Was kommt nach Hamburg? Die ›Nebenwidersprüche‹ und die Politik der G20

Der G20-Gipfel in Hamburg ist vorbei, was bleibt? Nichts Gutes, jedenfalls nicht mit Blick auf die politischen Ergebnisse des Gipfels: Das Festhalten am Wachstumsparadigma als kleinstem gemeinsamen Nenner und eine neue Welle von Privatisierungspolitiken in afrikanischen Staaten lassen eine weitere Zunahme globaler Ungleichheiten erwarten. Betroffen sind einmal mehr vor allem Frauen* – weshalb eine feministische Kritik der Politik der G20 nach Hamburg aktueller ist denn je!

Was kommt nach Hamburg? Die ›Nebenwidersprüche‹ und die Politik der G20

Die Inhalte des G-20-Gipfels sind durch den medialen und politischen Rechtsruck, der nach den Ereignissen von Hamburg eingesetzt hat, ins Hintertreffen gerückt. Während sich alle darin einig sind, dass die Ergebnisse des Gipfels dürftig sind, werden deren Konsequenzen kaum thematisiert. Dabei lohnt es sich, genauer hinzuschauen, wenn sich Vertreter*innen der 20 mächtigsten und aufstrebenden Industriestaaten treffen, um handels- und finanzpolitische Weichenstellungen vorzunehmen, die verheerende Auswirkungen auf globale (Un-)Gleichheit, Migration und Geschlechterverhältnisse haben.

Wachstum als Minimalkonsens

Das oberste Ziel der G20-Politik ist es, ein »starkes, nachhaltiges, ausgewogenes und inklusives Wachstum« voranzubringen. Dies ist sozusagen der G20 Minimalkonsens, denn trotz der in Hamburg inszenierter Einigkeit ist die nationale Konkurrenz unter den G20-Staaten so groß, dass viele Formulierungen im Abschlussdokument der 20 Staats- und Regierungschef sehr vage sind und konkrete Maßnahmenpläne ausbleiben. Der Minimalkonsens ist die Erzählung, dass Globalisierung zu mehr Wirtschaftswachstum und einem höheren Lebensstandard geführt hat. Die einzige Herausforderung besteht demnach darin, dass diese Vorteile der Globalisierung nicht breit genug geteilt wurden, weshalb auf inklusives Wachstum gesetzt wird. Damit halten die G20 trotz der Erfahrungen der letzten Finanz- und Staatsschuldenkrise am Wachstumsparadigma des Kapitalismus fest: Gut ist, was Wachstum bringt. Und da der Kapitalismus bekanntlich krisenhaft ist, muss er sich für sein Fortbestehen weiter ausdehnen. Dabei setzt die Politik der G20 die bereits mehrfach erprobte neoliberale Strukturpolitik fort. So soll sich die Akkumulationskrise in den kapitalistischen Zentren etwa durch neue Absatzmärkte im Globalen Süden entschärfen.

Afrikanische Staaten im Fokus

Dieses Mal steht Afrika im Zentrum der G20 Politik, was angesichts des globalen Machtgefälles neokolonialer Ausprägung kein Zufall ist. Für den afrikanischen Kontinent wurde in Hamburg eine weitere Privatisierungswelle losgetreten: Kredite und so genannte Investitionsförderungen werden an Investitionserleichterungen für private Investoren, den Abbau von Handelsschranken und die Privatisierung von sozialer Daseinsvorsorge geknüpft. Arbeitsplätze sollen vor Ort durch so genannte private public partnerships geschaffen werden. Damit sichern sich die G20-Staaten nicht nur künftige Absatzmärkte, sondern erhoffen sich gleichzeitig weniger Migration in den globalen Norden. Da die G20 selbst Zweifel daran haben, dass dieser Plan aufgeht, wird der Grenzschutz innerhalb des Kontinents aufgerüstet und die nordafrikanischen Staaten zu so genannten »Pufferzonen« der Migration ausgebaut.

Nichts Neues im Globalen Süden

Die Folgen dieser neoliberalen Politik sind jetzt schon vorhersehbar, denn die Maßnahmen sind vergleichbar mit den Strukturanpassungs- bzw. Austeritätsmaßnahmen der 1980er Jahre, die im Globalen Süden vom Internationalen Währungsfond und der Weltbank umgesetzt wurden. Als Gegenleistung zum Zugang zu Krediten mussten die Staaten dabei soziale Investitionen kürzen und öffentliche Einrichtungen privatisieren. Die Folgen dieses Abbaus des Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssektors wurden durch die unbezahlte Arbeit von Frauen und einen explodierenden NGO-Sektor aufgefangen. Silvia Federici spricht in diesem Zusammenhang von Frauen als den »Stoßdämpfern der Globalisierung«. Was diese Politik für den Globalen Süden bedeutete, wurde in der feministischen Ökonomiekritik eindrücklich dargelegt: Viele Menschen verloren ihre Lebensgrundlage, der Gesundheitszustand von Bevölkerungen verschlechterte sich und soziale, ökonomische sowie Ungleichheit zwischen den Geschlechtern nahmen drastisch zu.

