»In Argentinien ist vieles möglich«


Kurz vor dem G20-Gipfel in Buenos Aires

Kurz vor dem G20-Gipfel in Argentinien befindet sich das Land in einer tiefen politischen und sozialen Krise. Die Regierung Macri versucht mit Repression und einem Klima der Angst die Proteste gegen das Event zu demobilisieren. Parallelen zum Hamburger Gipfel 2017 drängen sich auf. Einer unserer Berliner Genoss*innen ist derzeit vor Ort und verschafft uns einen Einblick in die aktuelle Situation.

Ökonomische Krise

Die argentinische Wirtschaft befindet sich in der Rezession. Die Strom- und Gaspreise haben sich für die Bevölkerung im Vergleich zum vergangenen Jahr in etwa verdoppelt. Die Inflation hat im Jahr 2018 die 40%-Marke erreicht und zehrt die Kaufkraft der Bevölkerung auf. Das Risiko der Zahlungsunfähigkeit des Staates hat die Zinsen für argentinische Anleihen in die Höhe schießen lassen. Um der Zahlungsunfähigkeit zu entgehen, hat die Regierung Mauricio Macri beim Internationalen Währungsfonds (IWF) einen Kredit in Höhe von insgesamt 56 Milliarden US-Dollar aufgenommen, der in mehreren Tranchen bis ins Jahr 2021 ausgezahlt wird. Erste Zahlungen sind bereits geflossen. Im Gegenzug, wie könnte es anders sein, hat sich die Regierung zu einem Sparkurs verpflichtet, der bereits 2019 zu einem ausgeglichenen Primärhaushalt (Einnahmen minus Ausgaben exklusive Bedienung der Schulden) führen soll.

Vorwahlkampf

Die Staatsschuldenkrise Argentiniens soll also mit Milliardenkrediten und Austerität »gelöst« werden. Insofern ist das, was in Argentinien gerade passiert, in vielen Punkten vergleichbar mit der Krise der letzten Jahre in Griechenland. Das trifft auch auf die politische Krise des Systems zu. Bereits im Dezember vergangen Jahres wurde eine Renten- und Sozialkürzungsreform trotz heftigen Widerstands auf der Straße beschlossen. Es kam zu Massenentlassungen im öffentlichen Dienst. Und auch die Rückkehr des IWF nach Argentinien weckt Erinnerungen an die Zeiten des wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruchs der Jahre 2001/2002. Für 2019 ist bereits die nächste »Rentenform« in Planung. Die Präsidentschaftswahlen sollen im Oktober 2019 stattfinden und die Ereignisse rund um den G20-Gipfel, von offizieller Seite wie auch diejenigen auf den Straßen, entwickeln sich derzeit zu einer Art Vorwahlkampf.

Mobilisierung gegen den Gipfel

Die kritische Diskussion über die G20 und den IWF ist in Argentinien stark mit den Konzepten der abhängigen Entwicklung, des Neokolonialismus und Imperiums (den USA) verbunden. Auch die Diskussionen der Basisgewerkschaften, die sich über ihre Sicht auf die »Zukunft der Arbeit« (eines der Hauptthemen des kommenden Gipfels) im Vorfeld von G20 verständigen, kommen nicht ohne den ständigen Verweis auf deren neokolonialen Charakter aus. In der Gemengelage von Vorwahlkampf und ökonomischer Krise verbinden sich die antiimperalistisch geframten Proteste gegen den G20-Gipfel und die Rückkehr des IWF mit denjenigen gegen die Sparpolitik Macris.

Karte der von der »Sperrzone« betroffenen Stadtgebiete Karte der von der »Sperrzone« betroffenen Stadtgebiete, veröffentlicht in der Clarín.

Demobilisierung und Gewalt

Vor Kurzem hat die Sicherheitsministerin Particia Bullrich, den Einwohner*innen der Stadt geraten, das lange Wochenende zu nutzen, um Urlaub zu machen und die Stadt zu verlassen. Das erinnert an die »Empfehlungen« von Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz und Innensenator Andy Grote, denen es vergangenes Jahr nicht zu dumm war, ähnliche Vorschläge zu machen. Allerdings fehlt den Deutschen wie so oft die Konsequenz. In Buenos Aires wurde der 30.11., der Tag des Gipfelbeginns und zugleich der geplanten Großdemo, kurzer Hand zum Feiertag erklärt. Auch das Bedrohungsszenario, das seit Wochen aufgebaut wird, hat Ähnlichkeit mit demjenigen aus Hamburg. Angeblich habe es zwei versuchte Sprengstoffanschläge gegeben, die von anarchistischen Gruppen verübt werden sollten. Eine Razzia und Festnahmen folgten. Auch gibt es eine Sicherheits- und Demoverbotszone in der Innenstadt. 20.000 Sicherheitskräfte sollen im Einsatz sein, eine Flugverbotszone wird eingerichtet und US-Militär wird auf der anderen Seite des Rio de la Plata in Uruguay stationiert, für alle Fälle. Vor Kurzem haben sogenannte Sicherheitskräfte in der Provinz Buenos Aires und in Cordoba mutmaßlich zwei Aktivist*innen der Basisgewerkschaft CTEP erschossen, was zu Protesten unter anderem auch in der Hauptstadt geführt und zur weiteren Verunsicherung und Einschüchterung der Menschen beigetragen hat. Die Politik der Angst und Gewalt scheint zunächst aufzugehen. Die mobilisierenden Organisationen haben ihre erwarteten Teilnehmer*innenzahlen von mehreren hunderttausend auf mehrere zehntausend runtergeschraubt – inoffiziell. Aber wer weiß, was passieren wird. In Argentinien ist vieles möglich. Die Pressekonferenz der mobilisierenden Organisationen hat gerade eben offiziell verkündet, dass es eine Einigung mit der Polizei gibt. Die Demo am 30.11. kann laufen und die gemeinsam verabredete Route führt – mitten durch die Verbotszone.

Autoreninfo: Daniel ist organisiert in der iL Berlin, dort in der Krisen-AG aktiv und sieht in der Mobilisierung zu Gipfelprotesten ein nachhaltiges Potential internationaler Vernetzung und Bewegungsaufbaus.

Bild: Soziologische Fakultät der Universidad de Buenos Aires, in der der Gegengipfel stattfand. Aufnahme des Autors.