan oder künftig verbunden und mit wem nicht? Gut, dass wir da nicht mitgeputzt haben, wenn sogar »einige Gewerbetreibende in einer Erklärung die Fahne hochhielten und die Polizei als Ursache des Ausnahmezustandes benannten.« Sonst hätten wir es uns mit den Gewerbetreibenden aber böse verscherzt. Aber da ist sie wieder: die ominöse Angst des Verlustes der »Verankerung der IL im Alltag der Städte«. Solche Formulierungen grenzen für uns in ihrer Verallgemeinerung an Polit-Narzissmus. Vermutlich alle IL-Gruppen sind wohl in ihren Städten (vergesst übrigens nicht die 30% auf dem Land lebenden) aktiv. Aber nicht überall, vermutlich in den wenigsten Städten ist die Verankerung der IL durch Hamburg beschädigt, jedenfalls ist dies empirisch, gerade wenige Wochen nach Hamburg, gar nicht zu belegen. Im Gegenteil. Es gibt Städte, in denen die IL im »Alltag« an Legitimität, Glaubwürdigkeit und Bündnisfähigkeit nach Hamburg gewonnen zu haben scheint, Zuspruch und Zulauf erfährt und Leute sich fragen, wie sie nun, nach Hamburg, in ihren Städten weiter aktiv werden können. Ihr merkt schon: es käme darauf an, Alltag und Adressaten zu definieren – und zwar politisch und strategisch. Dann würde im Reden über den Alltag nicht nur der vermeintlich schreckhafte, nur an seiner Miete interessierte Mensch, sondern auch die Riot gutheißende Gewerkschafterin oder der bonzenhassende Krankenpfleger vorkommen. Dann würde auch der Alltag während der G20 Proteste, in dem sich ein gesellschaftliches Bündnis von tausenden von Menschen während der Protesttage zärtlich die Hand der Solidarität gereicht hat, in das Denken mit einbezogen werden. Das ist konkreter und materieller Alltag, über den sich für die IL lohnen würde nachzudenken und nicht der Bezug auf einen Post, der 12.000 Mal geteilt, 800.000 mal geliked wurde und auf Mehrheitsverhältnisse wie es Volksparteien tun schielt.

Keine »Katerstimmung« nach G20

Wir haben das »Nein« gesetzt. Und daran festgehalten. Und das war gut und richtig so. Mindestens zum zweiten mal hat die IL es (in unterschiedlicher Weise und im Rhythmus von zehn Jahren) geschafft, die auch symbolischen Repräsentationen der politischen Klasse und Sachwalter des Kapitals zu unterbrechen. In den Geschichtsbüchern werden Heiligendamm und Hamburg nicht als Inszenierung der ordnungsgebenden globalen Charakterfratzen des Kapitals erscheinen, sondern als deren Niederlage, als Unfähigkeit alle Stimmen zum Verstummen zu bringen, die dieser Ordnung, aus welchen Gründen auch immer, nichts abgewinnen können. Vielleicht wollten es einige von uns anders, aber dass sich uns viele, nicht zuletzt die Anteilslosen angeschlossen haben, ohne ihre Autonomie aufzugeben, dass sie sich der Konfrontation der staatlichen Gewalt gestellt haben, die eigentlich immer eher ihnen gilt als uns, das ist das Politische an Hamburg. §§113/14 richtet sich in erster Linie gegen sie, nicht gegen uns, seien wir doch etwas bescheidener. Das wäre auch mal eine Diskussion für eine linksradikale Organisierung, was wir eigentlich mit den möglicherweise kommenden Aufständen in den Banlieus von Hamburg, Frankfurt etc. zu tun hätten. In welche Richtung sich eigentlich unsere Bündnisarbeit begeben muss. Die wenigsten in der IL wollen es sich wohl in der »Pose einer radikalen Minderheit bequem machen«. Das zu sagen grenzt an Diffamierung. Der dialektische Witz an der Sache ist ja, dass wir als radikale Linke immer Minderheit sind, die Mehrheit sein will. Insofern ist doch die eigentliche Frage, ob interventionistische Politik sich zwangsläufig in Bündnisfähigkeit mit jenem zur gentrifizierten Gemütlichkeit neigenden mäßig dissidenten Drittel ausdrücken muss.

Man stelle sich vor, die IL hätte sich nicht in das Handgemenge um die politische Deutungshoheit des G20-Gipfels (und andere Handgemenge) begeben: Hätte es dann die größte antikapitalistische Demonstration seit Jahren gegeben? Wohl kaum! Dass dies in einer Zeit gelungen ist, in der anders als noch vor zwei Jahren Kapitalismuskritik fast nur noch von rechts vernehmbar ist, ist unser Verdienst.

Michael und Tomas sind aktiv in der IL Hiltrup

Bild: Hamburg im Juli 2017, von Tomas