Frauen* als Hauptbetroffene

Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen und der jahrzehntelangen feministischen Kritik an der neoliberalen global governance ist es erstaunlich, dass die meiste G20-Kritik geschlechterblind vorgetragen wird. Dabei ist bereits jetzt klar, dass das anvisierte wirtschaftliches Wachstum zu Lasten von Frauen* bzw. der unbezahlten oder prekären Reproduktionsarbeit von Frauen* geht. Daran ändert auch die G20-Offensive zum » ökonomischen Empowerment« von Frauen* wenig. Stattdessen ist sie ein gutes Beispiel für die Vereinnahmung von feministischen Positionen und Errungenschaften für andere Ziele – in diesem Fall die Entdeckung der Humanressource Frau*. In diesem Kontext muss auch der »Women20« genannte Austausch im Vorfeld des Gipfels gesehen werden, bei dem u.a. zivilgesellschaftliche Akteure (wie der deutsche Frauenrat) zur »gefährlichen Liaison zwischen Neoliberalismus und Feminismus« (Nancy Fraser) beigetragen haben und Frauenförderung als Mittel zum Zweck von Wirtschaftswachstum instrumentalisiert wird. Während die G20 mit einem Fond Unternehmerinnen fördern wollen, bleibt das Haupthindernis gleicher Erwerbsbeteiligung, die Verteilung der sozialen Reproduktion, unangetastet: Frauen* tragen weltweit die Hauptlast der Hausarbeit und Sorgeverantwortung. Während auf der einen Seite Unternehmerinnen* durch Schulungen und Zugang zu Krediten gefördert werden, untergräbt die neoliberale Austeritätspolitik der G20 soziale Sicherungssysteme und sorgt dafür, dass Frauen* nicht weniger, sondern mehr Sorgeverantwortung tragen. Dies ist kein Kollateralschaden der Geschichte, denn die Vereinnahmung oder auch Landnahme unbezahlter Arbeit bildet eine wichtige Grundlage der Kapitalakkumulation. Während Mikrokredite an Unternehmerinnen* Frauen* zu zuverlässigen Kreditnehmerinnen* stilisieren, wird die Politik der G20 die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern sowie zwischen Frauen* im Globalen Süden und Norden drastisch erhöhen.

Für eine feministische Kritik der G20!

Dass die vermeintlichen Nebenwidersprüche, wie feministische, postkoloniale oder antirassistische Themen, real eine zentrale Rolle für das Funktionieren, Fortbestehen und den Erhalt des Kapitalismus spielen, ist keineswegs neu: Seit Rosa Luxemburgs eindrücklicher Analyse der fortgesetzten Kapitalakkumulation (eine Weiterentwicklung des Konzepts der ursprünglichen Akkumulation bei Karl Marx) wurde dies in feministischen Wissenschaften ausführlich dargelegt und ausbuchstabiert. Angesichts der mitunter sehr einseitigen G20-Kritik gilt es jedoch daran zu erinnern, dass Kapitalismuskritik auch globale Ungleichheit und Geschlechterdimensionen mit in den Blick nehmen muss und feministische Interventionen und Kritik Verteilungsfragen und Ungleichheit nicht außer Acht lassen darf. Die politischen, ökonomischen und sozialen Konsequenzen der G20-Politik sind jedenfalls weder gering noch eindimensional, sondern stehen für eine Fortführung globaler Ausbeutung. Neu daran ist nur deren Verschleierung durch emanzipatorische Rhetorik wie z.B. der vermeintlichen Bekämpfung von Fluchtursachen oder eben das Empowerment von Frauen. Eine Re-Politisierung von Empowerment und ein Aufgreifen der darin enthaltenen Machtfrage würde der G20-Kritik gut tun!

Friederike Beier beschäftigt sich wissenschaftlich und politisch mit den so genannten Nebenwidersprüchen, vorrangig mit feministischer Ökonomiekritik und Staatstheorie im Kontext von global governance. Sie ist Sozialwissenschaftlerin und promoviert, lehrt und arbeitet am Arbeitsbereich für Gender und Diversity am Otto-Suhr-Institut an der FU Berlin.

Bild:“Capitalism also Depends on Domestic Labour”, See Red Women’s Workshop, ca. 1983

Zum Weiterlesen:

Silvia Federici (2012): Revolution at Point Zero: Housework, Reproduction, and Feminist Struggle

Rosa Luxemburg (1913): Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomische Erklärung des Imperialismus

David Harvey (2004): The ‘New’ Imperialism: Accumulation by Dispossession

Nancy Fraser (2013): Neoliberalismus und Feminismus. Eine gefährliche Liason

DAWN: Development Alternatives for Women of a New Era: www.dawnnet.org